Wer sich jemals intensiver mit englischem Punkrock beschäftigt hat, ist sicherlich auch schnell auf VICE SQUAD aus Bristol gestoßen. Vor allem die ersten beiden Alben, „No Cause For Concern“ und „Stand Strong Stand Proud“, der 1979 gegründeten Band um Sängerin und Gitarristin Beki Bondage sind heute absolute Klassiker. Nach zwischenzeitlicher Auflösung hat Beki die Band 1997 wieder ins Leben gerufen. Mit „Battle Of Britain“ ist im Herbst 2020 ein neues, sehr gelungenes Album erschienen. Über die Bandhistory haben viele vor mir schon alles geschrieben – Beki und Gitarrist Paul Rooney berichteten mir daher lieber etwas darüber, wie die Pandemie bei ihnen für einen Kreativitätsschub gesorgt hat.
Euer aktuelles Album ist im Oktober 2020 erschienen. Wie habt ihr die Aufnahmen trotz Corona-Lockdown organisiert?
Paul: Die Songs für „Battle Of Britain“ haben wir schon 2018/19 über zwei Jahre verteilt geschrieben. Wir nehmen unsere Alben zu Hause auf und mischen sie auch dort. Das haben wir schon vor vielen Jahren angefangen, als wir unseren ersten Vierspur-Kassettenrecorder und eine Drum-Machine gekauft haben, um zu Hause Demos aufzunehmen. Nach und nach haben wir gelernt, Mikrofone und Aufnahmegeräte richtig einzusetzen und haben von vier zu acht und schließlich zu sechzehn Spuren gewechselt. Als Computer in diesem Bereich erschwinglich waren, hob das die Trennung zwischen Kassettendemos und professionellen Aufnahmen auf. Oft sind unsere frühen Songideen schon das, was am Ende auf dem Album zu hören ist. Das ist auch bei „Battle Of Britain“ so. Wir bauen unsere Songs ausgehend von kleinen Ideen auf und versuchen, laute, aufregende Musikstücke daraus zu machen.
Beki: Wir schreiben und nehmen ständig auf. So entstehen ziemlich regelmäßig neue Songs. Manche Ideen kommen sehr schnell, wie bei „Ruination“ oder „Born in a war“. Wir haben die beiden am selben Nachmittag geschrieben wie „You can’t fool all of the people“. Letzterer hat aber länger gebraucht, bis er wirklich gepasst hat. Ich glaube, wir haben ihn dreimal aufgenommen mit unterschiedlichem Tempo und am Anfang versucht, eine andere Gitarrenstimmung reinzubringen. Dann habe ich eine Baritongitarre gekauft, als die normale Gitarre mit ihren Stimm-Möglichkeiten am Ende war. Aber Paul mochte dann den Ton in einigen Parts des Songs nicht, so dass wir eine weitere Baritongitarre gekauft haben, bis es funktioniert hat. Ich mochte auch den Klang des Leadgesangs nicht und probierte verschiedene Ansätze und Gesangsplatzierungen aus. Das Album war schon Ende 2019 fertig, aber die Veröffentlichung wurde durch den Lockdown verschoben.
„Battle Of Britain“ – wer kämpft gegen wen?
Beki: Es geht eigentlich eher um den Kampf für Großbritannien. Um es davor zu schützen, eine grauenhafte Nation zu werden. Unsere Vorfahren haben ihr Leben geopfert in zwei Weltkriegen und danach eine Gesellschaft etabliert, in der es fairer zugehen sollte. Viele der Errungenschaften, die auf diesen Opfern beruhen, werden nun durch unsere Regierung zerstört. Und der „Brexshit“ macht es noch schlimmer. Ich hasse diese Heuchelei um die Kriegstoten. Gierige Politiker, die Kränze an Mahnmälern ablegen, während sie die Mittel für unser Gesundheitssystem kürzen. Die Leute müssten wirklich mal unsere Geschichte studieren, weil unsere Rechte hart erkämpft worden sind und so leicht verlorengehen können.
Wie seid ihr bisher durch die Corona-Krise gekommen? Wie haltet ihr euch über Wasser ohne die Möglichkeit, Konzerte zu spielen?
Paul: Ich gebe Gitarrenunterricht und verdiene mit Musik meinen Lebensunterhalt. Ich habe die Pandemie und die vielen Monate im Lockdown tatsächlich auch als Türöffner für Kreativität empfunden. Wir haben ein paar Bands live auf YouTube gesehen, wie sie von zu Hause einfachere Versionen ihrer Songs auf akustischen Gitarren gespielt haben, weil komplette Bands sich nicht treffen und spielen können. Beki und ich haben versucht, ein paar alte VICE SQUAD-Songs akustisch via Livestream zu spielen. Das hat Spaß gemacht, aber wir versuchen auch immer, interessantere Sounds zu entwickeln. Also haben wir noch Violinen und Orchesterarrangements zu einigen unserer Lockdown-Akustikversionen hinzugefügt, indem wir mit Online-Musikern zusammengearbeitet haben. Das hätten wir sicher nicht gemacht, wenn wir wie sonst auf Tour gewesen wären. Die Pandemie hat unsere Kreativität beflügelt und wir probieren neue Dinge aus. Wir haben auch einige Musikvideos zu Hause gemacht. Auch das hätten wir vermutlich nicht so entdeckt, wenn das Jahr normal verlaufen wäre.
VICE SQUAD-Songs befassen sich oft mit sozialen und politischen Themen und Problemen. Wie seht ihr die Corona-Krise? Soll und kann die Menschheit etwas daraus lernen?
Beki: Ja, wir müssen unseren destruktiven Umgang mit nicht-menschlichen Lebewesen stoppen, sonst werden wir selbst untergehen. Die Mächtigen sprechen über Impfungen und Lockdowns, während sie das Offensichtliche ignorieren. Die Mehrheit der Krankheiten, die Epidemien oder Pandemien verursacht haben, sind zoonotisch, wie AIDS, Vogelgrippe, Schweinegrippe, SARS, MERS, Ebola, das Zika-Virus und eben COVID-19. Angesichts dessen haben Expertengremien wie die der World Health Organisation, der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen und der Weltorganisation für Tiergesundheit schon seit langem vorausgesagt, dass Pandemien sich nicht vermeiden lassen, wenn die Menschen weiterhin nicht-menschliche Lebewesen für Ernährung und Profit nutzen. Selbst wenn die Impfstoffe gegen COVID-19 effektiv helfen können, wird es weiter mutieren und es wird noch andere, schlimmere Krankheiten geben.
Ihr tourt seit den Achtziger Jahren weltweit. Wahrscheinlich werden viele Locations wegen der Lockdowns nicht überleben können. Welche Clubs vermisst ihr gerade am meisten?
Beki: Ich mag den Club 229 in der Great Portland Street hier in London sehr gerne. Das ist ein toller Laden mit spitzenmäßigen Soundtechnikern. Ansonsten auch auf jeden Fall den 100 Club und den Birmingham Ballroom. Ich denke, dass viele Clubs aufgeben werden, da sie auch schon vor dem Lockdown zu kämpfen hatten. Es ist eine absolute Schande und bedeutet, dass viele Bands nicht mehr live spielen können, bevor die Szene ganz in den Untergrund geht, wie es bei den Raves der Fall war.
Irgendwelche Tour-Erinnerungen, die ihr mir uns teilen wollt?
Beki: Ich denke, unser Headliner-Gig beim Altavoz Festival in Kolumbien vor 30.000 Leuten ist absolut erinnerungswürdig und das nicht nur, weil es so groß war. Es war auch eine erschütternde Erfahrung, weil wir dort Leute von Punkbands getroffen haben, die ihre Instrumente selbst bauen mussten, weil sie sich nicht mal eine billige Gitarre leisten können. Ich habe dort realisiert, dass, egal, wie schlimm meine eigenen Probleme gerade sind, Leute in ärmeren Ländern noch wesentlich härteren Bedingungen ausgesetzt sind. Und wenn unsere Musik wichtig für sie ist, müssen wir für sie weitermachen.
Welche Pläne habt ihr für 2021?
Paul: Wir nehmen zur Zeit Country- und Blues-Versionen von Songs einer sehr berühmten und respektierten englischen Rockband auf. Welche das ist, ist momentan aber noch ein Geheimnis. Wir machen weiterhin Lockdown-EPs mit älteren VICE SQUAD-Songs und wollen auch ein Best-Of-Album zusammenstellen. Wir waren bis jetzt sehr beschäftigt damit, drei limitierte CD-EPs herauszubringen, die wir „Vice-O-Lation“ nennen. Alle Aufnahmen sind selbst produziert und selbst finanziert.
Beki: Wir mussten sehr erfinderisch sein bei unseren Videos, weil die meisten in einem kleinen Schlafzimmer zu Hause aufgenommen wurden. Der Clip zu „Born in a war“ entstand aus einem Video von mir, wie ich den Song in einer schmalen Lücke zwischen einem Aktenschrank und einer Wand singe – das wurde dann mit Studiomaterial der Band zusammengeschnitten. Ich mag die Tatsache, dass unsere hausgemachten Videos wie alte Fanzines sind: ausgeschnitten und zusammengeklebt. Echt DIY!
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