Ich bin nicht immer ein Fan der um Subtilität bemühten Erzählweise vieler französischer Regisseure, die auch schnell mal langweilig und allzu selbstverliebt wirken kann, aber bei Denis Dercourts DAS MÄDCHEN, DAS DIE SEITEN UMBLÄTTERT (LA TOURNEUSE DE PAGES) ist das genau die richtige Herangehensweise für sein Thema.
Dercourts sonstige Filme waren mir bisher noch nicht untergekommen, aber DAS MÄDCHEN, DAS DIE SEITEN UMBLÄTTERT ist auf jeden Fall sehr sehenswert, wo in Besprechungen gerne der gute alte Claude Chabrol herbeizitiert wird.
Das liegt sicher daran, dass Dercourt mit Elementen des Thrillers arbeitet, allerdings fernab von der Plumpheit amerikanischer Vertreter des Genres. Letztendlich ist sein Film die Sorte "Morality play", die mehr Fragen anreißt, als sie letztendlich beantwortet, was aber auch das Interessante daran ist.
Im Mittelpunkt steht das Mädchen Melanie, die als Zehnjährige mit einem traumatischen Erlebnis konfrontiert wird, denn beim Vorspielen für ein Musik-Konservatorium wird das Klaviertalent durch die Vorsitzende der Expertenkommission, eine bekannte Pianistin, dermaßen irritiert, als diese unhöflicherweise ein Autogramm gibt, dass sie danach keinen Ton mehr trifft und die Musikkarriere damit beendet ist.
Einige Jährchen später arbeitet sie, zur jungen attraktiven Frau gereift, als Praktikantin beim Ehemann genau dieser Pianistin, die damals ihren Lebenstraum zerstörte - wie sie meint. Mit diabolischer Gelassenheit schleicht sie sich in die Familie als Kindermädchen ein und wird schließlich sogar Vertraute und Notenumblätterin der mittlerweile psychisch angeschlagenen Künstlerin.
Diesen eiskalten Racheengel spielt Newcomerin Déborah François, die bereits in L' ENFANT überzeugen konnte, und einem hier als manipulative Nymphe mit Sexappeal echtes Unwohlsein bereitet.
Angesichts des gemächlichen Aufbaus des Films wirkt das Finale fast etwas überhastet und wird Leute enttäuschen, die noch mal einen echten Höhepunkt erwartet haben. Dafür wirkt der Film noch lange im Kopf nach, denn die sehr geradlinige, leicht unterkühlte Rachestory wirft einige Fragen auf, wie zum Beispiel, ob das in der Vergangenheit erlittene Unrecht tatsächlich rechtfertigt, deswegen eine komplette Familie zu zerstören, nur weil Melanie mit dem damaligen Druck nicht fertig wurde? Und wie sieht es da mit der Verantwortung der eigenen Eltern und deren Schuld am Versagen des Mädchens aus? Letztendlich wirkt die zuerst etwas arrogante Pianistin sympathischer als das selbstherrliche, undurchschaubare Wesen Melanie, deren Moralverständnis man nicht unbedingt teilen möchte, was Dercourt durch die skizzenhafte, interpretationswürdige Zeichnung seiner Charaktere bewusst provoziert, deren Bewertung von Zuschauer zu Zuschauer unterschiedlich ausfallen dürfte.
Ein feiner, sehr ruhiger und kluger Film, bei dem es auch viel um die sinnstiftende Kraft der Musik geht, auch wenn die hier sogar zwei Leben zerstört.