Wer hätte je gedacht, dass einer Band wie UNDEROATH ein paar Zeilen im Ox gewidmet werden? Schließlich war das doch die Band, deren Bibelkreis Fat Mike im Rahmen einer Warped Tour einst gesprengt hat. Nach Drogenproblemen und einer kurzen Auszeit hat sich die Band jedoch neu erfunden und dem Glauben abgesprochen – zumindest verkünden das ein paar Bandmitglieder. Das ging sogar so weit, dass die neue Platte „Voyeurist“, die in etwa so klingt wie eine Mischung aus BRING ME THE HORIZON und NINE INCH NAILS, konkret mit dieser Abkehr beworben wurde. Keyboarder Christopher Dudley, der ein bekennender Filmnerd ist, erzählt uns im Interview, was dahinter steckt, warum sie ihr Album fast komplett im DIY-Spirit (sic!) produziert haben und wie sich Hörgewohnheiten über die Jahre doch ändern können.
Auf „Voyeurist“ habt ihr euch musikalisch wieder ein Stück weiterentwickelt. Es scheint, als seid ihr nach fast zwanzig Jahren ungefähr da angekommen, wo ihr euch als Band am wohlsten fühlt.
Mit jedem Album, das wir schreiben, bilden wir eigentlich den Moment ab, in dem wir uns gerade befinden. Wir orientieren uns in diesen Phasen immer daran, was wir selbst als aufregend empfinden, und probieren dann unterschiedlichste Dinge aus. Egal, ob es dann ein Riff oder ein ganzer Song ist: Wenn es uns so glücklich macht, dass wir unser Lächeln nicht mehr aus dem Gesicht kriegen, sind wir auf dem richtigen Weg. Das mag bei so lauter und heftiger Musik vielleicht ungewöhnlich klingen. Dabei war uns vor allem bei den letzten zwei Alben besonders wichtig, dass wir uns als Einheit mit dem Ergebnis wohl fühlen. Und da wir mit vier Songwritern viele Ideen kombinieren müssen, kann das auch mal in einen längeren Prozess ausarten.
Ich hätte, ob der doch eher düsteren Themen, die ihr auf dem Album ansprecht und aufgrund des Sounds, nicht damit gerechnet, dass die Atmosphäre im Studio so losgelöst und happy ist.
Beim Schreiben der Songs war es stellenweise so, als wenn ich einen sehr guten Film schaue und in manchen Situationen denke, wie großartig das, was da gerade passiert, doch ist. Das zaubert mir dann ein Lächeln ins Gesicht und ich genieße den Moment. Unabhängig von den Inhalten der Texte und den Botschaften, die transportiert werden, haben wir einfach gemerkt, wie viel Spaß wir am Musikmachen haben. Das war in der Geschichte der Band sicher auch mal anders. Im Moment läuft aber alles den Umständen entsprechend gut.
„Voyeurist“ ist eines dieser Alben, die eigentlich schon vor Corona fertig waren, jedoch erst mit einer Verzögerung von zwei Jahren veröffentlicht wurden. Habt ihr in der langen Zeit mal an dem gezweifelt, was ihr da produziert habt?
Es gibt bei uns eigentlich immer den gleichen Ablauf bei der Produktion unserer Platten: Wir nehmen das Zeug auf, wir gehen auf Tour und produzieren irgendwann wieder neue Musik. Bei „Voyeurist“ ist der Zeitraum des Immer-und-immer-wieder-Anhörens nach der Produktion dazugekommen und dann auf einmal extrem lang gewesen, das stimmt. Das Album hat uns aber auch in dieser Zeit immer noch begeistern können. Wir sollten Anfang 2020 mit den Aufnahmen beginnen, haben jedoch erst ein Jahr später wirklich starten können. Eigentlich sollte das Album auch schon im Oktober 2021 im Rahmen einer Release-Tour erscheinen. Als wir gemerkt haben, dass das nicht realisierbar war, haben wir das Ganze nach hinten verschoben.
Habt ihr euch darüber Gedanken gemacht, wofür ihr als Band im Jahr 2022 stehen wollt? Ist dir persönlich auch wichtig, dass eine Band etwas verkörpert, das über die Musik hinausgeht?
Was meine eigenen Hörgewohnheiten angeht, bin ich wirklich nicht wählerisch. Es ist eher so, dass ich, wenn ich einen Song höre, ein gutes Gefühl bekommen muss. Bei Filmen ist das übrigens ähnlich – und ich kann sagen, dass ich ein echter Filmnerd bin. Ein Horrorfilm ist dann gut, wenn er spannend ist. Ein Song ist dann gut, wenn er spannend ist und mich dazu verleitet, zum Beispiel im Auto aufs Gaspedal zu drücken, weil mich die Energie packt. Ich würde aber auch sagen, dass ich die Kunst ganz klar von der Künstlerin beziehungsweise dem Künstler trennen kann. Da waren zum Beispiel auch Bands, mit denen wir getourt haben, deren Musik ich wirklich gefeiert habe. Mit den Musikern lag ich jedoch nicht auf einer Wellenlänge. Während wir unterwegs waren, hat sich dieses Gefühl immer mehr verstärkt. Ich habe dennoch nicht aufgehört, die Songs zu hören. Auf der anderen Seite gibt es aber auch Bands, bei denen ich mir bewusst bin, dass es kaum Schnittmengen zwischen uns gibt. Sei es etwas Politisches oder eine unterschiedliche Auffassung von sozialen Problemen. Mir fallen ein paar Regisseure ein, deren Filme ich wirklich vergöttere. Als Menschen sind das jedoch komplette Idioten. Brett Ratner, ein bekannter Filmregisseur und Produzent, zum Beispiel ist dafür bekannt, dass er Menschen sowohl psychischen als auch physischen Schaden zufügt. Das ist abstoßend und beeinflusst natürlich auch meine Auseinandersetzung mit seiner Kunst. Und zwar in dem Sinne, dass ich ihn in keiner Weise unterstützen möchte. Zu 95% schaue ich jedoch eher auf die Kunst. Und um auf den ersten Teil deiner Frage zurückzukommen, kann ich sagen, dass wir als Band vor allem dafür stehen wollen, ehrlich zu sein.
Kannst du das vielleicht etwas genauer erklären?
Eigentlich zieht sich das durch die gesamte Karriere von UNDEROATH. Wie du sicher weißt, haben wir uns eine Zeit lang als christliche Band gesehen. Zu der Zeit standen wir voll dahinter. Wir sind damit groß geworden und haben wirklich daran geglaubt. Irgendwann kam jedoch der Moment, in dem wir uns gefragt haben, ob wir dieses Image wirklich noch authentisch aufrechterhalten wollen. Wir wurden relativ schnell auf eine bestimmte Rolle als christliche Hardcore/Metalband festgelegt, in der wir uns dann nicht mehr wohl fühlten. Wir sind keine christliche Band mehr. Jeder in den Band hat seine eigene Herangehensweise an diese Dinge. Wir wollten den Leuten zeigen, zu welchen Menschen wir uns entwickelt haben. Dass das öffentlich passiert ist und sehr private Ansichten auf einmal im Internet diskutiert wurden, hat sicher auch einen Einfluss auf UNDEROATH gehabt. Vor allem die Drogensucht von Spencer, unserem Sänger, und der öffentliche Umgang damit, war eine große Herausforderung für uns als Gruppe. Gleichzeitig war das aber auch eine Möglichkeit für uns zu zeigen, dass wir in erster Linie Menschen sind, die Musik machen. Wir können über unsere persönlichen Probleme schreiben und damit anderen vielleicht helfen, die dasselbe durchgemacht haben. Es geht uns darum zu zeigen, dass niemand mit seinen oder ihren Problemen allein ist.
Ist es schwierig gewesen, das Image einfach so zu ändern? Ihr wart lange als eine der erfolgreichsten christlichen Bands unterwegs.
Wie gesagt, kann jede und jeder an das glauben, was er oder sie möchte. Für uns als Band hat es sich einfach ergeben, dass wir alle nicht mehr zu 100% dahinterstehen. Insofern hat es auch keinen Sinn mehr gemacht, dass wir uns in diese Schublade stecken lassen. Unsere Songs waren nie wirklich auf das Thema „Glauben“ bezogen. Wir haben in unserer Musik nie versucht zu predigen. Unsere persönliche Entwicklung hat dann dazu geführt, dass wir irgendwann auch beschlossen haben, den Glauben auszuklammern und dass jedes Bandmitglied für sich entscheiden kann, was er glaubt und wie weit sein Glaube geht.
Nach mehr als zwanzig Jahren im Geschäft habt ihr euch also nicht nur musikalisch, sondern auch menschlich stark entwickelt. Würdest du sagen, dass eure Hörerinnen und Hörer einen ähnlichen Prozess durchgemacht haben?
Das kann man wahrscheinlich nicht wirklich generalisieren. Auch ist die Entwicklung bei uns als Band ja nicht wirklich geradlinig und ohne große Probleme verlaufen. Wir haben auch immer versucht, UNDEROATH mit jedem musikalischen Schwenker, den wir vollzogen haben, in eine neue Richtung zu lenken. Dabei kann ich verstehen, wenn wir nicht mehr dieselben Leute unterhalten oder begeistern können, die sich vielleicht als Fans von „The Changing Of Times“ bezeichnen würden, oder die bei jedem Album ein neues „Reinventing your exit“ erwarten. Andererseits machen wir das ja jetzt wirklich schon eine Weile, und ich muss sagen, dass ich das Gefühl habe, dass wir andererseits immer wieder neue Leute für uns begeistern können. Da sind zwar auch diejenigen, die mit 16 oder 17 angefangen haben, sich mit unserer Musik zu beschäftigen und die jetzt verheiratet sind und vielleicht eine Familie gegründet haben. In deren Leben hat sich unheimlich viel getan, und trotzdem kommen ab und zu Leute zu uns und sagen, dass wir sie begleitet und vielleicht sogar beeinflusst haben. Vielleicht haben wir 2% der Hörerinnen und Hörer auf dem Weg verloren. Aber das ist ja auch vollkommen normal und okay.
Gab es für dich Bands, die einen ähnlichen Einfluss auf dich ausübten, wie ihr ihn auf die Leute, die du gerade beschrieben hast, hattet?
Oh ja, JIMMY EAT WORLD waren sehr wichtig für uns, ebenso wie NINE INCH NAILS. Zumindest sind das die zwei Bands, auf die wir uns alle einigen konnten. Vor allem als wir selbst noch Teenager waren und noch engere Beziehungen zu Alben aufgebaut haben, weil sie einfach der Soundtrack zur damaligen Zeit waren und wir sie mit unseren Erinnerungen verknüpfen. Trent Reznor, das Mastermind hinter NINE INCH NAILS, hat sich jedoch auch sehr stark in verschiedene Richtungen entwickelt – so wie ich. Mittlerweile macht er viel Ambientsounds, etwas sehr Cineastisches. Das inspiriert mich immer noch sehr.
Ihr seid für eure energiegeladenen Shows bekannt. Was treibt euch an?
Ich würde sagen, dass das damit zusammenhängt, dass wir als eine tourende Band zusammengewachsen sind. Wir wollten immer so viele Shows vor so vielen Menschen wie möglich spielen. Das hat sich nicht wirklich geändert. Die Ansage war immer, unser Bestes auf Platte zu bringen und dann vor Leuten eine fette Show abzureißen. Manchmal artet das in Emotionen aus, die sich nur schwer beschreiben lassen. Wir wollen live alles und jeden zerstören, der sich uns in den Weg stellt. Was jetzt nicht heißen soll, dass wir das auch über die Shows hinaus verkörpern wollen. Wir lieben den Großteil der Bands, die mit uns auf Tour sind. Jedoch ist es uns enorm wichtig, auch diejenigen von uns zu überzeugen, die mit verschränkten Armen eher skeptisch im Hintergrund stehen. So als müssten wir es denen besonders beweisen. Und das auch nach mehr als zwanzig Jahren.
Mit „Erase Me“, dem Vorgänger von „Voyeurist“, habt ihr eine neue Zeitrechnung für eure Band begonnen, da beide fast komplett in Eigenregie entstanden sind. Wie kam es dazu und war es einfach, Kompromisse zu finden?
Wir waren nie eine Band, die sich einen Produzenten gesucht hat, der oder die dann Songs für uns schreiben sollte. Wenn jemand bei der Entstehung neuer Musik dabei war, ging es eigentlich nur darum, ein „neutrales Ohrenpaar“ zu haben, das uns dabei half, die richtige Richtung einzuschlagen, wenn wir uns nicht entscheiden konnten. „Voyeurist“ ist tatsächlich das erste Album, bei dem wir darauf komplett verzichtet haben. Wir sind für alles allein verantwortlich. Das war zum Teil beängstigend, jedoch auch total spannend. Während wir im Studio sind, entwickeln wir immer irgendwie automatisch eine Formel, nach der wir bei dem Album vorgehen werden. Bei „Erase Me“ gab es auch noch Teile, die Tim und mir nicht zu 100% gefallen haben. Wir haben dann aber gesagt, dass es funktionieren wird, so lange die anderen beiden zufrieden sind. Dieses Mal waren alle involvierten Songschreiber komplett auf einer Linie.
Hast du dennoch einen Favoriten auf dem Album?
Ich finde „Pneunomia“ irgendwie besonders spannend. Er hat etwas Filmisches und ist sehr dramatisch. Der Song ist in einer Zeit entstanden, als der Vater unseres Gitarristen Tim gestorben ist. Dadurch wurde es für uns alle irgendwie intensiver. Ich mag, wie dieser Song atmet. Er versprüht so ein bisschen einen NINE INCH NAILS-Vibe und klingt wie noch kein anderer UNDEROATH-Song zuvor. Grundsätzlich verhält es sich mit der Platte als Ganzes irgendwie genauso. Wir sind da, wo wir sein wollen, und haben so viel Energie wie schon lange nicht mehr.
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #161 April/Mai 2022 und Sebastian Wahle
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #67 August/September 2006 und Thomas Renz