AN AMERICAN CRIME

"True Crime" ist auch so ein Genre, das im schlimmsten Fall zu einer öden Nacherzählung bekannter Fakten werden kann, meistens sowieso in entschärfter Form, ohne dass dabei ein gewisser Mehrwert erkennbar wäre.

In der Regel typische Ware für die Regale der Videotheken, wo man das Zeug auch stehen lassen sollte. Ein Kriminalfall der besonders spektakulären Art passierte bereits Mitte der 60er in den USA und hat komischerweise erst jetzt den Weg auf die Leinwand gefunden, vielleicht weil das Thema in Zeiten von SAW und HOSTEL auch für den Mainstream verdaulicher geworden ist, zumal auf der Leinwand in letzter Zeut generell gerne munter gefoltert wird.

Ende 1965 wurde die damals 16-jährige Sylvia Likens von ihrer Ziehmutter Gertrude Baniszewski, zwei ihrer Kinder und zwei Nachbarsjungen über Wochen im Keller gefoltert und schließlich ermordet.

In deren Obhut hatte der Vater sie und ihre ein Jahr jüngere Schwester Jenny, die an Kinderlähmung litt, gegen Bezahlung gegeben, nachdem die leibliche Mutter wegen Ladendiebstahls verhaftet worden war.

Wie so viele Geschichten dieser Art für Außenstehende im Nachhinein kaum nachvollziehbar. Ein seltsamer Fall von Gruppendynamik, der zeigt, wozu Menschen in Extremsituationen fähig sind, in denen scheinbar die Errungenschaften unserer Zivilisation keine Rolle mehr spielen - "der Mensch ist dem Menschen ein Wolf".

Besagte Gertrude Baniszewski war allerdings eine physisch wie psychisch angeschlagene Frau ("I know what it's like to be sick, Sylvia. I've been sick for so long, too. I can't... discipline my kids, the way that I should.

I'm punishing you I know, but... sometimes, when I take medicine... it's like, if I don't know what I'm doing."), was sicherlich keine Entschuldigung für diese Tat ist, aber zumindest beweist, dass sie definitiv nicht ganz normal war.

Viel erschreckender aber ist, wie sie ihre Kinder und andere aus der Nachbarschaft soweit manipulieren konnte, dass diese zu Mittätern wurden. Die Liste der Folterungen, die Sylvia Likens über sich ergehen lassen musste, möchte man gar nicht weiter kommentieren, die offenbar für ihre Peiniger jegliche Menschenwürde verloren hatte, und die kein Film, der tatsächlich aufgeführt werden möchte, explizit visualisieren würde.

Gertrude Baniszewski wurde schließlich zu einer lebenslangen Haft verurteilt, kam aber wegen guter Führung bereits nach 18 Jahren wieder frei. Tommy O'Haver, Regisseur von unterbelichteter Unterhaltungsware wie ELLA - VERFLIXT UND VERZAUBERT und RAN AN DIE BRAUT, hat sich dieses heißen Eisens in AN AMERICAN CRIME überraschend kompetent angenommen und mit Ellen Page und Catherine Keener in der Hauptrolle den verstörenden Charakter dieser Geschichte in höchst anschauliche drastische Bilder verpackt, ohne dabei wirklich explizit zu werden, weshalb die FSK den Film noch mit "ab 16" durchgewunken hat.

O'Haver hält sich an die Fakten und benutzt den Gerichtsprozess als Rahmen, um Sylvia Likens Schicksal, von Ellen Page fast schon etwas zu unscheinbar verkörpert, aufzurollen. AN AMERICAN CRIME ist dabei nicht der von vielen herbeigeredete verstörendste Film aller Zeiten geworden, aber man kann ihm eine gewisse Schockwirkung nicht absprechen, die aber vor allem durch die Entwicklung der Charaktere transportiert wird und die Fassungslosigkeit darüber, dass hier gesellschaftliche Grundregeln hinsichtlich des menschlichen Miteinanders komplett außer Kraft gesetzt wurden, was einem auf jeden Fall den berühmten Kloß im Hals bescheren dürfte.

Ein faszinierender, aber auf keinen Fall unterhaltsamer Film, der einen mit der dunklen Seite menschlicher Triebkräfte konfrontiert. Bereits seit Ende Mai in einer schicken Steelbox-Edition erhältlich.