WISENT

Foto© by C. Gertler

Hardcore-Urzeitviecher

WISENT aus Leipzig sind eine Band, die bei mir spontan für Begeisterung sorgt: Ist das noch Hardcore oder schon „post“ – egal! Es ist Musik von großer Komplexität, ohne selbstverliebtes Gefrickel, mit einem exzellenten Sänger. Wobei Leipzig die Sache nur so halb trifft: Sänger Stephen Lyons ist Ire, am Bass ist Morris Duff, an der Gitarre Mathias Bauer, an den Drums Oliver Ruß. 2020 kam die EP „Seething“, seitdem wurde an den beiden Seiten der LP „The Acceptance. The Sorrow.“ gearbeitet, denn nur auf Vinyl funktioniert das Konzept so richtig, mit „The Acceptance“ und „The Sorrow“ eigentlich zwei Alben in einem zu machen, zwei Stimmungen gegenüber zu stellen: auf der A-Seite die wütenden Lieder, auf der B-Seite die ... auch nicht gerade soften. Meine Fragen dazu haben Stephen (Vocals) und Olli (Drums) beantwortet.

Der Wisent hat bisweilen ein Imageproblem, im Sauerland wollen sie die wieder loswerden, weil sie angeblich den Wald kaputtmachen. Warum ist das Tier für euch positiv besetzt?

Olli: Da die Band zwar in Leipzig beheimatet ist, die Mitglieder aber aus Irland und Deutschland kommen, und auch weil wir innerhalb der Band ausschließlich Englisch sprechen, haben wir einen Bandnamen gesucht, der in beiden Sprachen funktioniert. Besonders im amerikanischen Englisch ist zwar der Begriff „Bison“ etablierter, trotzdem existiert der Begriff „Wisent“ auch in der englischen Sprache, was wir sehr passend fanden.
Stephen: Neben der beeindruckenden Anmut und Schönheit des Tiers begeistert uns vor allem, dass der Wisent, nach seiner quasi kompletten Ausrottung im 20. Jahrhundert, heute wieder in freier Wildbahn in Europa lebt. Das spiegelt einen Teil unserer eigenen, persönlichen Werte und Prinzipien und ist ein tolles Beispiel für Artenschutz und ein nachhaltigeres Denken und Handeln in Bezug auf unsere Umwelt. Wenn wir dem durch unseren Bandnamen etwas mehr Aufmerksamkeit verleihen können, ist das für uns ein toller Bonus.

Ihr kommt aus Leipzig, zumindest als Band. Eure persönliche Herkunft ist bunter. Erzählt mal, wie sich die Band zusammengewürfelt hat. Also wer wann wo wie warum?
Olli: Unser Gitarrist Mathe und Moe, unser Bassist, und ich kennen uns vom Studium in Ilmenau und haben schon vor WISENT gemeinsam in Bands gespielt. 2018 haben wir uns entschlossen, eine etwas andere musikalische Richtung einzuschlagen und eine neue Band zu gründen. Stephen haben wir dann in einem Irish Pub kennen gelernt, aber das kann er besser erzählen.
Stephen: Ich bin nach Deutschland gekommen und hatte noch keinen Job und auch noch keine Wohnung, sondern habe in einem Airbnb geschlafen. Ich habe den Post der Band bei Facebook gesehen und nach einem Abend im Pub bin ich in die Band eingestiegen. Das war also so ziemlich das Erste, was ich in Deutschland erlebt habe. Die erste Probe war auch noch ausgerechnet am St. Patrick’s Day.

Und was war, was ist eure gemeinsame musikalische Idee?
Olli: Ich glaube, ein grundlegendes, gemeinsames Verständnis von unserer Musik ist, dass es für uns keine Genregrenzen und auch keine Komfortzone gibt, die wir uns selbst auferlegen würden. Wir sind neugierig und probieren alles aus, worauf wir Lust haben. Unsere musikalischen Einflüsse sind sehr verschieden, was uns unglaublich viele Freiheiten eröffnet, solange jeder von uns die Bereitschaft mitbringt, sich auf neue Ideen und Richtungen einzulassen und sich von ihnen begeistern zu lassen. Wir mussten auch erst lernen, die Musik besser an Stephens Gesangs- und Schreibstil auszurichten. Dafür war unsere EP „Seething“ eine wertvolle Erfahrung, da hierfür größtenteils schon fertige musikalische Ideen mit Vocals versehen wurden. Im Schreibprozess für das Album konnten wir die Erfahrung nutzen und haben die Musik direkt zusammen mit den textlichen Ideen und dem Gesang entwickelt.
Stephen: Ein Song, der dabei sehr geholfen hat, war „The last scavenger“. Der ist direkt nach der EP entstanden und es war das erste Mal, dass Vocals, Text und Musik aus einem Guss entstanden sind. Das hat den Albumsound stark geprägt und die folgenden Songs sehr beeinflusst.

Seid ihr noch Hardcore oder „post“?
Olli: Generell fällt uns die Einordnung unserer eigenen Musik in ein bestimmtes Genre ziemlich schwer, auch weil die Songs nicht wirklich an genrespezifischen Stilelementen ausgerichtet werden, sondern sich mehr an den textlichen und emotionalen Aspekten, die wir vermitteln möchten, orientieren. Post-Hardcore als Musikrichtung spiegelt diesen Ansatz und diese Freiheit für uns sehr gut wider. Am Ende verknüpft aber, denke ich, jede Person seine eigenen Erfahrungen und Emotionen mit einer Genrebezeichnung, weshalb es für uns immer sehr schön und auch spannend zu hören ist, wo unsere Musik jeweils eingeordnet wird.

Ihr distanziert euch explizit von den „glattgebügelten Bands des Genres“. Erklärt mal, was „die“ anders machen und was euch davon unterscheidet.
Olli: Ich glaube, das Zitat stammt aus einem Review zur „Seething“-EP und bestätigt ein bisschen, was wir bei der vorherigen Frage geantwortet haben. Die Einordnung und in diesem Falle Nichterfüllung von bestimmten genrespezifischen Erwartungen sieht für jede Person ein bisschen anders aus. Je nachdem, welche Erfahrungen und Empfindungen man damit verknüpft.
Stephen: Trotzdem empfinden wir es natürlich als eine schöne Vorstellung, dass unsere Musik sich nicht vollständig mit einem Genre beschreiben lässt beziehungsweise in gewissen Teilen von den Vorgaben abweicht. Wenn das die Leute bewegt und ihr Interesse an unserer Musik weckt, ist das für uns etwas sehr Besonderes und motiviert uns so weiterzumachen.

Euer Album ist in zwei Teile geteilt – bei Vinyl in A- und B-Seite. Wie kam es dazu? Und kommt daher auch der Doppeltitel „The Acceptance. The Sorrow.“?
Stephen: Ja, der Titel steht für die zwei Seiten des Albums, das sich aus „The Acceptance“, der Akzeptanz der unvermeidbaren Schicksalsschläge im Leben, und „The Sorrow“, dem Umgang mit der Trauer, zusammensetzt. Dieses Konzept hat uns die Möglichkeit gegeben, bestimmte Themen weiter zu vertiefen und über mehrere Songs hinweg zu entwickeln. Ursprünglich hatten wir die Idee, das Album in eine „Bright“- und eine „Dark“-Seite zu unterteilen. Herausgekommen ist aber letztendlich, vor allem bezogen auf die Lyrics, eine „Dark“- und eine „Darker“-Seite.
Olli: Musikalisch reflektiert die Struktur des Albums auch die Entwicklung der Band. Von vielleicht eher „vertrauten“ Klängen und einfacheren Strukturen zu Beginn bis hin zu komplexeren und düsteren Songs. Um den Aufbau des Albums noch etwas mehr hervorzuheben, haben wir außerdem beide Seiten unterschiedlich aufgenommen und produziert und auch von zwei verschiedenen Personen mixen lassen.

Welche Rolle spielen für euch Inhalte, textlich wie generell?
Stephen: Im Prinzip gewähre ich mit meinen Texten einen Einblick in mein Tagebuch. Damit habe ich die Möglichkeit, meine Erfahrungen und Gefühle zu verarbeiten, und gebe damit hoffentlich auch anderen Menschen, die selbst mit solchen Situationen zurechtkommen müssen, ein Gefühl von Verständnis und Hoffnung: Ihr seid nicht alleine.
Olli: Wir möchten den Menschen etwas geben, wozu sie einen Bezug herstellen können und bei dem sie dazugehören, als wären sie selbst Teil der Band.

Wie ist es um eure „Bubble“ in Leipzig bestellt? Wo geht was in Sachen „eurer“ Musik, welche Infrastruktur wie Clubs oder Plattenläden bevorzugt ihr?
Olli: In Leipzig gibt es noch verhältnismäßig viel Platz für Underground und DIY-Kultur. Wenn man möchte, kann man jeden Abend ausgehen und sich eine neue Band anschauen. Das ist für uns sehr inspirierend und ein wichtiger Grund, warum wir uns in der Stadt so zu Hause fühlen.
Stephen: Es gibt hier eine tolle Community aus kreativen Leuten, die Musik machen, Studios betreiben oder Shows veranstalten und die sich gegenseitig unterstützen. Außerdem sind die Menschen in der Stadt sehr offen und lassen sich auf Musik ein, was uns als Band überhaupt erst die Gelegenheit gibt, zu existieren und uns zu entwickeln.