Für den Ausbau der Autobahn 49 wurde im Dezember 2020 eine Schneise quer durch den 200 bis 300 Jahre alten Mischwald bei Dannenrod in Mittelhessen geschlagen. Proteste dagegen gab es schon mehrere Jahrzehnte lang, seit Herbst 2019 zeigte sich der Widerstand aber auch in zivilem Ungehorsam. Aktivist:innen besetzten den Wald auf der geplanten Trasse mit Baumhäusern und Barrikaden. Die Rodungsarbeiten wurden gestört, wo es nur ging. Doch wie lebt es sich bei so einer Waldbesetzung? Und wieso verbringt man freiwillig ganze Monate bei Nässe, Kälte und Schnee in der freien Natur? Darüber, und was mit dem Spruch „System Change, not Climate Change“ gemeint ist, habe ich Ende November, als die Rodung noch lief, mit dem Aktivisten Silas G. am Rande des Protestcamps gesprochen.
Seit wann bist du schon im Wald?
Ich bin mittlerweile fast ein Jahr hier. Nicht durchgängig, aber immer wieder und so oft ich kann, besonders in letzter Zeit. Das ist mal etwas mehr und mal etwas weniger. Natürlich hat man auch im Privatleben noch ein paar Verpflichtungen.
Wieso steckst du so viel Zeit in diesen Protest? Es muss ja eine sehr große Überzeugung dahinterstecken.
Mich motivieren verschiedene Punkte. Zum einen glaube ich an das Gute im Menschen und in der Welt. Dafür muss man einstehen. In diesem Fall der Umweltschutz, speziell die Verkehrswende. Das ist ein entscheidender Baustein, um eine gute Zukunft hinzukriegen. Das ist der Hauptmotor für mich. Zum anderen kann ich natürlich auch nicht verkennen, dass man eine Bindung zum Wald aufbaut, wenn man längere Zeit hier ist. Der Wald wird für mich zu einem neuen Zuhause. Man will gerne wiederkommen und man fühlt sich verbunden mit den Menschen, die hier sind und, auch wenn das komisch klingt, auch mit dem Wald an sich, den Bäumen und all dem. So wird das über die Zeit auch eine persönlichere Geschichte. Aber klar, am Anfang bin ich hier hingekommen, weil es mir politisch wichtig war. Und das ist es auch nach wie vor, weil die Verkehrswende ein unausweichlicher Schritt ist, den wir machen müssen als gesamte Gesellschaft, um uns in eine gute Zukunft bewegen zu können. Ich denke, das ist auch das, was uns alle hier eint. Obendrauf kommt eben noch die Utopie vom guten Leben im Allgemeinen, wenn man das mal so verkürzt sagen darf, was hier im Wald auch gelebt wird. Also das soziale Miteinander, das mir auch noch mal total viel gegeben hat. Das werde ich für mein gesamtes Leben nicht vergessen. Das bringt mich persönlich weiter und es bringt mir auch eine Beziehung zu den Menschen hier im Wald.
Was genau ist der Unterschied zum Miteinander in der „normalen Gesellschaft“?
Im Wald gelten andere Strukturen. Es wird nicht so viel von außen beurteilt. Wenn man hier im Wald einen neuen Menschen kennen lernt, fragt man nicht: Wie heißt du? Was arbeitest du? Woher kommst du? Welchen Abschluss hast du? Von den meisten Menschen hier kenne ich den echten Namen nicht. Hier wird kein Zeugnis kontrolliert, hier braucht man keinen Bachelor- oder Master-Abschluss. Hier ist man einfach Mensch und hilft sich gegenseitig bei dem, was man tut. Und Menschen, die etwas besser können, helfen anderen, es zu lernen. Es geht nicht um diese Abgrenzung, wie man sie sonst oft erlebt, wo Menschen auf ihrem hohen Ross sitzen und sagen: Ich habe was erreicht in meinem Leben. Komm du erst mal dahin, wo ich bin. Sondern hier ist es wirklich so, dass jeder, der etwas kann, bereit dazu ist, das zu teilen. Und so ist es ein Miteinander und kein Gegeneinander.
Essen und Materialien werden euch von außen gespendet. Wie gestaltet sich der Alltag im Wald? Wer oder was bestimmt, wie dein Tag aussieht?
Das ist immer unterschiedlich und hat sich auch über die Zeit hinweg verändert. Je nachdem, wo ich im Wald gerade wohne. Klar, ich gehe nicht jeden Tag normal zur Arbeit, zum Einkaufen und so weiter, das ist im Wald schon anders. Aber natürlich gibt es tägliche Pflichten. Wir treffen uns abends in einer Runde und besprechen, welche Aufgaben zu erledigen sind, was wichtig ist und welche Dinge noch ergänzt werden sollten, die uns als Gruppe weiterbringen. Und wenn wir das alles besprochen haben, können sich Menschen dafür melden. Da sagt mir niemand, dass ich was tun muss – ich will was tun. Ich will die Gemeinschaft voranbringen und ich glaube, das treibt auch viele andere an. Deswegen sind die Aufgaben auch größtenteils schnell verteilt. Das sind dann so Sachen wie Essen oder Wasser holen, kochen, die Küche aufräumen oder so eine Art Putzplan, nur dass niemand das machen muss, sondern sich Menschen dafür finden. Dass irgendjemand einem anderen einen Befehl gibt, das habe ich hier noch nicht erlebt. Außer unter den Polizisten. Hier im Wald ist jeder sein eigener Herr beziehungsweise seine eigene Dame.
Wer lebt hier im Wald? Sind das nur junge Leute?
Die Menschen, die ich im Wald kennen gelernt habe, waren sehr bunt gemixt. Ich habe alte Menschen gesehen und auch sehr junge. Bei manchen weiß ich, dass sie parallel studieren. Andere machen eine Ausbildung oder arbeiten. Im Grunde genommen sind es sehr viele unterschiedliche Menschen und nicht nur eine bestimme Art. Aber genau das zählt eben auch nicht. Man muss hier nichts vorweisen, um mitmachen zu können. Man muss nur Lust haben und an eine gute Welt glauben.
Man hört oft den Spruch „System Change, not Climate Change“. Was ist damit genau gemeint?
Ja, das wird oft falsch verstanden, was mich manchmal fast schon zum Lachen bringt, wenn ich höre, was Menschen da teilweise reininterpretieren. „System Change, not Climate Change“ ist für mich das Symbol der Bewegung, denn unser System ist marode. Unser System macht die Erde kaputt, zerstört Wälder, zerstört Natur, zerstört Lebensräume und noch darüber hinaus. Verkehrslärm ist einfach etwas, das stresst. Jede Stadt stinkt wie Sau, weil so viele Autos durchfahren. Das zerstört die Lebensqualität von jedem einzelnen Menschen und langfristig befeuert es auch noch den Klimawandel. Und das ist nur ein kleiner Punkt des Systems, den wir radikal verändern müssen. Also als kurze Formel, wie es ja auch gerne gesagt wird: Ein System, das von einem unendlichen Wachstum ausgeht und auf diesem Wachstum basiert, passt nicht mit einer endlichen Erde zusammen. Wir müssen dieses System ändern, damit wir die Welt nicht zerstören, damit wir unser eigenes Leben erhalten und glücklich bleiben können.
Was würdest du dir konkret von unserer Gesellschaft wünschen?
Ich glaube, im allersten Schritt sollte sich jeder erst einmal bewusst werden, dass das Problem da ist. Dass wir in einem System gefangen sind, das uns langfristig selbst zerstört. Und dann kann man eben im eigenen Maße dagegen ansteuern und vor allem in politischer Hinsicht etwas dagegen unternehmen.
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #154 Februar/März 2021 und Pit Steinert