VAL SINESTRA

Foto

Alles zerlegen

Verdächtig lange war es ruhig um VAL SINESTRA. Nach ihrem Debütalbum „Unter Druck“, das vor drei Jahren beim Nürnberger Label Concrete Jungle erschienen ist, hat man nicht viel gehört von den Berliner Krachmachern. Den Jungs, die sich immer haarscharf an der Schnittstelle zwischen Punk, Hardcore und Rock’n’Roll bewegen. Jetzt fallen VAL SINESTRA mit der Tür ins Haus. Neues Album, neues Label. Fast schon wie ein Neuanfang, erklären Sänger Chris und Bassist Max im Ox-Interview.

Vor drei Jahren haben wir schon mal gesprochen. Damals ist gerade euer Debütalbum „Unter Druck“ herausgekommen. Was ist seitdem passiert?

Max: Wir haben 2017 bei jeder Menge Festivals wie Rocco del Schlacko, Highfield oder With Full Force gespielt. Dann hatten wir das Glück, dass wir mit FLOGGING MOLLY unterwegs sein durften. Leider hat uns im Herbst 2017 aber unser damaliger Schlagzeuger Sascha verlassen. Dann mussten wir einen Nachfolger suchen und sind mit Jan fündig geworden. Er war dann schon während der zweiten Hälfte der FLOGGING MOLLY-Tour Anfang 2018 dabei. Mit ihm mussten wir natürlich erst mal warm werden, aber das hat gut geklappt und er war jetzt auch bei der neuen Platte am Start.
Chris: Am Anfang haben wir diesen DEICHKIND-Effekt deutlich gespürt. Die Mucke kann ich mir nicht jeden Tag im Büro anhören, dafür ist sie mir ein bisschen zu heftig, aber die Live-Shows sind immer ziemlich geil. Viele Leute haben uns geschrieben, dass sie sich darüber gefreut haben, dass es eine deutschsprachige Band gibt, die keinen Studentenpunk im Stil von TURBOSTAAT macht. Dass wir den Rock’n’Roll in den Punkrock reinbringen und uns soundtechnisch eher an amerikanischen und britischen Bands orientieren. Das sieht man auch an unseren Support-Shows. Wir haben zum Beispiel die erste Solo-Tour von Frank Carter begleitet, wir waren mit SAMIAM auf Tour und haben Konzerte für THE BRONX oder JOHN COFFEY eröffnet. 2019 haben wir eine titellose 12“ veröffentlicht und eigentlich sollten ein paar EPs folgen. Aber dann haben wir uns entschieden, uns auf ein zweites Album zu konzentrieren.

Im Frühjahr 2020 kam der Lockdown. Nichts ging mehr. Keine Konzerte, gar nichts. Wie ging es euch damit?
Max: Ursprünglich wollten wir „Zerlegung“, unser neues Album schon im Frühjahr herausbringen. Dass wir den Release verschoben haben, war auch wegen Corona. Wir haben es bei befreundeten Bands beobachtet, die ihre Platten im März oder April veröffentlicht haben. Da passierte nicht mehr viel, nachdem alle Touren abgesagt waren. Die Aufmerksamkeit über ein Jahr oder länger aufrechtzuerhalten, ist echt schwer. Dem wollten wir natürlich aus dem Weg gehen, deshalb haben wir uns entschieden, das Album erst im Spätherbst herauszubringen. Für uns ist es schon eine harte Zeit, weil jeder von uns beruflich mit der Veranstaltungsbranche zu tun hat. Unser Schlagzeuger Jan ist viel als Live-Drummer unterwegs. Chris war lange in Booking-Agenturen tätig, hat aber rechtzeitig den Absprung geschafft und eine Ausbildung im Bereich Web-Development angefangen. Unser Gitarrist Sören hat in Teilzeit im Kulturhaus Astra im Bezirk Friedrichshain gearbeitet, da geht ja momentan auch nicht viel, und ich verdiene mein Geld mit der Produktionsleitung von Konzerten, deshalb sitze ich gerade komplett auf dem Trockenen. Aber jeder von uns hat sich mit der Situation arrangiert und hält sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser.
Chris: Zum Glück muss VAL SINESTRA nicht unsere Leben finanzieren. Wir machen das nur, weil wir Bock darauf haben. Deshalb haben wir die Zeit auch konstruktiv genutzt und einige Demos aufgenommen. Wir haben unter anderem Eric, den Sänger von PABST, zu einer Session eingeladen. Wir wissen noch nicht, wann und wie wir das veröffentlichen, aber wir sind im Lockdown nicht untätig gewesen.
Max: Außerdem haben wir unseren Proberaum zu einem kleinen Studio ausgebaut, um unabhängiger und schneller agieren zu können. Das war auch so ein Corona-Projekt, das wir umgesetzt haben.

Wie hat sich der Sound von VAL SINESTRA im Vergleich zum Debütalbum weiterentwickelt?
Chris: „Unter Druck“ hatte komplexere Songstrukturen als „Zerlegung“. Die Songs sind straighter und gehen noch mehr nach vorne. Wir haben aber natürlich immer noch vertrackte Parts in unseren Songs. Diesmal haben wir die Platte außerdem in unserem Proberaum aufgenommen und sind nicht nach Brighton geflogen. Dafür haben wir unseren Produzenten Jag Jago nach Berlin eingeladen, der sich mit uns zusammengesetzt hat und unheimlich Bock hatte, mit uns zu arbeiten. Das hat den Songs natürlich sehr geholfen.
Max: Bei dem einen oder anderen Stück haben wir auch mal einen Gang zurückgeschaltet, weil wir etwas Neues ausprobieren wollten. „Alltag“ zum Beispiel ist so ein Half-Time-Track geworden. Wir fanden es alle ziemlich cool, dass dieser Song eher groovig als voll in die Fresse ist.

Auffällig ist auch, dass ihr mehr politische Attitüde in eure Texte gepackt habt. Politische Botschaften habt ihr bislang eher verklausuliert.
Chris: Die politische Lage in der Welt hat sich in den vergangenen drei Jahren krass verändert. Und natürlich politisiert das jeden Einzelnen von uns. Je mehr AfD-Scheiß in Deutschland passiert, je mehr Trump- und Diktatoren-Scheiß auf der ganzen Welt passiert, desto mehr denken wir auch darüber nach. Das heißt aber nicht, dass wir anfangen, klischeehafte Phrasen zu dreschen. Wir sind keine Band wie RADIO HAVANNA, die im Vergleich zu uns viel plakativer sind. Wir wollen aktuelle Themen aufgreifen, aber jetzt gerade passieren so viele Dinge, dass man kaum hinterherkommt. George Floyd, „Black Lives Matter“, Polizeigewalt ...
Max: Es hängt auch damit zusammen, dass Leute behauptet haben, wir hätten uns nach „Unter Druck“ nicht klar positioniert. Deshalb haben wir auch viel über die Identität unserer Band nachgedacht. Vielleicht auch dadurch sind wir direkter in unserer Ansprache geworden.
Chris: Es haben sich immer wieder Leute auf unsere Konzerte verirrt, die wir da nicht haben wollen. Wir hatten zum Beispiel Mädels mit FREI.WILD-Shirts bei unseren Shows. Danach haben wir ganz eindeutig auf Facebook gepostet, dass solche Gäste bei uns unerwünscht sind. Wir machen keinen Deutschrock. Bei einem Konzert mit VIZEDIKTATOR in Alfeld kam ein Mädchen mit Onkelz-Shirt, da haben wir eine Ansage gemacht, dass wir das nicht wollen. Wir wollten sie aber nicht rauswerfen, sondern mit ihr ins Gespräch kommen. Danach musste ich mit einer ganzen Handvoll Leuten diskutieren, die unsere Einstellung nicht verstanden haben.

Mit den persönlichen Einstellungen ist es sowieso schwierig geworden. Zum Beispiel bei diesen ganzen Querdenker-Demos, wo Hippies und Alt-Linke neben strammen Nazis laufen. Wie erlebt ihr das?
Chris: Ich habe mir den Livestream von dieser Demo in Berlin angeschaut und ich fand es ganz furchtbar. Ich fand es schlimm, dass sogar Kinder instrumentalisiert wurden, die auf der Bühne standen und gefordert haben: Das System muss weg! Merkel muss weg! Ich musste auch in meiner Familie einige Diskussionen führen. Das fing allerdings schon vor fünf Jahren mit der ersten Flüchtlingswelle an. Ich beteilige mich nicht an Diskussionen in den Kommentarspalten auf Facebook, das ist mir einfach zu doof. Es gibt einen Veranstalter aus Stuttgart, mit dem ich befreundet bin, der immer wieder Verschwörungsstorys postet, wo ich mich wirklich frage, was mit solchen Leuten passiert ist. Ich verstehe es nicht. Es hängt wahrscheinlich mit der Isolation im Lockdown zusammen. Lange alleine sein ist nie gut. Wenn jemand psychisch angeknackst ist, ist er vielleicht noch empfänglicher für solchen Humbug.

Lasst uns noch mal auf die Musik zurückkommen. Euer zweites Album habt ihr ja „Zerlegung“ getauft. Gibt es für den Namen eine Geschichte?
Max: Der Name „Zerlegung“ ist auf Tour entstanden. Wir haben in Hannover gespielt und haben uns beim Konzert ordentlich verletzt. Wir haben also sowohl den Laden als auch uns selbst ganz schön zerlegt. Und so ist der Spruch entstanden. Was war das für eine Zerlegung!
Chris: Max hat ständig Verletzungen. Irgendwelche Knochenbrüche, Schürfwunden oder blaue Flecken. Ich kann mich an weniger Konzerte erinnern, an denen Max danach gesund war, als andersherum. Aber er hat die Shows immer durchgezogen und nie abgebrochen.