Jedes Jahr unternehme ich zusammen mit der Jungle World eine Auslandsreise. Diesmal waren wir in Tiflis, der Hauptstadt von Georgien. Eine Gelegenheit, VODKA VTRAIOM, eine der bekanntesten Punkbands Georgiens zu treffen und etwas über die georgische Underground-Szene zu erfahren. Letztlich habe ich mich für VODKA VTRAIOM entschieden, weil mir ihre eingängigen, humorvollen und sozialkritischen Songs gefallen, neben der herrlich schroffen Stimme ihres Sängers und weil sie georgische Texte haben. Zum Interview gehen wir in die Wohnung von Sänger Kesha. Anwesend sind Levan „Kesha“ Managadze, Schlagzeuger David „Borgir“ Tsomaia, Bassist Roma Shapovalov und der zweite Gitarrist Alex Chachava. Meine Fragen beantworten jedoch nur Kesha und Borgir, die Gründungsmitglieder, wobei Kesha kein Englisch spricht. Borgir spricht und übersetzt.
Aus was für einem Umfeld heraus habt ihr 2004 VODKA VTRAIOM gegründet?
Borgir: Die georgische Alternativ-Szene war immer recht stark. Als die Sowjetunion Ende der Achtziger zu kollabieren begann, gründeten sich viele neue Bands. Es gab hauptsächlich zwei verschiedene Szenen, die von Tiflis und die von Kutaissi, der zweitgrößten georgischen Stadt. Die Szene in Tiflis war hauptsächlich von Post-Punk und alternativem Punk geprägt, während Kutaissi eher für Hardcore-Punk stand. Leider hielt diese Entwicklung nur sechs Jahre an, weil Mitte der Neunziger vier Kriege in Georgien ausbrachen. Es gab zwei Bürgerkriege und zwei ethnische Auseinandersetzungen. Das Leben war schrecklich. Wir hatten keinen Strom, kein Gas, kein Wasser, kein Essen. An Musikmachen war nicht zu denken. Anfang der 2000er entstand die zweite Generation von georgischem Punk, die wir repräsentieren. Wir waren vor allem von Bands aus dem Westen beeinflusst, aber unsere Musik entstand auch aus den Ruinen der ersten Generation georgischen Punks.
Was für eine musikalische Idee liegt VODKA VTRAIOM zugrunde?
Kesha: Die Hauptidee war, gegen alles zu protestieren, was gerade passierte. Einerseits die schlechten Lebensbedingungen und andererseits die sehr schlechte georgische Popmusik, die damals angesagt war. Echte Scheißmusik. Darüber hinaus hatte die erste Generation des georgischen Rock und Post-Punk eher einen poetischen Stil. Wir dagegen wollten Hardcore und aggressiven Punk spielen.
Borgir: Vor uns war Folk-Rock in Georgien sehr populär. Aber das hatte mit echtem Rock’n’Roll natürlich gar nichts zu tun. Also haben wir unsere eigene Band gegründet.
Wie alt wart ihr damals?
Borgir: Wir hatten beide schon in verschiedenen Bands gespielt. Kesha war schon 27, ich war 21. Jetzt ist er 41, ich bin 34. Der Gitarrist und der Bassist sind beide 27.
Ich seid ja beide Flüchtlinge aus Abchasien. Hatte diese Tatsache auch Einfluss auf eure Musik?
Borgir: Wir haben keine Texte über Abchasien, aber wir haben einige Antikriegslieder. Es hat also keinen direkten Einfluss, aber dieser Krieg und unser Leben als Flüchtlinge haben unsere Einstellungen in sozialen Fragen geprägt.
Habt ihr noch Kontakte nach Abchasien?
Borgir: Nein, es ist zu kompliziert. Alle Georgier mussten damals Abchasien verlassen. Es war ein ethnischer Konflikt und ein Genozid. Du musstest gehen oder du wurdest getötet. Heute leben wieder einige Georgier im Osten von Abchasien. Kesha war 16, 17 Jahre alt, als der Krieg ausbrach. Ich war neun Jahre alt. Kesha war passiv sogar ein wenig am Kriegsgeschehen beteiligt. Nicht aktiv am Kampf, aber indem er Soldaten half. Natürlich hatte Kesha abchasische Freunde. Auch meine Eltern hatten sehr enge abchasische Freunde. Ich habe eine Patentante in Abchasien, zu der ich 25 Jahre keinen Kontakt hatte. Erst vor einem Jahr fanden wir sie mit der Hilfe der sozialen Medien. Du kannst also Kontakt finden, aber es ist sehr schwierig. Wir können nicht nach Abchasien reisen, weil es zu gefährlich ist. Doch du bekommst auch keine Genehmigung.
Kesha: Abchasier können schon nach Georgien reisen, zum Beispiel um sich medizinisch behandeln zu lassen oder wegen der Ausbildung. Aber wir können nicht nach Abchasien. Vor zehn Jahren haben wir mal bei einem Konzert alle schwarze T-Shirts mit der abchasischen Flagge getragen. Das war eine kleine Provokation, weil es hier immer noch auch eine aggressive Haltung gegenüber Abchasiern gibt. Das lehnen wir ab. Wir glauben, dass es besser ist, miteinander zu reden und sich anzufreunden. Die Georgier denken, sie könnten die hunderttausend Abchasier an nur einem Tag killen. Aber ein neuer, zweiter Krieg würde das Problem nicht lösen.
Wo habt ihr mit VODKA VTRAIOM bislang gespielt?
Borgir: Für uns ist es sehr leicht, in Armenien und Aserbaidschan aufzutreten. Da waren wir schon oft. Dieses Jahr schon dreimal. Zu der Szene in Aserbaidschan haben wir sehr guten Kontakt. Es ist zwar eine eher schwache Szene, aber die georgische Szene ist irgendwie auch schwach, also was soll’s. Armenien hingegen ist okay. Letztes Jahr waren wir auf Tour in Polen mit der polnischen Anarchopunk-Band LIFE SCARS. Vorher waren sie auf Tour mit uns in Georgien, Armenien und Aserbaidschan. Wir würden natürlich gern mal in Westeuropa spielen, aber das ist schwierig.
Mir gefällt besonders euer neuer Song „Isev movida dro“.
Borgir: Das ist ein Antikriegssong. Er heißt übersetzt: „Es ist wieder so weit“. „Es ist wieder so weit zu weinen. Es ist wieder so weit für den Schmerz. Mütter weinen. Kinder sterben.“ Wir arbeiten gerade an einem Album mit einigen alten und neuen Songs im Studio von Shotari Darakhvelidze, er ist Gitarrist bei der Extreme-Metal-Band PSYCHONAUT 4. Zusammen mit denen haben wir den Song „Hero(In)“ aufgenommen. Shotari nimmt hier die komplette Alternativ-Szene auf.
Welche anderen georgischen Bands könnt ihr empfehlen?
Borgir: PSYCHONAUT 4 natürlich, die haben schon verschiedene Shows in Deutschland gespielt. SCRATCH THE FLOOR sind sehr gut. Dann PANIKA, eine neue Teenager-Punkrock-Band aus Kutaissi mit sozial engagierten Texten auf Georgisch. EVERY DOG HAS ITS DAY, eine Hardcore/Grindcore/Metal-Band, die dieses Jahr auch auf dem Wacken Festival gespielt hat. LADY HEROIN, eine der ältesten Alternativ-Bands in Georgien. ANAREKLI, eine Post-Punk-Band aus Kutaissi. OUTSIDER, eine der ältesten georgischen Hardcore-Bands, die immer noch auftreten. RETSEPTI, übersetzt „Die Rezepte“, waren in den Neunzigern sehr, sehr gut. Eine der einflussreichsten Bands. Heute ist der Sänger ein bisschen verrückt, macht schreckliche Musik und betrachtet sich als König des georgischen Rock.
Kesha: RETSEPTI, OUTSIDER und KONTRABANDA waren die wichtigsten georgischen Bands der Neunziger. KONTRABANDA waren eine Folk-Hardcore-Band. Der Sänger nahm als 17-, 18-Jähriger aktiv an den Kämpfen in Abchasien teil und gründete die Band, als er nach Tiflis kam. In Kutaissi gab es auch gute Bands wie BEST HISTORY und ARCEOPTER X.
Wann ist euer nächster Gig?
Borgir: Im September spielen wir mit SCRATCH THE FLOOR, EVERY DOG HAS ITS DAY und mit DANGDAGANI, einer Alternative Punk-Band, die auch auf Georgisch singt. DANGDAGANI sind gerade sehr angesagt. Jeder kann ihre Songs mitsingen. Ihre Konzerte sind immer voll und sie sind nicht nur in der Punk-Szene beliebt, sondern auch bei allen möglichen anderen Leuten. DANGDAGANI bedeutet „Glitzer“ auf Hebräisch. Tiflis hat 1,5 Millionen Einwohner, aber die Musikszene ist sehr klein. Wir kennen uns alle und haben auch schon alle miteinander gespielt.
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #140 Oktober/November 2018 und Andreas Michalke