Tony „Slug“ Leeuwenburgh war eine Legende der niederländischen Punkrock-Szene. Geboren am 21.04.1963, gestorben am 07.10.2023. Über die Jahrzehnte mit zig Bands und Projekten aktiv, weltweit vernetzt. Da waren THE NITWITZ, LOVESLUG, B.G.K., THE HYDROMATICS und einige andere mehr. Ein Sänger, Gitarrist und Songwriter, den Happy Tom von TURBONEGRO mal als das größte Künstlergenie der Niederlande seit Vincent Van Gogh bezeichnet hat. Was ihm freilich über die Jahrzehnte niemand gedankt hat. Er war ein scharfzüngiger Musikologe mit klarem Blick für den wahren Rock’n’Roll, nicht der Mann für Kompromisse, und in der Folge blieb ihm nur eine eher prekäre Existenz.
Und dann im Frühjahr 2023 die Diagnose: Krebs. Es könnten noch ein paar Jahre drin sein, dachte er. Waren es dann aber nicht. Die Fertigstellung seines letzten Albums erlebte er nicht mehr, aber er nahm dsfür noch zwölf Songs auf, mit viel Unterstützung von Paul Grace Smith, einst bei DUMBELL und lange in Wuppertal und Köln ansässig, seit einigen Jahren aber wieder in seiner Heimat Detroit. Slugs Geschichte ist die von einem, der sich 40 Jahre lang abrackerte, ohne jemals Kompromisse einzugehen.
Stellt euch Folgendes vor: Es ist 1977, das Jahr des Durchbruchs von Punk. Du bist jung und willst mitmachen, mit deinem besten Kumpel eine Band gründen, jedes Squat aufmischen und vor allem schneller spielen, als eine Rakete nach Russland fliegt. Du kannst noch nicht wirklich spielen, aber das macht nichts – es ist Punk. Da kann jeder mitmachen. Und dann willst du auch noch ein Instrument – eine Bassgitarre –, aber weil du erst 13 bist und in dem Alter natürlich kein Geld hast, musst du deine Eltern bitten, sie dir zum Geburtstag zu schenken. Tony: „Meine Mutter hielt den Bass nur für ein Begleitinstrument und meinte, ich wüsste sowieso nicht, wie man Bass spielt.“
Diese Geschichte beginnt im April 1978, als Tony 15 Jahre alt wird und endlich seinen Bass bekommt. Da hat Little Slug sich bereits durch den größten Teil seiner Kindheit getobt. Er wuchs in Amsterdam Zuid auf, mit Eltern, die regelmäßig Klassikkonzerte im Het Concertgebouw besuchten. Tony ist das älteste von drei Kindern, ein fleißiger und aufgeweckter kleiner Kerl. Durch eine Laune des Schicksals kam er in Dänemark auf die Welt, sein Geburtsort ist daher nicht Amsterdam, sondern Humlebæk. Er verbringt seine Tage damit, Comics zu zeichnen – lustige Geschichten, oft mit einem düsteren Twist. Diese gewisse Düsterkeit wird ihn sein Leben lang charakterisieren, in der Art, wie er redet und wie er schreibt, und genau dieser Tony taucht auch in seinem eigenen Comic auf. Eine Graphic Novel voller Punks und Kiffer, in der ein zwei Meter großer Teenager die Hauptrolle spielt. Seine musikalische Sozialisation hat gerade erst begonnen, als er zum ersten Mal das Riff von „You really got me“ von THE KINKS im Radio hört. Es ist dieses Gefühl, etwas zutiefst Vertrautem zu begegnen, zwar noch nicht zu wissen warum, nur dass es einen für den Rest des Lebens begleiten wird, im Guten wie im Schlechten.
Sobald die Bassgitarre vom Geschenkpapier befreit ist, kann Tony endlich selbst ans Werk gehen. Zusammen mit seinem guten Freund Steven probt er im Keller von Tonys Elternhaus in der Albrecht Dürerstraat. Sein Vater suchte dort einst Schutz vor den Bomben während des Zweiten Weltkriegs; jetzt schützt der Keller die Nachbarn – und die ganze Straße – vor dem, was einmal THE NITWITZ werden soll. Tony: „Ich dachte, der Name sei ein bisschen langweilig, aber es stellte sich heraus, dass das Wort ‚nitwit‘ aus dem Niederländischen kommt; es bedeutet ‚weiß nicht‘. Ich wette, das wusstest du nicht!“
Es ist damals um 1980 herum eine seltsame Zeit für Punk. Das Genre wurde schon etwa zehn Mal für tot erklärt und befindet sich in einer Art Übergangsphase. THE NITWITZ können gerade noch den letzten Ausläufer der ersten niederländischen Punkwelle erwischen, während die zweite Welle auf dem Weg ist. Wo die Szene zunächst Musiker anzog, die Punkrock machen wollten und die Ideen von Punk cool fanden, lief es nun genau andersherum: Es sind jetzt die Punks, die sich musikalisch ausprobieren wollen. Und während die erste Gruppe von der Musik und der Direktheit des Punk angezogen wurde, geht es in der zweiten Welle vor allem um die Provokation. Tony: „Wir begannen genau inmitten dieses Übergangs.“ Wie es bei jungen Bands üblich ist, kommt es zu einigen Mitgliederwechseln, bevor sich ein stabiles Line-up herausbildet. „Zuerst hatten sie den Schlagzeuger der Schulband, aber der flog raus, nachdem er den Leiter der Schulkantine verprügelt hatte“, erzählt Marcel Verhoeven. „Dann haben sie mich gefragt, ob ich der Drummer werden will.“ Marcel spielte damals bereits in einer Band, aber in einer schlechten – und jetzt bekam er endlich die Gelegenheit aufzuholen. „Man konnte merken, dass wir eine unterschiedliche Herkunft hatten“, sagt Marcel. „Tony kam aus dem Süden der Stadt und gehörte zur Mittelschicht, ich war ein Proletarierkind aus dem Arbeiterviertel Jordaan. Das war schon an unserer Art von Humor erkennbar; während es bei uns eher derbe und zotig zuging, liebten Tony und Steven Wortspiele – so sagten sie nicht ‚amplifiers‘, sondern ‚ampli-feces‘.“
Amsterdam, die Heimatstadt der Band, verfällt zu dieser Zeit zusehends. Das Stadtzentrum ähnelt eher einem Kriegsgebiet als der heutigen Touristenattraktion; zerbrochene Fensterscheiben, vernagelte Ladenlokale und Junkies in den Hauseingängen prägen das Straßenbild. Gegenden wie das Rotlichtviertel und den Jordaan musste man damals meiden; die Lokalpolitiker würden am liebsten all die schmalen, dicht gedrängten Häuser aus dem 19. Jahrhundert abreißen und dafür übersichtliche Wohnblocks errichten. Viele Leute aus Amsterdam ziehen in das relativ nahe gelegene Purmerend oder in die Neubaugebiete von Lelystad und Almere. Das sind aufgeräumte kleine Städte, die direkt aus dem Playmobil-Katalog stammen könnten, aber wenigstens bekommt man dort noch einen anständigen Parkplatz. Doch in der Innenstadt herrscht das Chaos. Das ist für den Punk, was die Scheiße für den Bauern ist: ein stinkender, aber sehr fruchtbarer Nährboden. So gedeiht eine explosive Mischung aus Hausbesetzern, Künstlern, Studenten und Junkies oder die Kombination aus all dem.
In dieser Situation betreten die NITWITZ die Hausbesetzerszene für ihre ersten Shows. In dieser Welt hat es gerade eine drastische Veränderung gegeben. Während leerstehende Gebäude früher friedlich besetzt und ohne viel Aufhebens geräumt wurden, sickert jetzt die Punk-Mentalität in die Hausbesetzerszene ein: Die Leute beginnen sich zu wehren. Die Räumung eines Szene-Squats in der Vondelstraat im Jahr 1980 endet zum Beispiel damit, dass zum ersten Mal seit der Nazi-Besatzung wieder ein Panzer durch die idyllischen Straßen von Amsterdam donnert. Zu dieser Zeit finden NITWITZ einen idealen Übungsraum in einem besetzten Haus in Wielingen. „Ein schönes Haus, ein ehemaliges Schulgebäude“, erinnert sich Tony. „Es gab leider Unstimmigkeiten zwischen den Bewohnern, den Studenten auf der einen Seite und auf der anderen eine Biker-Gang, die an ihren Harleys bastelten. Die betrieben auch einen Coffeeshop, also hingen wir dort ab, um Kaffee zu trinken und Gras zu rauchen. Wir hatten nie irgendwelche Probleme mit ihnen.“
Zwischen den beiden Gruppen gibt es eine Art neutrale Zone, das Auditorium. Ein perfekter Ort für NITWITZ, um Shows zu veranstalten. So kommen sie auf die Idee, ein Live-Album aufzunehmen, zusammen mit GÖTTERFLIEZ, mit denen NITWITZ den Probekeller teilen, TRÖCKENER KECKS und THE EX. Tony: „Der Laden war voll, alle sind durchgedreht.“ Aber aus Gründen, die Tony nicht kennt, steigen Kecks und THE EX aus dem Projekt wieder aus, so dass es eine Split-12“ von GÖTTERFLIEZ und THE NITWITZ wird. Der legendäre Peter Pontiac soll das Cover für „Wielingen Walgt“ entwerfen. Tony: „Als wir den Entwurf von ihm abholen wollten, stellte sich heraus, dass Peter kaum etwas gemacht hatte. Vermutlich, weil er eine zu viele Drogen genommen hatte.“ Aber THE NITWITZ müssen einen Termin einhalten, also springt Tony auf sein Fahrrad, um Hasch und Speed bei den Bikern zu besorgen. Und Tony hat Glück: Pontiac liefert nach einer durchgemachten Nacht, die durch Tonys Hauslieferung befeuert wurde, ein brillantes Artwork.
Anfang der 1980er Jahre besteht Punk oft nur noch aus Herumlungern und Trinken von lauwarmem Bier; das Leben ist okay, aber Inspiration ist schwer zu finden. Tony: „Die erste Generation von Punk war großartig, aber die zweite Welle mit VICE SQUAD und so war inakzeptabel. Irgendwann liefen auf den Konzerten nur noch Sid Vicious-Kopien herum, die nicht wegen der Musik da waren. Sie saßen mit dem Rücken zur Band auf der Bühne.“ Wenn diese undankbaren angeblichen Punks von Tony nach einer langen Fahrt im Van einen Tritt verpasst bekommen, brauchen sie sich nicht zu wundern: „Spitze Stiefel. Das sollte wehtun.“
Die Szene ist also reif für Veränderungen und als die DEAD KENNEDYS 1981 im Paradiso auftreten, ist es soweit. „Diese Show war ein Wendepunkt“, sagt Tony. „Das ging also auch schneller und besser. Und die neueste Nachricht: Plötzlich brauchte man keinen Mohawk mehr!“ Das ist der Grund, warum NITWITZ, mittlerweile eine richtig gute Band, ihren Kurs ändern. „Wir waren langsam zu alt für Spaß-Punk mit Texten über Wickie den Wikinger“, sagt Marcel. Zu diesem Zeitpunkt will Tony „The Nit“ aber noch nicht auflösen: „Wir waren als Band inzwischen gut eingespielt, allerdings hatten die anderen keinen Bock mehr, mit dem Sänger weiterzumachen. Der war mehr so das Party Animal.“ Also Eric raus, René rein. Plötzlich besitzen die Texte eine echte Bedeutung und das Tempo wird deutlich angezogen. Nur der Name NITWITZ passt nicht mehr zu dem, was Tony und Co. unter dem Einfluss der neuen Generation amerikanischer Bands machen wollen. Wenn man in den USA DEAD KENNEDYS hat, will man als niederländische Band beim Bandnamen nicht hinterherhinken. Marcel schlägt „Bund Deutscher Mädel“ vor, nach der Frauenorganisation der Nazis, aber das kommt nicht gut an. Während eines Abends in der Kneipe kommt Jos Ex-Freundin mit einem genialen Vorschlag an: BALTHASAR GERARDS KOMMANDO, benannt nach dem Mörder von Wilhelm von Oranien. Abgekürzt: B.G.K. (teils auch B.G.K, mit nur zwei Punkten)
Damit treffen sie genau den Zeitgeist. Tony: „Die Gefahr eines Atomkriegs zwischen der NATO und dem Warschauer Pakt war real und die Menschen waren zu Recht sehr besorgt darüber. Die Hippie-Ära war für immer vorbei.“ Und dazu kommt noch die enorme Arbeitslosigkeit in den Niederlanden, wo du am Montag dein Zeugnis bekommst und am Dienstag Sozialhilfe beantragen kannst. Das alles ist natürlich auch Thema auf „Jonestown Aloha“, dem 1983 erschienen B.G.K.-Debütalbum. Halsbrecherisches Tempo, unerbittliche Aussagen; es ist eine Platte, die gut als die erste Explosion eines Atomkriegs durchgehen könnte. Genau wie THE NITWITZ tauchen B.G.K. für ihre Auftritte in die Welt der Squatter ab. Doch etwas hat sich geändert: Tugend und Würde scheinen die Oberhand gewonnen zu haben. B.G.K. mögen von Haus aus politisch sein, aber das scheint der Hausbesetzerszene plötzlich nicht mehr zu reichen. „Wieso wart ihr nicht bei der einen Demo neulich? Esst ihr noch Fleisch? Ihr trinkt Bier?“
Es spielt keine Rolle, dass B.G.K. und vorher THE NITWITZ wiederholt auf Benefizkonzerten gespielt haben – wobei die Motive der Hausbesetzer-Organisatoren nicht immer rein selbstlos sind; manchmal müssen einfach Rechnungen bezahlt oder die Verluste der vorherigen Benefizveranstaltung kompensiert werden, es heißt: „Wenn ihr dazugehören wollt, müsst ihr euch noch viel mehr und besser einbringen.“ Zum Glück für B.G.K. ist die Hardcore-Szene von Anfang an deutlich internationaler ausgerichtet als der Punk. Die Band tourt mit „Jonestown Aloha“ quer durch Europa, und als die Platte auch in den USA veröffentlicht wird, überquert die Band 1984 den Atlantik für nicht weniger als 35 Shows. Dort legt Tony den Grundstein für eine Reihe von musikalischen Freundschaften, die Jahrzehnte lang halten werden – wie zum Beispiel mit Jello Biafra von den DEAD KENNEDYS, mit denen B.G.K. acht Shows spielen. Daraus ergeben sich viele weitere B.G.K.-Releases in den USA auf Biafras Label Alternative Tentacles.
Die Globalisierung funktioniert auch andersherum: Amsterdam entwickelt sich dank eines Veranstaltungsorts in einem ehemaligen Lagerhaus, genannt Emma, zu einem internationalen Hardcore-Hotspot. Hier organisiert die lokale Szene ihre eigenen Shows. „Es war unser eigener Laden, mit unseren eigenen Leuten an der Tür“, sagt Tony stolz. „Es gab das legendäre RoXY, die Geburtsstätte des House, aber es war das Mekka des Hardcore. Die Leute kamen aus ganz Europa nach Amsterdam, um den kompletten Sommer in der Emma zu verbringen.“ Für Tony gibt es in diese Zeit nur Gigs, Gigs, Gigs, die Songs sind schnell, schnell, schnell. Gitarrist Steven hatte 1985 genug: Er hatte eine neue Freundin in Italien und verließ die Band. Tony wechselt zur Gitarre und fragt Mathijs Houwink, ob er den Bass übernehmen will. „Ich kannte die Jungs noch aus der Schule“, sagt Mathijs. „Tony hatte damals eine Freundin, die mich irgendwann lieber mochte, also hat sie Tony den Laufpass gegeben. Er war überhaupt nicht sauer; wir wurden auf Anhieb gute Freunde.“
Mathijs muss das gesamte B.G.K.-Repertoire innerhalb eines Monats lernen. Und das ist nicht ganz ohne, denn alles ist zehnmal schneller als sein gewohntes Tempo. Die Tatsache, dass Tony ab jetzt Gitarre spielt, hat ebenfalls Auswirkungen auf den Sound von B.G.K., denn: „Tony war schon damals ein Fan von Riffs.“ 1986 gehen sie wieder auf Tour und verbringen insgesamt nur zwei Monate zu Hause. „Wir haben damit kein Geld verdient, aber darum ging es nie“, sagt Mathijs. „Es ging nur darum, Leute zu treffen und Herzen zu gewinnen.“ Die Tour führt B.G.K. auch wieder ins New Yorker CBGB’s, dieses Mal für eine Sonntagsmatinee. So legendär der Ort auch sein mag, es ist eine von Mathijs’ weniger guten Shows: Es wimmelt nur so von New Yorker Skinheads: „Halbnackte Machotypen, die sich im Pit aneinander rieben.“
Aber während B.G.K. im Ausland erfolgreich sind und überall Respekt genießen, bleiben sie in den Niederlanden eine kleine Nummer. „Selbst 1986 war Punk hier noch nicht akzeptiert“, sagt Mathijs. Ab und an traut sich ein Veranstalter, eine Punkband zu buchen, weil ein hoher Getränkeumsatz garantiert ist und diese Bands so gut wie nichts kosten. Aber die Musikpresse und die Industrie sind weiterhin nicht interessiert. Das ändert sich erst 1987, als die BAD BRAINS zusammen mit Nick Cave im Paradiso auftreten. „Plötzlich taten alle so, als wäre das von Anfang an ein Ding gewesen“, sagt Mathijs, „doch was vor Ort lief, wurde überhaupt nicht ernst genommen. In Spanien, Italien und sogar in Deutschland war das ganz anders. Hier spielst du in einem heruntergekommenen Haus und im Ausland plötzlich in einer riesigen Halle.“
Überraschenderweise tourten B.G.K. erst 1987 in England. Mathijs: „Wir wollten in Pubs auftreten. Wir waren es gewohnt, vor netten Leuten zu spielen, aber das war dort anders, haha.“ Marcel: „Dort bekommt man nach dem Gig nicht einmal Freibier – um 23 Uhr ist alles dicht.“ Sie können von Glück reden, dass sie es überhaupt über den Ärmelkanal geschafft haben. Als die Band an der Fähre in Ostende ankommt, sind sie zu spät dran. Die Jungen befürchten, ein anderes Schiff nehmen zu müssen, aber sie werden in letzter Minute an Bord gelassen. Einen Tag später rufen sie zu Hause an, wo alle in Aufruhr sind. Die nächste Fährverbindung wäre die Herald of Free Enterprise gewesen, die kurz nach dem Auslaufen kenterte. Aber was ein Schiffswrack nicht kann, kann eine Beziehung: das Kommando stoppen. René hat eine Freundin in San Francisco und kann das nicht mehr mit dem intensiven Tourplan der Band vereinbaren. Schon seit einiger Zeit gibt es zudem Diskussionen über die Ausrichtung von B.G.K.. Tony hat neuerdings einen Job in der Band von Saxophonist Hans Dulfer, REFLUD: „Er fand Hardcore toll und sah darin als eine Form von Jazz.“ Tony stellt außerdem fest, dass man mit Musik tatsächlich etwas Geld verdienen kann. Er kauft sich davon eine Gibson Les Paul und Schlangenlederstiefel.
Tony will jetzt mit B.G.K. kommerzieller werden, aber der Rest der Band ist zufrieden damit, weiterhin in besetzten Häusern zu spielen. „Wir waren calvinistische Punks“, sagt Marcel. „Wir waren sehr moralisch: Wir tun dies nicht, wir tun das nicht. Das hat Tony nicht so viel Spaß gemacht, er ist eher ein Hedonist. Ich glaube auch, dass seine Arbeit mit Dulfer zu einem starken Fokus auf Geld geführt hat.“ „Für mich war 1987 Schluss mit Hardcore“, sagt Tony. „In Amerika hatte er sich in alle möglichen Subgenres aufgespalten – wie Straight Edge oder Metal-Crossover –, an denen wir kein Interesse hatten. Ich wollte mehr Rock’n’Roll in unserem Mix haben.“
Die allerletzte Show von B.G.K. findet in der legendären Blues-Bar Maloe Melo in Amsterdam statt, zusammen mit Hans Dulfer. Laut Marcel war es nicht gerade eine Glanzleistung. Dulfer braucht lange Songs, zu denen er seine endlosen Soli auf dem Saxofon spielen kann. Kleines Problem: Ein langer Song von B.G.K. dauert 90 Sekunden, alles im gleichen Killertempo. Dulfer hat es nicht leicht an dem Abend. Noch zu Lebzeiten hatte Tony eine Tribute-Compilation für B.G.K. erhalten. Sein Urteil? Diese Bands machen es alle falsch. „Wirklich alle. Sie wollen schnell spielen, aber sie bekommen die Riffs nicht richtig hin. Man muss die wirklich draufhaben, das hat B.G.K. so gut gemacht. Bei uns war alles genau durchdacht, nicht nur mit Vollgas gegen die Wand.“
Als es mit B.G.K. zu Ende geht, hat sich ihre Heimatstadt Amsterdam dramatisch verändert. In den letzten zehn Jahren lautete das Motto „No Future“ ... Wenn du das 1978 gerufen hast: gut. Aber es ist 1988 und du rufst das immer noch? Halt lieber die Klappe und geh deinen Hund füttern. Der Überdruss wird unübersehbar, als ein völlig neues Genre auftaucht und sich mit der House-Musik verbindet. In Amsterdam hört man nicht mehr kreischende Riffs in Zwei-Minuten-Songs mit einer angepissten, aber obligatorischen Message, sondern stundenlange DJ-Sets, die einen Vorgeschmack davon vermitteln, was für liebliche Zeiten hier auf repetitiven Beats anrollen. Viele Punks können sich mit der DIY-Einstellung der allerersten Raver identifizieren: Organisiere deine eigenen Veranstaltungen, hilf beim Tragen der Soundanlage, keine Distanz zwischen DJ und Publikum. Und im Punk auch schon lange Tradition sind die ewigen Konflikte mit den Behörden, die es mal wieder nicht kapieren.
Nein, keine Sorge. Tony verwandelt sich deswegen nicht in DJ T-Slug. Er verfolgt seine eigene Agenda. Sein Selbststudium der Wurzeln des Punk hat ihn nach Detroit geführt: zu Iggy und THE STOOGES und natürlich MC5. Bands, die gefährlich klingen und gleichzeitig eine Menge Soul haben. Mit seiner neuen Band LOVESLUG will Tony diese seelenvolle Abgründigkeit zum Ausdruck bringen – ein Ansatz, der in diesen Tagen nicht weit verbreitet ist. „Es war von Oldschool-Punk die Rede, und ich dachte, dass Tony so was wie UK SUBS meint“, sagt Schlagzeuger Frank Sloos, „aber er dachte viel weiter zurück.“ Bei der ersten Probe präsentierte Tony seinen neuen Bandkollegen die ersten Songs. Frank: „Es war eine Art Sixties-Punk. Und dann auch noch mit Soli! Daran waren wir gar nicht mehr gewöhnt.“
LOVESLUG werden schnell von Glitterhouse Records aus Deutschland unter Vertrag genommen und ihr Debütalbum „Slug ’Em All“ erscheint noch im selben Jahr, 1988. Die Platte klingt wie ein Wegbereiter für das, was sich in wenigen Jahren im großen Stil durchsetzen wird: Sleaze-Rock. Wieder einmal ist Tony mit einer Band seiner Zeit weit voraus, genau wie er mit B.G.K. Pionierarbeit geleistet hat. Und genau wie bei B.G.K. stößt die Band vor allem im Ausland auf Begeisterung. Es gibt eine Tour durch Deutschland mit 31 Shows in einem Monat – oder nein, 30 Shows, weil ein Veranstaltungsort abbrennt (nicht die Schuld von LOVESLUG).
„Wir waren ein Haufen Idioten“, sagt Tony. Zum Beispiel die Tour in Spanien. Nach einem Zwischenfall mit viel Alkohol und einem alten peruanischen Flötenspieler ist plötzlich Gitarrist Oekel verschwunden. Am nächsten Tag muss die Band für eine Show ins Baskenland fahren, aber Oekel ist nirgends zu finden. Die Band klappert sämtliche Polizeistationen und Krankenhäuser ab, doch: „No hablo español.“ „In einer Klinik legte uns ein Mann einen Stapel Fotos vor von Menschen, die in dieser Nacht ermordet worden waren.“ Doch Oekel ist leider nicht dabei, also beschließt die Band, ohne ihn zu ihrem Gig ins Baskenland zu fahren.
Es stellt sich heraus, dass es sich um einen Auftritt auf einem Dorfplatz handelt, und LOVESLUG sind die einzige Band im Line-up. Die Veranstaltung wurde als Protest gegen eine neue Autobahn organisiert, glauben sie. „Es war die ETA, die nationalistische und linksradikale baskische Separatistenorganisation“, sagt Tony. „Mit dem Fest wollten sie die Jugend motivieren,. Für uns ließen sie den Hut in einer Kneipe herumgehen.“ Die drei spielen ihre „schlechteste Show aller Zeiten“, nehmen das Geld, „ein fettes Bündel“, und machen sie um vier Uhr morgens auf den Weg nach Pamplona, um dort die Nacht zu verbringen. Unterwegs trifft die Band jedoch eine Straßensperre der Guardia Civil. In dem Moment hören sie eine Explosion; die ETA hat in dieser Nacht eine Offensive gestartet. Die Guardia bietet LOVESLUG an, sie zu eskortieren, aber die Band befürchtet, dadurch womöglich zur Zielscheibe zu werden. Also fahren sie zurück ins Dorf und schlafen im Bus auf demselben Platz, auf dem sie zuvor aufgetreten sind.
Am nächsten Morgen klopft jemand an die Scheibe. Oekel. „Er ist uns mit dem Zug nachgefahren, ließ sich ohne Ticket erwischen und hat meinen Namen angegeben, der Idiot. Natürlich habe ich das Bußgeld nie bezahlt.“ Es gibt hunderte solcher Geschichten von LOVESLUG, die davon ablenken, was wirklich los war: Tony hat wieder einmal eine Band, die anderen weit voraus ist. Erst Hardcore, jetzt ein melodischerer Stil mit mehr Verve und Soul und einer Einstellung, die zeigt, dass Tony und seine Band auf die Bühne gehören. Es sind ein Sound und eine Haltung, die später in den 1990er Jahren noch für Aufruhr sorgen werden – bei anderen Bands. Frank: „Wir haben in einem schwedischen Jugendzentrum gespielt, wo uns ein paar Teenager mit offenem Mund zusahen. Nach dieser Show wussten sie, was sie wollten – später stellte sich heraus, es waren THE HELLACOPTERS.“
Tony entwickelt seinen Sound mit LOVESLUG weiter. Bei der Platte „Snail House Rock“ setzt er auf einen cleanen Sound und nutzt ein paar Effektpedale. Das war nicht die klügste Entscheidung, weiß Frank. „Tony hat in Arnheim während des Soundchecks an seinem Equipment herumgespielt. Er reißt eines der Pedale ab und wirft es über den Rücken gegen die Wand: „Ich hasse das blaue!“ Tony: „In diesen Dingern stecken immer Haare von Leuten, die ganz vorne in der Crowd standen.“ Und so lernt Tony eine wichtige Lektion: Nichts kommt zwischen mich und meinen Marshall. Denn der macht seinen Sound unverwechselbar. „Sein Verstärker ist der brutalste Marshall, den ich je gesehen habe“, sagt sein guter Freund Marc Tilman. „Schon wenn du ihn auf eins stellst, beginnt er zu dröhnen. Einstöpseln und loslegen. Und dazu kommt noch die Les Paul aus den 1970er Jahren; jeder Ton ist knackig und klar.“
Inzwischen pflegt Tony immer engere Kontakte zu Hans Dulfer. Auf dem VPRO Tegentonen Festival im Paradiso 1990 schlägt der Saxophonist LOVESLUG vor, zusammen mit ihm unter dem Namen REFSLUG aufzutreten. „Er dachte, es würde Spaß machen, die Dinge ein bisschen aufzupeppen“, sagt Frank. „Wir haben einmal geprobt, das war genug für diese Jazz-Leute, haha. Wir haben verdammt hart gespielt und es war eine wirklich gute Kombination.“ Am Ende der Show zieht Dulfer ein Bündel Bargeld aus seiner Gesäßtasche und gibt der Band jeweils zweihundert Gulden – vor dem gesamten Publikum.
Trotz – oder vielleicht gerade deswegen, je nachdem, mit wem du sprichst – des jahrelangen reinen Rock’n’Roll-Daseins der vier Lovesluggers beginnt etwas an Tony zu nagen. Bei B.G.K. war er es gewohnt, dass ihm widersprochen wurde, während Tony bei LOVESLUG allein für alle Ideen zuständig ist. Und das nervt ihn: „Ich mag es, von anderen herausgefordert zu werden und Wege zu finden, auf eine gemeinsame Wellenlänge zu kommen.“ Dabei spielt auch eine Rolle, dass LOVESLUG lange vor TURBONEGRO Sleaze-Rock spielen. Damit finden sie (wieder mal) kein größeres Publikum, vor allem in den Niederlanden. Während sie in Deutschland auch mal vor 5.000 Leuten spielen, müssen sie sich hier mit Aufritten in Jugendzentren begnügen. Von der Presse kommt keine Unterstützung. Vielleicht hat es auch etwas mit Tonys leicht snobistischem Auftreten zu tun. Das verlangt er auch von seinen Bandmitgliedern: Das Tragen von Shorts auf der Bühne ist zum Beispiel ein absolutes No-Go.
Das Ende bahnt sich an, als bei Bassist Mike 1993 Diabetes diagnostiziert wurde. Mit einem anderen Bassisten weiterzumachen, kommt nicht infrage, denn LOVESLUG sind auch eine eingeschworene Gruppe von Freunden. Tony: „Die Stimmung war ein bisschen daneben. Es war wie in einer langjährigen Ehe, keiner hatte wirklich Lust, es gab keinen Antrieb mehr und Frank und Mike schienen sich nur noch betrinken zu wollen.“ Auf der anderen Seite kommt Tony notorisch zu spät zu den Proben und da ist es kein Wunder, wenn die Band schon eine Kiste Bier intus hat. Frank: „Nach fünf Jahren Alkoholkonsum und vier Alben mussten wir uns erst einmal erholen.“ Für die Abschiedsshow der Band kauft Manager Gerry Berthauer für vierzig Gulden Zuckerwürfel (Diabetes, du verstehst schon) und wirft sie in den Saal. „Mann, was war das für eine klebrige Sauerei am Ende“, sagt Frank. „Alle waren stinksauer, denn wer soll diesen Mist hinterher wegmachen?“ LOVESLUG auf jeden Fall nicht, denn die existieren nicht mehr.
In der Folgezeit hängt Tony zunächst faul zu Hause rum. Zwischen dem Anfang und dem Ende von LOVESLUG hat sich Amsterdam aus der Armut befreit, die die Stadt in den 1980er Jahren ins Chaos stürzte und gleichzeitig zu einem kreativen Nährboden für Punk und Hardcore gemacht hat. Die Stadt wird sauberer und ordentlicher, aber auch trister. Immer mehr Menschen finden hier Arbeit oder kaufen sogar Häuser. Und das Sozialamt wird immer strenger, wenn es um Unterstützung geht. Tony geht zum Amsterdamer Europabüro des kalifornischen Indielabels Epitaph Records, um nach einem Job zu fragen. Dort, so erinnert er sich, laufen etwa 20 junge, hippe Mädchen mit grünen Haaren und Piercings im Gesicht herum, und keine weiß, wer er ist. „Ich dachte, ich könnte dort NOFX-Platten auspacken. Das macht viel mehr Spaß als in einer normalen Firma zu arbeiten.“
Eines Tages kommen THE HELLACOPTERS in Amsterdam vorbei, ja, genau, die Jungs aus dem schwedischen Jugendclub. Sie sind auf Tour und landen an diesem Abend mit Tony in einer Kneipe. Natürlich tauschen sie Musiktipps aus; zum Beispiel fragt Dregen, der Gitarrist, Tony, ob er eine sehr obskure Gruppe kennt: SONIC’S RENDEZVOUS BAND (SRB). Das war eine Supergroup aus Detroit mit Fred Smith (MC5), Scott Asheton (THE STOOGES), Gary Rasmussen (THE UP) und Scott Morgan (THE RATIONALS). Sie brachten 1978 nur eine Single heraus, wobei sie kaum das Budget für ein anständiges Studio hatten. Im Laufe der Jahre tauchen hier und da mal Live-Mitschnitte von ihnen auf, die von ein paar engagierten Freaks fieberhaft gesammelt werden. Tony: „Sie haben mir nicht geglaubt, als ich sagte, ich hätte zwölf von ihren Kassetten.“
Dregen und seine Kollegen hätten es wissen müssen. Tony ist ein exzessiver Sammler und nach jahrelangem Studium ein echter „Riffology-Korkenschnüffler“. Marcel von B.G.K. erinnert sich, dass Tony sein ganzes Geld für teure Importe ausgab: „Diese eine CIRCLE JERKS-Platte von 1979 war nirgends mehr zu bekommen, aber Tony hatte sie. Er war wirklich ein Pionier, kannte alle Trends und hatte alle Fanzines gelesen.“ Die Tatsache, dass er eine Zeit lang ganz verrückt nach DAF war und mit B.G.K. einen Drumcomputer ausprobieren wollte, kam laut Marcel nicht so gut an: „Vergiss es, das ist nur einen Schritt davon entfernt, mich zu verjagen.“
Die Liebe des Mannes zur Musik war ein zweischneidiges Schwert. Tony findet nie etwas „ganz ok“ oder „so lala“; entweder ist es für ihn das Beste seit der Erfindung von geschnittenem Brot oder es ist totale Scheiße, und wenn Tony etwas schlecht findet, dann sollen das auch alle wissen – einschließlich der betroffenen Band. Er ist ein Straßenkämpfer, der schlechte Bands verbal mit Steinen bewirft. „Er hat einmal eine Wand mit Kommentaren zu den Bands voll geschrieben, die den Proberaum mit uns teilen“, sagt Marc. „Und sie waren alle schwer gekränkt, was auch etwas über diese Bands aussagt. Vieles davon war einfach wahr.“ Und doch kommt er mit allem durch, ein bisschen wie die Hauptfigur in seinem eigenen Comic. Er ist charmant und darf auch zwei Stunden zu spät zur Probe kommen, obwohl der Raum nur für sechs Stunden gebucht ist. Er erscheint gut vorbereitet und sprudelt über vor Ideen für Riffs. „Jeder hat eine Schwäche für Tony“, sagt Ries Doms, Schlagzeuger bei THE HYDROMATICS. „Weil er so unglaublich charmant ist. Und außerdem, wenn du so spielen kannst, lohnt es sich, dass man auf dich wartet.“
Seine extreme und entschlossene Fokussierung auf die Musik kollidiert manchmal mit den Bandmitgliedern, die daneben noch einen Job hatten. Theo Brouwer: „Ich kam nach einem harten Arbeitstag frustriert und wütend in den Proberaum und Tony sagte: ‚Ich gebe dir jetzt ein Bier aus und dann wollen wir nichts mehr von deinem Gejammer hören.‘“ Das war’s. Einmal hat Tony ein Problem mit der Managerin des Sleep-Inn-Proberaums. Er bekommt einen Brief, in dem steht, sie sollen ihre Sachen packen und verschwinden. Die Managerin hat zufällig eine Mundpartie, die an ein Kaninchen erinnert, also antwortet Tony auf die Kündigung, indem er ihr eine große Kiste Möhren schickt. Ihre Antwort? „Du brauchst mir nicht zu sagen, wie ich aussehe, aber ich fand es trotzdem witzig.“ Tonys Gemüsediplomatie hat gewirkt: Sie dürfen bleiben.
Während Tony völlig besessen ist von Geschichte, muss er feststellen, dass er selbst schon als Teil der Vergangenheit gilt. Mitte der 1990er Jahre veröffentlichen Jerry Goossens und Jeroen Vedder mit „Het gejuich was masaal“ eine Chronik der frühen Jahre des niederländischen Punk. Und obwohl Tony sich beklagt, dass er nicht zur Klasse von 1977 gehört, kann er sich rühmen, einer der allerersten Punks zu sein. Das Buch enthält auch eine CD mit Bands aus dieser Zeit, die bei Epitaph erscheint. Das ist der Anlass für einen besonderen Abend in Amsterdams kultigem Veranstaltungsort Melkweg, für den Tony THE NITWITZ wiederbelebt. Es ist die alte Besetzung, allerdings ohne Marcel am Schlagzeug. „Wir hatten damals nicht mehr wirklich miteinander Kontakt“, sagt Tony. „Und ich konnte ihn nicht erreichen, weil er irgendwo in der Schweiz unterwegs war. Im Nachhinein war ich überrascht zu erfahren, dass er da war. Er war sogar während der Show in Amsterdam.“
Der Auftritt im Melkweg ist ein großer Erfolg und trotz der langen Pause erweisen sich The Nit immer noch als gut geölte Maschine. Tony: „An dem Abend spielten außer uns nur Bands, die langweilige, stinknormale Punkmusik machten und seit 20 Jahren nicht mehr aufgetreten waren, also haben wir dem Laden das Dach weggeblasen. Die Jungs von Epitaph haben uns dann 1.000 Gulden für ein Demo gegeben. Verrückt! Und zwar mit dem legendären amerikanischen Produzenten Jack Endino.“ Die Platte selbst ist eine andere Geschichte. Eines Tages kommt Gitarrist Steven zufällig ins Büro von Epitaph und verlangt einen großen Vorschuss. „Er brauchte dringend etwas zu essen“, sagt Theo. „Ihm ging es nicht besonders gut. Irgendwann stand er vor uns, trug einen römischen Helm und sagte, er arbeite für die CIA.“ So ist Tony gezwungen, wieder auf die Gitarre umzusteigen, und bittet Theo, Bass zu spielen. „Mann, ein Traum wurde wahr. Ich hatte sie schon vor dieser Show im Melkweg im Sleep-Inn spielen hören, wo ich auch mit meiner eigenen Band THE KLIEK geprobt habe. Sie brachten den Boden immer heftig zum Beben. Ich kannte Tony bereits als anspruchsvollen Musiker; er lobte mich einmal für meine Downstrokes. Ich wusste nicht einmal, was Downstrokes sind.“
THE NITWITZ haben „Dark Side Of The Spoon“ dan in nur zwei oder drei Tagen eingespielt, ein weiteres Markenzeichen, auf das Tony ein Patent zu haben scheint. Diese Platte geisterte schon lange durch seinen Kopf. Brett Gurewitz, der Chef von Epitaph, ist von dem Albumtitel weniger angetan. Da er zu diesem Zeitpunkt mit seiner eigenen Sucht zu kämpfen hatte, kann Gurewitz über diesen typischen Sluggismus nicht lachen. Trotz der anfänglichen Begeisterung über die Wiedervereinigung von NITWITZ wird der Deal von dem Punk-Label plötzlich gekündigt. Aber so stabil wie NITWITZ einst waren, so unbeständig ist diese neue Inkarnation. Während die Band das viel gelobte Album „Dark Side Of The Spoon“ rausbrachte, hatten NITWITZ laut Tony etwa 20 verschiedene Besetzungen. Tony: „Ich hatte es so satt, allen immer wieder alles beibringen zu müssen. Und dann haben sie ihre eigenen Bands gegründet und unseren Sound kopiert.“ Nun, ist Nachahmung nicht die höchste Form der Anerkennung?
Genau wie Al Gore zählte Tony zu den frühen Nutzern des Internets. Es ist für ihn eine tolle Möglichkeit, seine internationalen Freundschaften zu pflegen. Jeder, der mal eine E-Mail von Tony bekommen hat, weiß, dass sie das Gegenteil ist von einem durchschnittlichen B.G.K.-Song, nämlich ausschweifend und wortreich. Seine Lieblingstaste ist die Feststelltaste, dann sieht es aus wie eine riesige Sprechblase aus einem Comic. Ob es um irgendwelchen Nonsense geht oder Musikvideos, die er aus den Tiefen von YouTube ausgegraben hat. Seine Mails konnten auch wortgewaltig sein; er nimmt sich ganze Tage Zeit, um sie zu formulieren. Sollte die Mail-Korrespondenz mit Happy Tom von TURBONEGRO jemals veröffentlicht werden, könnte man ihre Abhandlungen über die Sprache des Rock’n’Roll im Buchladen im Regal unter Philosophie/Lebenshilfe finden.
Tony gehört zu einer fanatischen Gemeinschaft von Vinyl- und Kassettensammlern, die wie er nach obskuren Aufnahmen längst vergessener Bands suchen. Und so empfiehlt er in einem internationalen Rockforum eine Show von THE HELLACOPTERS in Detroit mit dem Hinweis, dass die Schweden „City slang“ covern werden, ein Stück der legendären SRB aus der Motor City. In derselben Nacht wird Tony plötzlich vom Telefon geweckt, ein Schwede ist dran: „Hey Tony, hier ist Nicke [von THE HELLACOPTERS] und rate mal, wer bei mir ist? Scott Morgan.“ Der Sänger von SRB wurde von seiner Freundin zur THE HELLACOPTERS-Show geschleppt, nachdem sie Tonys Post gesehen hatte. Und jetzt hat Nicke einen wilden Plan: „Meinst du, ich sollte ihn auf ein gemeinsamenes Musikprojekt ansprechen?“ Es kann nicht schaden, ihn zu fragen – und sie bekommen ein Ja. Jetzt brauchen sie nur noch einen Bassisten. Tony kennt jemanden von den weltberühmten NITWITZ. „Ich habe so gelacht, als er mich gefragt hat“, sagt Theo Brouwer. „Du hast also Scott Morgan, Nicke Hellacopters und Tony Slug und fragst mich, einen Niemand, um diese Band zu vervollständigen?! Es versteht sich von selbst, dass ich die Chance ergriffen habe mitzumachen.“
Sie unterschreiben beim schwedischen White Jazz-Label und erhalten ein großes Budget, um ein Album aufzunehmen – eine Premiere für Tony. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass die Band aus Mitgliedern in den Niederlanden, Schweden und den USA besteht. 1999 kommen Scott und Nicke nach Amsterdam, um das Debüt von THE HYDROMATICS in weniger als fünf Tagen aufzunehmen. Tony: „Nicke war ein Schlagzeuger, der seinen Job konnte, er verstand genau, worauf wir aus waren.“ Die Platte enthält Coverversionen von Songs der SONIC’S RENDEZVOUS BAND und ein paar selbst geschriebene Stücke. „Wir waren besorgt, dass Scott unseren Sound zu hart finden würde, da er schon etwas älter ist“, sagt Theo, „aber er hat einfach mit uns gerockt.“
Sie spielen eine Show in Amsterdam und gehen mit ZEN GUERILLA und THE HELLACOPTERS auf Tour, nachdem die Platte veröffentlicht ist. Bei einem Überraschungsgig für den Bassisten von THE NOMADS in Stockholm scheinen die Sterne für Tony endlich günstig zu stehen. Theo: „Unsere Platte war gerade erst eine Woche raus und er war ganz verrückt danach. Wir spielten dort vor lauter schwedischen und norwegischen Rockstars, es war eine einzige große Party. Wir dachten: Jetzt werden wir wirklich groß rauskommen.“ Die Tournee ist ein wahr gewordener Traum, das Beste, was der Rock’n’Roll zu dieser Zeit zu bieten hat. Das Gegengift zu all diesen verspielten Pop-Punk-Bands wie THE OFFSPRING, GREEN DAY und BLINK-182, ganz zu schweigen von dem infantilen Nu-Metal, der gerade aufkommt.
Doch wie sich herausstellt, ist der Druck zu groß für Nicke. Erst muss er bei HYDROMATICS Schlagzeug spielen, dann kann er bei ZEN GUERILLA kurz mal pissen gehen, um als Frontmann von THE HELLACOPTERS gleich wieder auf die Bühne zu kommen. „Er ist ein Wunderkind“, sagt Tony, „und ein echter Rockstar in Schweden. Aber jetzt war er doch überfordert. Er hat sich geschämt, uns das offen zu sagen, und sich stattdessen nach der ersten Tour einfach verpisst.“ Tony akzeptiert das, er nimmt es ihm nicht mal übel. Sie machen mit einem anderen Schlagzeuger weiter. Die Planung wird schwieriger. „Das war nicht unsere Stärke“, sagt Theo. Aber als das Merch für die Tournee nicht rechtzeitig fertig wird, entpuppt sich Tony als Designer. In Windeseile bedruckt er zu Hause ein paar Shirts mit dem Bandlogo. Theo: „Das war großartig, wenn auch sehr amateurhaft war; riesige Schlabbershirts ohne jegliche Passform. Tony war nicht stolz darauf; es musste einfach ein bisschen Kohle reinkommen.“
Und dann gibt es noch ein anderes Problem. „Es war eine tolle Tour mit Scott“, sagt Tony, „aber er hat sich als etwas merkwürdiger Typ herausgestellt.“ Ein Beispiel: Sie fahren am Kriegsdenkmal in Verdun vorbei. Für Tony ist es „ein ziemlich intensiver Ort, wenn man bedenkt, dass hier 300.000 Mann pro Woche durch den Fleischwolf gedreht wurden.“ Nur Scott muss erst erklärt werden, was der Erste Weltkrieg war, welche Rolle die USA dabei spielten und dass sie gewonnen haben. Und ja, nach dem Ersten gab es einen Zweiten Weltkrieg. Aber komm damit nicht einem Geschichtsfanatiker wie Tony; der in dem einen Jahr, das er auf der Universität war (um Russisch zu studieren), nur in einem einzigen Fach bestanden hat, in Geschichte. Außer für Musik und Geschichte interessiert sich Tony auch für gutes Essen; doch auch auf kulinarischer Ebene läuft es nicht gut. Wenn man die Gelegenheit hat, in Spanien essen zu gehen, wird man kaum Burger und Pommes bestellen. „Ich will einfach mit den Einheimischen essen, auf den Straßen, wo die Kinder spielen und alte Frauen Garnelen schälen.“ Was hat Scott gegessen? Ja, du hast es erraten, Burger und Pommes.
Bei den Aufnahmen zu einem zweiten Album merkt Tony auch, dass Scott lieber Soul macht, während Tony wie die alten SRB abgehen will, was ja von Anfang an der Plan für die Band war. „Es ging nur noch um ‚Mr. Blue-Eyed Soul‘ und ‚Starving for love‘, diese soften Sachen. Ich fand, das war lahmer Scheiß.“ Doch es gibt noch etwas, das sich durch Tonys Karriere zieht wie ein roten Faden: sein Durchhaltevermögen. Auch wenn er von Bandkollegen enttäuscht ist, gibt er nicht gleich auf. Ob B.G.K., mit denen er Geld verdienen wollte, aber der Rest der Band gegen ihn war, oder LOVESLUG, die purer Rock’n’Roll waren, wo Tony sich aber nicht herausgefordert fühlte, oder jetzt HYDROMATICS, mit einem Sänger, den Tony verehrt, der aber auch regelmäßig seine Geduld und seinen Willen aufs Äußerste strapaziert; Tony Slug macht weiter.
Ende 2002 heuert er bei THE SPADES an als Mietmusiker. Zu diesem Zeitpunkt hat Amsterdam seine Position als Rock’n’Roll-Hauptstadt des Landes bereits an Eindhoven verloren. In der „Stadt des Lichts“ regieren Bands wie PETER PAN SPEEDROCK, 7ZUMA7 und auch THE SPADES. „Wir sind etwa zur gleichen Zeit in die Band gekommen“, sagt Schlagzeuger Ries Doms. „Das war ein schöner Zufall.“ Tony sieht das ein bisschen anders: „Ries kam zu THE SPADES, weil ich dabei war, er war damals noch so ein kleiner Hardcore-Typ.“ Damals kann man THE SPADES am besten mit einem Zitat aus „Hotel California“ beschreiben, wenn auch eher in der Jugendherbergsversion: Man kann jederzeit einchecken, aber wie man wieder rauskommt, ist eine ganz andere Frage. Mit Frontmann Denvis ist die Band mit einem Ego gesegnet, das so groß ist wie das örtliche Fußballstadion. Wenn man das mit Tonys Ego vergleicht, weiß man sofort: Das muss schiefgehen, es ist nur eine Frage der Zeit. Sie spielen eine Reihe von Shows und Tony arrangiert sogar eine EP, die in den USA mit Jack Endino aufgenommen wird. Dann ist die Kacke am Dampfen.
Wie und warum Tony THE SPADES verlässt, ist Interpretationssache. Es geht um eine Schlägerei in der Umkleidekabine, zerbrochene Gläser und ein paar andere Lügengeschichten. Als die niederländische Musikmedienplattform 3voor12 nachfragt, erzählen sie, dass sie sich wegen einer Flasche Whisky getrennt hätten. Nachdem er THE SPADES verlassen hat, arbeitet Tony bei der Post, wo er stolz verkündet, dass er alle Schlitze füllt. Theo erinnert sich noch gut an einen Abend in einem Stadtbus. Er bekommt mit, wie sich zwei ältere Frauen über die Zuverlässigkeit der Zustellung empören: Ihre Post trudelt oft erst am Sonntagabend ein. „Ich wusste sofort, dass das der Bezirk sein musste, in dem Tony arbeitete. Er war der Postbote aus der Hölle.“
Während der Aufnahmen zum letzten Album der HYDROMATICS im Jahr 2007 brach etwas zusammen. Tony: „Scott war damals ein totaler Alkoholiker, der kein Interesse daran hatte, eine Platte zu machen. Ich saß also mit Theo Brouwer, Paul Smith und Ries Doms da. Wir lebten ein paralleles Leben. Scott war so dicht, dass er schlief, wenn wir wach waren, und in dem Moment, in dem wir einschliefen, stand Scott auf, um an den Kühlschrank zu gehen.“ Mit anderen Worten: Das ist ein totaler Anti-Motivator. Das kann man auf der Platte hören. „Es sind zwei Instrumentalstücke und zwei Cover auf der Platte. Sie war nicht fertig und nicht wirklich gut.“ Und trotzdem gehen sie wieder auf Tournee. Ries: „Tourneen rauben dir die Energie. Tony hatte die Nase voll von dem ganzen Stress und dem Gefühl, wieder von vorne anfangen zu müssen. Ich habe versucht, ihm einige Produktionsaufgaben abzunehmen, denn als Naturtalent sollte er sich nur darauf konzentrieren können, Musik zu machen.“ Der Kämpfer ist des Kampfes einfach müde: Die Tour wird Tonys letzte sein. Er hat keine Lust mehr zu spielen.
Theo versucht, ihn ein letztes Mal für eine Session in Deutschland an Bord zu holen, für ein Projekt namens THE CONSULTANTS. Zusammen mit Marc Tilman und Paul Smith warten sie in einem Lieferwagen vor Tonys Haus auf ihn. „Was macht ihr Schildkröten hier?“, fragt Tony, der seine Postbotenuniform trägt, als er die Jungs entdeckt. Sie verfrachten ihn kurzerhand in den Van und fahren zu Paul Smiths Studio in Köln. Auf dem Weg dorthin will der Postbote pinkeln, was seine Entführer nicht zulassen, weil sie Angst haben, dass er sich aus dem Staub macht. „Als wir im Studio in Köln ankamen, musste er eine Viertelstunde lang pinkeln, wie ein Hund, der es drei Tage lang eingehalten hat.“ Tony verdrückt sich schließlich doch irgendwie. Er ist so demotiviert, dass er kaum noch von der Couch aufsteht. Marc: „Wir dachten, das würde sich ändern, wenn wir erst im Studio sind.“
Manche Dinge ändern sich nicht. Selbst wenn du Tony im Halbschlaf eine Gitarre in die Hand drückst, kommt immer noch Musik aus dem Mann heraus. Sie nehmen eine Handvoll Tracks mit THE CONSULTANTS auf, die trotz der dystopischen Stimmung im Studio erstaunlich gut klingen. Für Tony ist das nicht genug. Er will wieder nach Hause. „Er war so verdammt nervig, also haben wir ihn zum Bahnhof gebracht. Viel Glück.“ 45 Minuten später läuft Tony mit eingezogenem Schwanz zurück ins Studio. Mit allen Umstiegen hätte die Zugfahrt zwölf Stunden gedauert. Er würde lieber mit den Jungs zurückfahren.
In den Jahren nach dieser Session in Deutschland kommt kein einziger Ton mehr aus Tonys Gitarre. Er hat seine Gibson in die Ecke gestellt und lässt seinen Verstärker im Übungsraum stehen. Er konzentriert sich darauf, seine umfangreiche Plattensammlung und eigene Aufnahmen zu archivieren. Und er beginnt Chili anbauen, eine weitere Sache, die ihm mühelos gelingt. Tony gewinnt Preise bei Wettbewerben und bricht regelmäßig seine persönlichen Rekorde beim Scoville-Score für Schärfe. Ahnungslose Freunde, die Tonys Chilischoten gegessen haben, beschreiben das Erlebnis als einen scharfen DMT-Trip: Erst glaubst du, es bringt dich um, und windest dich in Embryohaltung auf dem Boden, dann wirst du extrem high. Theo: „Tony lag einmal hier auf der Couch und ich dachte, er würde gleich sterben. Er war leichenblass und hatte schwarze Ringe unter den Augen. Ich wollte den Krankenwagen rufen, aber er sagte, ich solle nur das Fenster öffnen. Scheint eine Nebenwirkung dieser verdammten Chilis zu sein.“
Gepfeffert ist auch seine Meinung. Während Tonys Gitarre im Koffer bleibt, scheint die Computertastatur jetzt sein Lieblingsinstrument zu sein. Nicht nur für die langen Briefe, die er mit Musikfreunden austauscht, sondern auch für die Foren. Damals lernte ihn eine neue Generation im Netz kennen, aber nicht mehr als den Punk, der mit B.G.K. und LOVESLUG Pionierarbeit leistete. Schlechte Bands müssen immer noch seine Prügel einstecken, das sind die Leute von Tony gewohnt, aber jetzt bekommen sie es auf allen Seiten zu spüren. Die Szene, die Gesellschaft, das Verhältnis der Menschen zueinander – bei diesen Themen geht Tony in die Luft und es kommt zu vielen Konfrontationen. Irgendwie ergibt sich das ganz von selbst. Nicht Tony hat sich verändert, sondern sein Umfeld hat sich weiterentwickelt und es fällt ihm schwer, mit dieser Tatsache umzugehen. Wer so kompromisslos ist wie Tony, schießt sich in der politisch korrekten Punk- und Hardcore-Bewegung heute schnell ins Aus. Er fühlt sich zunehmend isoliert, was ihn in seinem Denken bestätigt: Wenn du dir den Mund verbieten lässt, wie kannst du dich dann noch Punk nennen? Auch Ernüchterung kommt hinzu. Eine so lange Erfolgsbilanz zu haben und nicht den Respekt zu bekommen, den man verdient, vor allem im Heimatland, das würde wohl jeden auffressen. Theo: „Er hatte es so satt, dass er trotz seiner Bemühungen immer wieder gegen eine Mauer stieß. Und dann fing er plötzlich an, Videos von Schwänen zu drehen und darüber, wie schön Amsterdam ist. An diesem Punkt habe ich mich wirklich gefragt, wie es um seine geistige Gesundheit bestellt ist.“
Auch finanziell stand er am Ende mit leeren Händen da. „Tony hat der Musik ein großes Opfer gebracht“, sagt Ries. „Er hat viele Jahre lang in völliger Hingabe gelebt, aber er wurde auch ziemlich verarscht. Er hat auch nichts verdient, als er mit Sonny Vincents Band auf Tour war, und das waren bestimmt keine leeren Säle. Ab einem bestimmten Punkt hat man es satt, für 50 Dollar zu spielen.“ Rock’n’Roll ist die einzige Religion, die dich nie im Stich lässt, aber selten war Tony dem Atheismus näher als jetzt.
Es ist Theo, der Tony 2018 per Mail fragt, ob er wieder spielen möchte. Nur ein bisschen jammen, vielleicht ein paar Cover von BEATLES-Songs aufnehmen. Theo: „Er hatte seine Gitarre seit Jahren nicht mehr angefasst. Ich wollte das Feuer wieder anfachen, es wäre sonst eine riesige Verschwendung von Talent. Und dann hat es ihn wieder gepackt.“ Tony hat zwar schon eine Weile nicht mehr gespielt, aber er klingt so wie immer. Kurze Zeit später bittet er Theo, mit Cheetah Chrome auf Tour zu gehen. Theo: „Er war im Handumdrehen wieder auf der Bühne. Er hatte ein bisschen zugenommen, machte aber immer noch eine genauso gute Figur.“
Das Timing könnte nicht besser sein. Genau in diesem Moment gibt es eine Welle neuer Bands, die ihre Klassiker kennen. Während Tony selbst sich zunächst von der SONIC’S RENDEZVOUS BAND, den CIRCLE JERKS oder den RAMONES inspirieren ließ, werden Tonys Bands jetzt plötzlich selbst als Inspirationsquelle anerkannt für etliche junge Bands, die in die Szene einsteigen wollen. Eine dieser Bands sind SAVAGE BEAT aus Amsterdam. Eines Tages sehen sie einen Post von Tony auf Facebook, in dem er sie erwähnt. Meist bedeutet das ein verbales Todesurteil, nur dieses Mal nicht: „Die Hölle muss zugefroren sein, endlich eine gute Band aus Amsterdam.“ Heilige Scheiße, denken sie, das ist eine Liebeserklärung von Tony Fucking Slug. Er findet, dass etwas wirklich gut ist, das ist das erste Mal seit Jahren! Lionn van der Horst, der Schlagzeuger von SAVAGE BEAT, bittet Tony, ein Solo für ihr neues Album beizusteuern. Tony nimmt den Köder auf und geht mit der Gitarre in der Hand ins Studio des Gitarristen Steven van der Werff. Er legt sein Solo mühelos hin. Es macht Lust auf mehr. „Es gibt eine neue Generation, die die gleichen Bands hört, die ich höre“, sagt Tony. „Diese Generation weiß, worum es geht.“
Tony schickt ihnen vier Demos, die er mit THE CONSULTANTS in Köln aufgenommen hat, und schlägt vor, „etwas im Studio zu machen“. „Diese Songs haben mich sehr beeindruckt“, sagt Steven, „und überzeugt: Das müssen wir auf jeden Fall machen.“ Lionn und Steven wollen es richtig machen und zusammen mit dem Organisationsgenie Frank Kimenai schmieden sie den Plan, Tony mit einer kompletten Platte zu ehren, auf der alle seine musikalischen Wegbegleiter der letzten Jahrzehnte zu hören sind.
Das war die Initialzündung. THE TONY SLUG EXPERIENCE sind keine Band, es ist etwas viel Größeres. Etliche Songs und Ideen, die Tony herumliegen hatte, wurden schließlich zu vollwertigen Stücken. 26 Musiker:innen spielen auf dem Album mit, alte Bandkollegen (HYDROMATICS, NITWITZ), internationale Freund:innen (L7, DEAD KENNEDYS, THE HELLACOPTERS) und Newcomer (THE COVIDS, SAVAGE BEAT). Die Liste ist lang, die Songs sind Slug-würdig. Eine neue Generation kann hier noch einmal hören, was Happy-Tom einst meinte, als er Tony als das größte niederländische Genie seit Vincent van Gogh bezeichnete. Er ist ein Musiker, der mit enormer Präzision spielt, laut Marc: „Wie Joey Ramone. Egal, wie hart er rockt, es bleibt immer funky. Tony vergisst nie das ‚Roll‘ im Rock. Es hat immer einen guten Flow.“ Marcel: „Er kann spielen wie ein kleiner Gott, der Mann ist so melodiös. Er spielt eigentlich sogar Bass auf der Gitarre.“
Bei den Proben ist Tony ein Getriebener, der anderthalb Stunden über einem Riff brüten kann, bis es Slug-würdig ist. Er ist ein Perfektionist, wenn es darum geht, seine Vorstellungen auszuarbeiten, aber wenn das Band läuft, ist ein Take für Tony genug. Ries: „Was Tony macht, ist total nachvollziehbar. Er spielt es so pointiert; du hörst genau, was er spielt. Das ist Perfektionismus in Reinkultur, aber auch Rock’n’Roll.“ Während der Aufnahmen fällt den Freunden etwas an Tony auf: Er geht wieder mit erhobenem Haupt. Der Kämpfer hat seinen Glauben wiedergefunden.
Im Frühjahr 2023 entdeckt Tony eine Beule an seinem Hals. Krebs, der nicht direkt operiert werden kann. Zwischen den Strahlentherapiesitzungen wird die Platte fertiggestellt. Tony teilt seine Erfahrungen in E-Mails mit Freunden, die immer noch voller ehrlicher Beobachtungen und schwarzem Humor sind, die Tonys Stil auszeichnen. Eine Zeit lang sieht es so aus, als hätte er mit der richtigen Behandlung noch ein paar Jahre vor sich, aber das stellt sich als nicht zutreffend heraus. Er starb am 7. Oktober 2023. Zu Hause, im Beisein seiner Familie.
Er konnte mit Stolz auf sein Leben zurückblicken. Mit NITWITZ war Slug gerade noch Teil der Endphase der ersten Punkwelle, während B.G.K. als erste niederländische Hardcore-Band Pionierarbeit leisteten. In den fünf Jahren bei LOVESLUG machte er bereits lange vor den Skandinavieren Sleaze-Rock. Und mit HYDROMATICS zog Tony die Karriere von Scott Morgan aus der Gosse. Das Beste hat er sich für den Schluss aufgehoben, das TONY SLUG EXPERIENCE-Album. Tony hat es nie in den Händen gehalten, aber wir schon. Wenn Punk tot ist – was zum Teufel ist dann das?
(Dieser Text ist auf Englisch – aus dem Niederländischen übersetzt von Roxy Merrell – im Booklet der TONY SLUG EXPERIENCE-LP nachzulesen, die posthum im Frühjahr 2024 erschien.)
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Diskografie
NITWITZ: „The Scorched Earth Policy“ (12“, Vögelspin, 1981) • „Wielingen walgt“ (12“ split w/ GÖTTERFLIES, Vögelspin 1981) • „The Dark Side Of The Spoon“ (LP/CD, Get Hip, 1999) • „Sex, Lies, And Duct Tape“ (CD, Rocketdog, 2005)s • B.G.K.: „Jonestown Aloha!“ (LP, Vögelspin, 1983) • „White Male Dumbinance“ (7“, Vögelspin, 1984) • „Nothing Can Go Wrogn!“ (LP, Vögelspin, 1986) • LOVESLUG: „Slug ’Em All“ (LP, Glitterhouse, 1988) • „Snail House Rock“ (12“, Glitterhouse, 1989) • „Beef Jerky“ (LP, Glitterhouse, 1990) • „Circus Of Values“ (LP/CD, Glitterhouse, 1991) • HYDROMATICS: „Parts Unknown“ (LP, White Jazz, 1999) • „Powerglide“ (LP, Cargo, 2001) • „The Earth Is Shaking“ (CD, Suburban, 2007) • TONY SLUG EXPERIENCE: „s/t“ (LP, Suburban/Alternative Tentacles, 2024)
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #175 August/September 2024 und Philippus Zandstra