Der selbstständig denkende Mensch, der sich Konventionen widersetzt und Regeln zu brechen wagt: das war Todd Anderson im Film „Der Club der toten Dichter“. Da passt es, dass die Marburger sich genau diese Figur als Namensgeber für ihre Band aussuchten, angesichts von Hardcore-Alben, die gespickt waren mit Gesellschaftskritik. Sieben Jahre nach ihrer letzten Veröffentlichung melden sie sich nun mit „Die Stille schreit nicht mehr“ eindrucksvoll zurück. Geblieben ist die musikalische Wucht, die immer noch an Oldschool-Screamo vom Schlage ENGRAVE oder ESCAPADO erinnert. Neu sind Themen wie das Älterwerden und die Bedeutung von Musik für das eigene Leben, über die Schlagzeuger Florian Seebauer auch im Interview spricht.
Florian, was war der ausschlaggebende Punkt für euch, fast sieben Jahre nach der Veröffentlichung von „Zufluchtsort“ zu beschließen, wieder ein Album aufzunehmen?
Es sind die Liebe zur Musik und unsere Freundschaft innerhalb der Band, die der Antrieb waren, uns, obwohl wir mittlerweile über ganz Deutschland verteilt leben, erneut mit dem Schreiben der Songs zu beschäftigen. In den letzten Jahren haben wir auch recht wenig Konzerte gespielt und es war uns wichtig, dass es ein Lebenszeichen von uns gibt.
Die zehn Songs klingen atmosphärischer und offener als früher. Auch die Texte von Marco lesen sich nicht mehr so gesellschaftskritisch wie noch auf „Zufluchtsort“. Gibt es so was wie einen roten Faden, der sich durch die Platte zieht?
Alles in allem hat sich die Sichtweise, mit der wir an die Songs herangegangen sind, geändert. Jeder von uns hat in den letzten Jahren viele Erfahrungen in seinem Privatleben gemacht. Es dreht sich nicht immer alles um Musik, und auch die Gesellschaftskritik ist irgendwann mal aus den Texten gewichen und hat dann Platz für persönlichere Geschichten gemacht. Vieles auf „Die Stille schreit nicht mehr“ handelt vom Umgang und Erlebnissen mit Menschen aus Marcos Umfeld.
Fühlt es sich nicht ein bisschen seltsam an, jetzt etwas erwachsenere Themen anzusprechen, statt ätzende Kritik zu üben?
Wie schon gesagt, das war ein natürlicher Prozess, der sich auf unsere Musik bezog. Es ist ja auch nicht so, dass wir nichts zu sagen hätten. Als Privatmenschen sind wir weiterhin kritisch und aktiv. Vor allem in den heutigen Zeiten ist es wichtig, für eine Sache einzustehen, die man als wichtig erachtet. Vielleicht hat sich jetzt die Plattform geändert. Wir können heutzutage direkt auf Ungerechtigkeiten aufmerksam machen, wenn sie entstehen, und müssen nicht erst einen Song darüber schreiben.
Welche Textzeile auf „Die Stille schreit nicht mehr“ ist für dich die Wichtigste?
Das ist „Doch der schönste aller Verse blieb / Dieser eine, den ich nie zu Ende schrieb“ aus „Leuchtturm“, meinem Favoriten auf der Platte. Dieser Song klingt für unsere Verhältnisse sehr harmonisch und schön. Ich kann dir gar nicht genau sagen, warum es gerade diese Zeile ist. Sie klingt sehr stark und hoffnungsvoll.
Ich habe gelesen, dass du eure Musik als Altherrenpunk bezeichnest. Wie meinst du das?
Ich vergleiche das gerne mit dem entsprechenden Begriff aus dem Fußball: Bei uns auf dem Dorf gibt es Altherrenmannschaften für die Kicker, die sich nur noch des Spaßes wegen treffen, um zu spielen. Das sind Leute, die seit Jahren zusammengehören und schon einiges miteinander erlebt haben. Wir haben unserer Musik schon viele komische Namen gegeben: Marburger Schule, Denkerstirn-Hardcore und auch Feierabendpunk. Auf unseren Konzerten sind wir meist die Ältesten. Viele von den Bands, mit denen wir unterwegs sind, haben wahrscheinlich viel mehr Zeit, weil sie noch studieren oder so was. Wir sind jetzt in einem Alter, in dem es uns hauptsächlich darum geht, mit unseren Freunden Musik zu machen und Konzerte zu spielen. Wir müssen es niemandem mehr beweisen.
Wie kam die Zusammenarbeit mit Midsummer Records zustande?
Wir haben die Platte zusammen mit Lukas Wiesemüller, dem Gitarristen von ASHES OF POMPEII, aufgenommen und deren Sänger Tobi hat ein paar cleane Parts eingesungen. Als es darum ging, zu überlegen, wo wir „Die Stille schreit nicht mehr“ veröffentlichen könnten, brachten die beiden sofort Tim und Midsummer Records ins Spiel.
Stand es für euch je zur Diskussion, die Platte ausschließlich digital zu veröffentlichen?
Da wir alle passionierte Vinyl-Liebhaber sind, und dazu noch gefühlt aus einer Zeit kommen, als es ohne physische Tonträger gar nicht ging, stand die Überlegung, die Platte nur digital zu veröffentlichen, ganze fünf Minuten im Raum. Wir haben auch über den Umfang der Veröffentlichung gesprochen und es standen eine 7“, 10“oder sonstige kleinere Formate zu Debatte. Schlussendlich haben wir uns dann aber die Zeit genommen und ein ganzes Album produziert.
Welche der beiden Äußerungen gefällt dir besser: „Die Stille schreit nicht mehr“ ist eine „Platte, in die man sich reinarbeiten muss“. Oder dass es sich um eine „Aneinanderreihung von Hits“ handelt?
Das ist eine schwere Frage. Selbst ich – der die Platte wohl am meisten gehört hat – entdecke jetzt noch Kleinigkeiten, die mir vorher nicht aufgefallen sind. Wir machen auf „Die Stille schreit nicht mehr“ genau das, was wir an Musik lieben. Durch das Wechselspiel von brachialen Stellen und dem hauptsächlich geschrienen Gesang, glaube ich schon, dass wir es dem Hörer gar nicht so leichtmachen. Unser Ziel war es, eine spannende Platte zu machen, die von Herzen kommt. Vielleicht sollte man sich ein wenig Zeit lassen, um in die Songs einzutauchen und die Atmosphäre zu spüren.
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