Hier isser also endlich, mein CZ-Scene-Report... Ende 1999 begann ich mit meiner Recherche und verfolgte aus der Ferne interessiert die Aktivitäten der dortigen Szene. Wenn ich bedenke aus welcher Motivation heraus ich diesen Bericht geplant hatte, was ich eigentlich an Informationen bekommen wollte und was ich letztendlich an Informationen bekam, kann ich mich an dieser Stelle einfach nur an all die Leute im Nachbarland Tschechien bedanken, die mir in den letzten Monaten so eifrig geschrieben haben und mir diesen detaillierten Einblick in Tschechiens Underground ermöglicht haben. Dennoch, was ich in den nächsten Zeilen aufs Papier bringen werde, ist und bleibt aufgrund der Schnelllebigkeit nur ein Rückblick, denn während ich diesen Bericht verfasse, kann sich schon wieder verdammt viel Neues da draussen tun.
Zu Beginn einige geographische sowie geschichtliche Aspekte aus der jüngsten Vergangenheit: 1993 wurde das ehemalige Czechoslovakia aufgeteilt in zwei separate und eigenständige Staaten. Neben der Slowakei entstand das südöstlich an Deutschland angrenzende Land Tschechien, das derzeit etwas über zehn Millionen Einwohner zählt. Neben der Hauptstadt Prag, in der bereits über eine Millionen Menschen leben, gibt es noch einige Ballungszentren die Städte Brno, Ostrava oder Pilzen. Nachdem sich die Menschen in der damaligen Tschechoslowakei von kommunistischen Regime der 1948 bis 1989 befreien konnten, schloss sich daran ab 1989 eine Phase der politischen Neuorientierung an, die den Tschechen ein korruptes rechtsangehauchte Wirtschaftssystem bescherte, brach 1993 ein neues Zeitalter des linksgerichteten Demokratisierungsprozesses an, der bis heute anhält.
Über die Musikszene vor 1989 gibt es wenige Informationen, nur eben soviel, dass es aufgrund der politischen Situation nicht einfach war, sich als Andersdenkender, in welcher Form auch immer, öffentlich zu behaupten oder geschweige denn zu etablieren. Filip Fuchs, Labelchef von Insane Society Records, hat anlässlich eines Split-LP-Releases der beiden Hardcore/Grindcorebands MRTVA BUDOUCNOST und GRIDE 1999 einen hervorragenden Czech Scene Report geschrieben, der wiederum als Beilage zu dieser besagten Split-LP diente. Für mich war dieser Bericht auch der Ansatzpunkt, um weitere wichtige Informationen über andere musikalische Genres und alternative Lebensformen in der Tschechischen Republik zu bekommen.
Filip beginnt in seinem Bericht mit der anarchistischen Bewegung nach 1989, die zwar marginal und vor allem in Prag existent war/ist. Aufgrund eines unglaublichen Booms in der Nazi-Skinheadszene wurde auch in anderen Städten Tschechiens die sogenannte Czech Anarchist Association gegründet, die vor allem gegen den Nazimob in Form von Demonstrationen aufmerksam machte. Dies alles geschah jedoch noch vor der sogenannten "Novemberrevolution". Leider gibt es für die menschliche Dummheit keine Grenzen, denn wie auch in Deutschland, nahm und nimmt die Popularität faschistischen Gedankenguts immer mehr zu, so dass auch hier Gewalt zu einer leidlichen Form der politischen Auseinandersetzung wurde, die vor allem eine ethische Minderheit in Tschechien zu spüren bekam: die Zigeuner.
Die Popularität der rechten Irrläufer soll sogar soweit gegangen sein, dass eine Boneheadband namens ORLIK in kürzester Zeit 100.000 Platten verkauft haben muss, so dass selbst deren "Liedgut" in den tschechischen Hitparaden Aufnahme fand. Billige Kopien dieser "großartigen Vorbilder" versuchten im Windschatten dieses "Erfolgs" Fuß zu fassen und schafften es, auf sich aufmerksam zu machen und somit neues Fußvolk für ihren Irrglauben zu finden. Anarchistische Bewegungen versuchten auf diese Situation aufmerksam zu machen, aber es sollten noch einige Jahre ins Land ziehen und bis zu 25 Menschen sollen in den Auseinandersetzungen ihr Leben verloren haben, bis die Regierung, aufgrund des passiven Einsatzes der Polizei, den Mord an einem Studenten sudanesischer Herkunft auf dem Gewissen hatte, der von Naziskins 1997 umgebracht wurde. Dass in vielen Regionen die Passivität der Behörden zum Thema Rechtsradikalismus und Neofaschismus weiterhin zum alltäglichen Leben gehört, ist nicht nur, wie wir alle wissen, ein Problem in Tschechien.
Aus dieser anarchistischen Bewegung kamen dann auch diverse Druckschriften, wie Anfang der Neunziger das gesellschaftspolitische A-Kontra-Magazin. Aus der Idee, eine Zeitung namens Autonomie 1993 zu veröffentlichen, entstand später eine Organisation namens Anarchist Federation, die jedoch nur wenige Jahre aktiv war und bereits 1996 die Herausgabe der Zeitung wieder einstellte, was jedoch zu einem späteren Zeitpunkt der Anfang für ein weiteres Magazin namens Konfrontace sein sollte. Es gab in dieser Zeit noch viele ähnliche Aktivitäten im anarchistischen Bereich, aber davon übrig geblieben sind letztendlich drei aussagekräftige Organisationen, zwei davon mit Sitz in Prag: zum einen die sogenannte CzechSlovak Anarchist Federation (C.S.A.F.) aus dem Jahre 1995 mit ihrer Schrift namens Existence, sowie der Federation of Social Anarchists (F.S.A.), deren Zeitung den Namen Svobodná Práce trägt. Im Nordwesten Tschechiens fungiert eine weitere anarchistische Gruppe/Band, die sich Aktivita Cabaret Voltaire nennt. Sie haben es sich zur Aufgabe gemacht, Zines zu veröffentlichen und diese zu vertreiben, diverse Events zu organisieren und Spenden für andere anarchistische Organisationen zu sammeln und sie dienen als eine Art Zentrale bzw. Informationsstelle nicht nur für anarchistische Aktionen. Zu guter letzt noch eine weitere, erst im Jahr 1998 gegründete Gruppe namens Antifasistická Akce (A.F.A.), die sich 1999 noch mit der Herausgabe diverser Newsletter (Akce bzw. Antifa News) über antifaschistische und anarchistische Aktionen beschäftigte, gleich nach ihrem Motto "We´re political, but we don´t like politicians!" und ausserdem höchst penibel nach Aktivitäten der rechten Szene weltweit forscht.
Interessant ist der Bezug dieser Bewegungen auf die Musik, die dadurch in Tschechien entstand. Seltsamerweise habe ich in all den Schreiben kaum einschlägig bekannte westliche Bands als musikalische "Ideale" beschrieben bekommen. Nun, vor allem aus der anarchistischen Bewegung heraus, wurden sehr viele Bands in den letzten zehn Jahren gegründet, die sich im musikalischen Umfeld des Grind-, Hate-, oder Noisecore bewegen. Das Czechcore-Internet-Archiv hat bislang 333 Bands gesammelt, wovon natürlich nur noch wenige aktiv sind. Dennoch sollte man sich diese Zahl mal vor Augen halten, denn vor allem aus den musikalischen Sparten Grindcore, dem benachbartem Deathmetal und Industrial kommen die Aktivitäten gegen Faschismus, für ein ökologisches Denken, für anarchistisches Handeln und Leben.
Das Squatting in Tschechien hat sich auf zwei bekannt gewordene im Prager Stadtgebiet besetzte Häuser beschränkt, die zudem als Veranstaltungsalternative dienen: Squat Ladronka und Squat Milada. Aber nicht nur in Prag gab es Leute, die Häuser besetzten. Auch in anderen Städten wurden Versuche unternommen, die jedoch zum Scheitern verurteilt waren, spätestens wenn die Staatsgewalt mit aller Härte gegen diese Entwicklungen einschritt.
Ähnlich wie mit den besetzten Häusern ist es mit den Liveclubs, die ich ermitteln konnte. Die "Szene" spielt sich selbstverständlich längst nicht nur in Metropolen ab, allerdings scheint man hier doch mehr Publicity zu bekommen als in den kleineren Ortschaften, die nur wenig werben und ich somit diese Insidertips nicht in Erfahrung bringen konnte. Selbstverständlich ist es auch in tschechischen Fanzines üblich, über diverse Veranstaltungen zu berichten, nur fehlen hierzu leider auch in den meisten Fällen, die Details zu Straße und Hausnummer oder Postleitzahl eines Szenelokals. Einige wenige sowie auch manche Läden und Mailorder finden sich im Adress- bzw. im Internetverzeichnis.
Erwähnenswert sind auch folgende Interessensgemeinschaften, die sich mit Menschen- und/oder Tierrechten auseinandersetzen, ohne jedoch gewollt mit anarchistischen oder autonomen Aktivitäten in Verbindung gebracht zu werden. Eine Ausnahme hingegen galt dem Widerstand gegen das Atomkraftwerk in Temelin, nur wenige Kilometer entfernt von der deutschen Grenze, wenngleich sich auf deutscher Seite kaum jemand dafür interessiert geschweige denn darüber aufgeregt hat. Seltsamerweise wurde diese Kooperation mit Autonomen und Anarchisten beim Anti-WAA-Wiederstand Mitte der 80er in der Oberpfalz von der hiesigen Bevölkerung (meistens) auch gerne gesehen...
Auf tschechischer Seite sind vor allem drei Organisationen erwähnenswert, die sich für die Rechte der Tiere einsetzen: Svoboda Zvirat (Freedom For Animals) und Animal S.O.S. Ihre Hauptaktivitäten bestehen darin, in Form von Ausstellungen, Demos, Infoständen und Unterschriftenaktionen gegen sämtlichen Tiermissbrauch aufmerksam zu machen und folglich im Sinne unserer Mitgeschöpfe Verbesserungen zu erreichen. In Brno ist eine weitere Gruppe namens Nesehnutí aktiv, die sowohl für Menschen- als auch für Tierrechte kämpft. In Prag wiederum zu Hause existiert seit 1998 eine tschechische Sektion von Earth First!, die sich erst einmal zur Hauptaufgabe machte, sämtliche in Tschechien stattfindende Informationen als eine Art Zentrale für viele kleinere Umweltorganisationen zu sammeln und in Form eines Newsletters im ganzen Land zu verbreiten.
Trotz aller Schwierigkeiten in einem totalitärem System, wie es damals im kommunistischen Tschechoslowakien der Fall war, gab es bereits Anfang der 80er Jahre Bands, die mit der radiotauglichen Musik zu dieser Zeit alles andere als konform waren und Punkrock spielten. Zu den ersten Punkbands zählten laut Filip Fuchs A 64, ENERGIE G, PLEXIS, H.N.F. und Z.N.C. Die ersten Hardcorepunkbands hingegen waren TELEX, P.S., SUICIDAL COMMANDO, S.R.K., MICHAEL´S UNCLE oder KRITICKÀ SITUACE, die erst einige Jahre später gegründet wurden, sprich zu etwas "gemäßigteren" politischen Zeiten. Punkrock war hier immer ein Synonym für Underground: Gigs waren illegal, die einzelnen Mitglieder einer Punkband hatten immense Probleme mit den Autoritäten und eine Platte zu veröffentlichen war schier unmöglich. Die erste offizielle Punkrock-7" wurde erst 1988 von VISACI ZÀMEK veröffentlicht! Wie sollte es auch anders sein, wurden Punkrocker doch als Übel der Gesellschaft betrachtet und in überspitzter Weise gar als "Werkzeug des westlichen Imperialismus".
Seit 1989 jedoch hat sich diesbezüglich vieles verändert. Punk erreichte nicht nur mehr junge Menschen, das Medieninteresse stieg, man berichtete über entsprechende Band und kommerzielle Plattenfirmen fanden Interesse an manch alter Punkrockband, die daraufhin auch ihre ersten Platten veröffentlichen konnten. Natürlich gab und gibt es auch - D.I.Y. sei Dank - immer noch ausreichend idealistische Leute, die ihr eigenes Label gründen und ihr eigenes Ding machen, so dass es, wie man sich im Adressverzeichnis informieren kann, eine Vielzahl von Labels existieren, ob nun im Punkrockbereich Day After Records oder im Indie/Noise-Sektor Silver Rocket, die z.B. auch den empfehlenswerten Czech-Underground-Sampler "Ten Years Ego" 1999 veröffentlicht haben, der auch in Deutschland erhältlich ist.
Ob nun das Papagájuv Hlasatel, das zum einen als Fanzine, aber auch als Punklabel fungiert, oder Instinct Distribution, das neben seinen eigenen Produkten von Instinct Records noch viele weitere Crust-, Grind-, Hardcoreplatten vertreibt, sie und all die Individualisten, die hinter ihren Kleinstlabeln stehen, sorgen dafür, dass der Untergrund Tschechiens ans Tageslicht kommt. Aber es sind auch Aktivitäten im Gange, gemeinsam mit ähnlich orientierten Bands/Labels in Form von Splitalben in Tschechien sowie im Ausland zu veröffentlichen, so dass zu hoffen bleibt, dass der "Eiserne Vorhang", der sich scheinbar auch immer noch in den Köpfen der Verantwortlichen in der Musikindustrie (und der Plattenkäufer!) befinden muss, endlich fallen wird, und dementsprechend viele neue Bands - nicht nur aus Tschechien - mehr und mehr, auch in Deutschland Platten veröffentlichen und touren werden.
1990 öffnete sich auch für viele internationale Bands ein neuer Horizont, so dass eine Europatournee ohne einen Aufenthalt in Tschechien mittlerweile undenkbar ist. Deshalb gebe ich den Ratschlag von CITIZEN FISH auch gerne an Bands weiter, die eine Tour in Tschechien planen: Während vielleicht in Deutschland am Merchandising etwas verdient ist, muss man das hier Verdiente in Tschechien einplanen, um den Preis einer Platte dementsprechend günstiger an das tschechische Publikum zu verkaufen. Damit mich hier bloß keiner missversteht: Tschechien ist kein armes Land, aber diverse Güter sind nun einmal für tschechische Verhältnisse kostspieliger als in Deutschland. Deshalb noch ein kleiner Tip aus dem SPEICHELBROISS-Umfeld: Tapes sind eine hervorragende Alternative, um kostengünstig seine Musik an den/die Mann/Frau zu bringen, vorausgesetzt ihr seid daran interessiert, eure Musik zu verbreiten ohne damit Profit zu machen.
Seit zehn Jahren gibt es also eine wachsende Undergroundszene. Die Schwerpunkte liegen aufgrund meiner Erfahrungen durch Post, Emails und Internetrecherche ganz klar in den Bereichen Crust-, Grind- oder Hardcore. Benachbarte Musiksparten wie Deathmetal oder Industrial erfreuen sich auch sehr großer Beliebtheit. Aber auch Punkrock, Streetpunk, Oi!, Ska oder Psychosound ist durchaus vertreten, wenngleich hierbei jedoch die "Szenen" immer kleiner und familiärer werden. Über einzelne Bands zu berichten (ich erinnere an das Czechcore-Archiv von derzeit 333 Bands!) würde ganz klar den Rahmen dieses Berichts sprengen. Bei Interesse checkt die URLs der Linkliste oder schreibt per Post oder Email an ein Label, an einen Vertrieb, denn es wäre ein Unding, über all die Aktivitäten von einzelnen Bands zu berichten. Deshalb verweise ich auf Ox #39, wo bereits einige interessante Platten von tschechischen Bands besprochen wurden.
Mein großes Interesse beim Sammeln von Informationen für diesen Bericht galt vor allem der Skinhead- bzw. Ska-Szene, da ich mich einfach seit Jahren damit verstärkt auseinandersetze. Nun, bezüglich der Ska-Szene in Tschechien musste ich mich bald geschlagen geben. Lediglich eine Band fiel mir beim Lesen diverser Skinzines auf. Es handelt sich um THE CHANCERS, die im Frühjahr 2000 auch bereits in Berlin gastierten. Ansonsten scheint Ska- bzw. Punkska eher (noch?) musikalisches Niemandsland in Tschechien zu sein. Lediglich eine S.H.A.R.P.-Skin-Band namens THE PROTEST bedient sich hin und wieder Skinhead-Reggae- bzw. Ska-Rhythmen, ansonsten sind sie musikalisch mehr im Oi!- bzw. Streetpunkumfeld einzusiedeln.
Ganz anders hingegen die Aktivitäten der Skinheadkultur im Fanzinebereich. Non-political, wie sich die meisten mir bekannten Skinzines in Tschechien bezeichnen, zelebrieren sie den Spirit of 69, Oi! oder S.H.A.R.P., wie etwa das wohl bekannteste und einflussreichste Skinzine Bulldog aus Prag oder das Rytir aus Most. Betreffend Punkrock und Hardcore ist das Prager Blatt Reskator eine interessante Lektüre. Riot News, ein Zine aus Brno, ist ein ganz klar linksorientiertes Blatt. Es beschäftigt sich mit anarchistischen Themen und behandelt deshalb auch mehr Bands aus verschiedensten musikalischen Sparten, deren Grundidee aus genannter Philosophie besteht. Es gibt also reichlich Lesestoff zu Punkrock, Hardcore, Skinheadmovement, Anarchismus, Straight Edge und Umweltschutz, doch um auf alle näher einzugehen, würde es mir ähnlich ergehen, wie auch schon beim Versuch der näheren Betrachtung der tschechischen Bandvielfalt.
Leider hatte ich trotz eines zwischenzeitlichen mehrmonatigen Aufenthalts in der Nähe Tschechiens nicht die Möglichkeit, wenigstens einmal einen Club, einen Gig oder jemanden aus diesem umfangreichen Adresskatalog persönlich kennen zulernen, so dass ich eventueller Kritik mein Interesse an diesem Land und dessen musikalischem Underground entgegensetzen möchte und dieses Interesse versucht habe, so detailliert auf einen noch überschaubaren Nenner zu bringen. Auf alle Punkte genauestens einzugehen, ist in diesem Rahmen nicht möglich, denn nicht umsonst werden Interviews mit Bands, den Verantwortlichen der Plattenfirmen oder den Herausgebern von Zines geführt. Weitere Details oder Informationen über hier angeschnittene Themen nehme ich gerne via eMail entgegen: simon@punkrawk.com
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #40 September/Oktober/November 2000 und Simon Brunner