Sphärische Songs, düstere Texte und ein herrliches Wechselspiel der Emotionen. Genau das bieten TINY VOICES aus dem französischen Angers auf ihrem Debütalbum „Erosion“. Mit einem Mix aus modernem Post-Hardcore, schnellen Punkrock-Anleihen und treibender Emo-Kante liefert das Quintett eine sensationell gute und frisch klingende Platte ab. Sänger Flo erklärt uns, warum es an der Zeit war, die Vorgängerband an den Nagel zu hängen und einen radikalen Neustart zu wagen.
Bis 2016 wart ihr noch als WANK FOR PEACE unterwegs und habt mehr als 500 Shows in ganz Europa gespielt. Warum habt ihr euch damals aufgelöst und wie kamt ihr auf die Idee, mit einer neuen Band zurückzukehren?
Wir haben 2016 aufgehört, weil wir das Gefühl hatten, alles geschafft zu haben, was wir mit der Band erreichen wollten und konnten. Wir alle hatten damals das Bedürfnis, noch mal etwas Neues im Leben auszuprobieren. 2019 ließen wir uns zwar noch einmal dazu überreden, ein paar Konzerte zu spielen, und es war auch wirklich toll, aber es hat uns definitiv klar gemacht, dass die Zeit mit WANK FOR PEACE einfach vorbei war. Trotz allem haben wir ja nach wie vor gerne zusammen Musik gemacht und somit schien es nur konsequent und richtig zu sein, gemeinsam eine neue Band zu gründen. Wir haben gleich nach dem Neustart angefangen, neue Songs zu schreiben, ohne Druck, ohne konkrete Pläne. Und das ist genau das, was wir mit TINY VOICES auch weiterhin machen wollen.
Wenn du TINY VOICES und WANK FOR PEACE miteinander vergleichst, wo liegen für dich die Hauptunterschiede?
Für uns ist es definitiv eine neue Band, ein kompletter Neuanfang. Ich denke, es hat vor allem etwas mit der allgemeinen Stimmung zu tun. Wir sind alle älter geworden, wir sind alle etwas ernüchtert und weniger optimistisch als früher – und das schlägt sich auch auf die Musik nieder. Aber es wäre auch gelogen zu behaupten, TINY VOICES hätten gar nichts mehr mit dem zu tun, was uns vorher musikalisch interessiert hat. Der größte Unterschied ist die breitere Palette an Einflüssen, was meiner Meinung nach den Songs richtig viel Dynamik verleiht. Die wütenden Songs sind noch wütender und die melodischen noch melodiöser. „Erosion“ fühlt sich jetzt wirklich wie das Debütalbum einer ganz neuen Band an. Es gab für uns alle keinen Grund, noch länger in der Vergangenheit festzustecken.
Das Album ist bei Gunner erschienen. Wie kamt ihr zu einem deutschen Label?
Unser Freund Thib von Pressure Booking hat uns geholfen, Kontakt zu Labels herzustellen, nachdem wir das Album aufgenommen hatten. Unter anderem schickte er die Songs auch an Gunner und – zack! – here we are. So einfach ist das. Leider haben wir Gunnar bislang noch nicht persönlich kennengelernt. Aber jetzt, wo das Album draußen ist und wir wieder Shows spielen, hoffe ich, dass das bald passiert, damit wir uns richtig bei ihm bedanken können. Das Album wird zeitgleich in den USA von Say-10 und in Frankreich von Useless Pride veröffentlicht. Gunner arbeiten schon länger mit Say-10 zusammen, also war es eine ziemlich unkomplizierte Angelegenheit. Useless Pride stehen normalerweise eher auf Hardcore-Sachen, aber sie haben das Album sofort geliebt. Sie sind einfach gute Freunde von uns.
Wie du bereits erwähnt hast, fällt bei den neuen Songs sofort die große Bandbreite an verschiedenen Elementen auf, die ihr miteinander verbindet. Meiner Meinung nach ist „Erosion“ eine punktgenaue Mischung aus Post-Hardcore, Punkrock und einer Prise Midwestern-Emo.
Unser Schlagzeuger und unser zweiter Gitarrist kamen damals etwas später zu WANK FOR PEACE, unserer früheren Band, und sie standen eigentlich gar nicht auf Punkrock und haben sich auch nie richtig dafür interessiert. Ich denke, mit der neuen Platte haben wir endlich die Tatsache akzeptiert, dass wir alle unterschiedliche Sachen hören und man diese auch gut miteinander in Einklang bringen kann. Wir stehen zum Teil total auf Post-Punk und Garage-Rock, zum Teil auf Bands wie ALEXISONFIRE oder EVERY TIME I DIE, einige schwärmen für die MENZINGERS oder sind total auf TOUCHÉ AMORÉ abgefahren. Aber wir waren schon immer irgendwie super schlecht darin, etwas genauso zu machen, wie es andere machen würden. Also haben wir es gar nicht erst versucht. Wir haben probiert, bei dieser Platte einen Weg zu finden, etwas zu schreiben, das uns allen fünf gefällt. Etwas, wo jeder von ganzem Herzen dahintersteht.
Besonders auffällig finde ich die gute Produktion. Sie klingt ziemlich sphärisch und hat trotz ihrer Klarheit noch ganz schön viel Rotz und Härte zu bieten. Irgendwie erfrischend anders.
Ja, wir sind auch super happy mit dem Resultat und unserem Produzenten Amaury Sauvé mega dankbar. Es ist so toll, was er aus den Sachen noch herausgeholt hat. In seinem Studio The Apiary in Laval haben wir schon mit WANK FOR PEACE zwei Alben aufgenommen, und es war keine Frage, dass wir diesmal wieder zu ihm gehen – zumal keiner von uns gut genug wäre, selbst etwas aufzunehmen. Aber Amaury ist ein vielbeschäftigter Mann, wir hatten die Studiozeit sogar schon gebucht, bevor wir mit den Songs überhaupt so weit waren. Das Aufnehmen hat wieder riesigen Spaß gemacht. Es war fantastisch, zwei Wochen lang mit Freunden in einer Bubble Musik zu machen, während die Welt so gut wie stillstand.
„We are together alone“ singt ihr im Refrain von „The ridge gets thinner“ – ein Satz, der sich im übertragenen Sinne wie ein roter Faden durch das ganze Album zieht, denn eure Texte sind sehr düster, handeln viel von Frustration. Was treibt euch an?
Weißt du, es ist ein riesiges Durcheinander von allem, was in meinem Leben und dem Leben anderer um mich herum so passiert ist, während ich fast sechs Jahre nicht mehr geschrieben habe. Ich finde angesichts der gegenwärtigen Probleme auf der Welt, wie beispielsweise sexueller Gewalt, sozialen Disparitäten oder dem wiederaufkeimenden Faschismus, kann man schnell den Mut verlieren und sich förmlich unter einem Haufen Scheiße begraben fühlen. Wenn man dann aber einen Weg findet, sich dagegen zu stemmen und nicht einfach alles so hinnimmt wie es ist, dann kann es einem genau das kleine bisschen Energie zurückgeben, um weiterzumachen. Genau dieses Gefühl spiegelt sich auf unserem neuen Album wieder.
Lass uns mal über die alternative Musikszene in Frankreich sprechen insbesondere in Angers. Was ist da aktuell los?
Also die meisten von uns haben sich in den letzten Jahren tatsächlich ziemlich weit von der eigenen Musikszene entfernt, was aber auch mit den Umbrüchen in unser aller Leben zu tun hatte. Davon abgesehen ist hier aber eine Menge los – es gibt eine riesige Punk-Szene mit tollen Bands wie SYNDROME 81, LITOVSK, YOUTH AVOIDERS und vielen mehr. In Angers, unserer Heimatstadt, gibt es eine großartige neue Band namens FRAGILE, die dieses Jahr ihr erstes Album veröffentlichen wird. BIRDS IN ROW sind für mich immer noch eine der besten Bands der Welt und Quentin Sauvé, ihr Bassist, hat gerade ein wunderbares Soloalbum rausgebracht. Momentan geht hier wirklich viel ab, die Post-Corona-Ära hat gerade erst begonnen!
Hat die französische Veranstaltungsbranche unter Corona genauso gelitten, wie wir hier in Deutschland? Zögern die Leute vielleicht noch, wieder Live-Shows zu besuchen?
Was den Mainstream-Bereich angeht, war es wirklich hart, ja. Für die, die in dieser Branche arbeiten, gab es während der Pandemie aber auch Hilfe von der Regierung. Aber jetzt, da die Unterstützung ausgelaufen ist, müssen viele Veranstaltungsorte doch noch schließen und sogar Festivals werden abgesagt. In der DIY-Szene sieht es zum Glück etwas besser aus. Die Leute waren ziemlich schnell wieder da und die Shows voll, die waren echt hungrig auf Live-Musik. Dennoch habe ich das Gefühl, die Pandemie hat bei vielen Leuten dazu geführt, ihr Engagement zu überdenken und ihre Lebenspläne zu ändern. Es findet gerade eine Art Generationenwechsel statt und jüngere Leute übernehmen das Ruder, machen manche Dinge anders. Das ist irgendwie aufregend.
Zu guter Letzt: Was steht auf dem Programm, werdet ihr wieder auf Tour gehen?
Ja, auf jeden Fall! Aber wir machen es mit der gleichen Haltung, mit der wir die Band gegründet haben: kein Druck, keine Pläne! Wir haben super viel Spaß, aber die Band ist nicht mehr unsere absolute Priorität. Klar wollen wir immer noch viel live spielen, aber es geht jetzt mehr um die Qualität und nicht um die Quantität. Wir wollen im Juni eine kleine Tour in Frankreich machen und im Juli kommen wir wahrscheinlich zu euch nach Deutschland. Das wird klasse! Danach mal abwarten, was das Jahr noch bringt.
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