Bei ALICE IM WUNDERLAND fragte sich der gewiefte Filmkritiker sofort: Disney und Burton, kann das gut gehen? Übersah dabei aber, dass Tim Burton ja genau genommen mit CHARLIE AND THE CHOCOLATE FACTORY bereits seinen Disney-Film gedreht hatte, nur eben nicht für Disney.
Eine bessere Spielwiese für Burton als Lewis Carrolls Buchklassiker lässt sich indes kaum denken. Wobei der hier keine werkgetreue Adaption im Sinn hatte, sondern ein Mischmasch aus „Alice im Wunderland“ und dem Nachfolger „Alice hinter den Spiegeln“ beziehungsweise seine Interpretation des Ganzen.
Der Trailer sah zugegebenermaßen schrecklich aus, schon wieder so ein CGI-Monstrum und auch noch in 3-D gedreht, weshalb ALICE IM WUNDERLAND bei vielen Leuten auch schnell als herzlosester und gewöhnlichster Film Burtons seit seinem miesen PLANET DER AFFEN-Remake galt.
Dabei entpuppt sich ALICE IM WUNDERLAND aber als angenehme Überraschung, denn die im Trailer noch abstoßend wirkende Künstlichkeit des Ganzen entwickelt im Gesamtfilm einen erstaunlichen Reiz.
Denn trotz der extremen Überzeichnung der meisten Charaktere bleibt dennoch die Person dahinter gut erkennbar, was besonders für Johnny Depp als Mad Hatter und Helena Bonham Carter als Red Queen („Off with their heads!“) gilt, die der sympathischen Mia Wasikowska als Alice mehr oder weniger die Show stehlen.
Für Carroll-Puristen dürfte ALICE IM WUNDERLAND aber ein echter Aufreger sein, denn Burton nutzt bekannte Motive und Figuren wie den Jabberwocky, die Zwillinge Tweedledee und Tweedledum, das weiße Kaninchen, die Grinsekatze, den verrückten Hutmacher, die blaue, Wasserpfeife rauchende Raupe Absolem usw., um daraus seine eigene Version der Geschichte zu basteln, die mehr seine individuelle Handschrift trägt als viele seiner anderen Filme der letzten Jahre.
ALICE IM WUNDERLAND besitzt dabei genau den richtigen magischen Fantasiereichtum, um die halluzinogene Wirkung von Carrolls bizarren Welten auf die Leinwand zu bringen. Wobei es sich ja bekanntlich nicht um den ersten Versuch dieser Art handelt, und so entstand 1976 mit ALICE IN WONDERLAND: AN X-RATED MUSICAL FANTASY sogar eine erstaunlich gelungene Erotik-Version nur für Erwachsene.
Auch Burtons Alice ist inzwischen schon volljährig und kehrt noch mal in das Fantasiereich zurück, das sie bereits als Kind kennen gelernt hatte, um ihre eigentliche Bestimmung zu erfahren, was ebenfalls für ihr Leben in der tatsächlichen Realität bedeutsam ist.
Ein knallbunter, visionärer Trip, den Burton da mit viel Computer-Unterstützung erschaffen hat, der aber dennoch nicht so unterkühlt wirkt, wie viele andere Filme dieser Art, da selbst das künstlichste CGI-Wesen noch etwas erstaunlich liebenswertes besitzt.
Das Motto scheint dabei zu sein: „You’re entirely bonkers. But I’ll tell you a secret. All the best people are.“ Womit Alice allerdings den Geisteszustand des verrückten Hutmachers meint, den Depp wirklich famos spielt, dem man ja oft vorwirft, zu sehr er selbst in seinen Rollen zu sein, was hier eher von Vorteil ist („There is a place.
Like no place on Earth. A land full of wonder, mystery, and danger! Some say to survive it: You need to be as mad as a hatter. Which luckily I am.“). Hinzu kommt Burtons Sinn für tiefschwarzen Humor, der nicht immer wirklich kindgerecht wirkt und ALICE IM WUNDERLAND für einen Disney-Film eine erstaunlich düstere Dimension verleiht.
Visuell ist ALICE IM WUNDERLAND in jedem Fall einer der besten CGI-Filme der letzten Jahre, in Burtons Gesamtwerk besetzt er wohl eher das Mittelfeld. Und man darf sich auch darüber streiten, ob Disney 1951 nicht bereits die ultimative Umsetzung von Carrolls Geschichte geschaffen hatte.
Auf DVD ist der Film nicht 3D, was nicht wirklich von Nachteil ist, hinzu kommen ein paar der gewohnten Features über die Dreharbeiten.
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #91 August/September 2010 und Thomas Kerpen
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #95 April/Mai 2011 und Thomas Kerpen