TIN CAN ARMY

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Fucking Malzbierfront

TIN CAN ARMY gründeten sich 1982 in Göttingen und veröffentlichten schon 1983 auf Mülleimer Records ihre Split-LP mit MANIACS. Ihr krachiger Anarcho-Hardcore-Punk mit seinen klaren politischen Aussagen fasziniert mich bis heute. Songs wie „Guten Morgen BRD“, „TCA“, „Verweigerung total“ oder auch „OiOiOi Naziskinheads“, besser bekannt unter dem Titel „Dead born babies“, haben für mich nichts an Bedeutung verloren. Und den ehemaligen Bandmitgliedern – Thomme, Schlagzeug, Steve, Gesang und Hugo, Gitarre – ist die Band noch wichtig genug, um das Interview persönlich führen zu wollen. Dafür nahmen sie den stundenlangen Weg von Göttingen nach Köln auf sich, um mit uns über ihre Zeiten mit der „Blechbüchsenarmee“ zu sprechen. Nicht dabei war der Bassist Miele. Das folgende Interview ist nur ein Ausschnitt aus dem stundenlangen Gespräch und, nicht zuletzt vom Menschlichen her, eines der tollsten Interviews, das ich in gut dreißig Jahren geführt habe ...

Wie seid ihr seinerzeit auf Punk aufmerksam geworden und wann hat euch das Virus selbst erfasst?
Hugo:
Es ging bei mir erst mal über die Musik, das waren die ganz frühen Bands wie BLONDIE oder RAMONES. Das war so im Januar 1978, da war ich 14. Zunächst weil die Musik anders war. Und als CLASH kamen, hat man sich auch mit den Texten auseinandergesetzt.
Thomme: Wir waren zufällig auch alle auf der gleichen Schule. Und Steve war der erste Punk da. Und er hat mich damals damit schwer beeindruckt, wie auch die Sachen, die Hugo gerade genannt hat. Wir waren eher so Landeier, kommen aus dem Umkreis von Göttingen und sind alle in Göttingen auf eine Schule gegangen. Und wir sind dann doch schnell auf den Zug aufgesprungen.
Steve: Aber nur weil so ein Vogel auf der Schule herumrennt, das reicht ja nicht. Man muss schon offen dafür sein.
Thomme: Natürlich. Es war ja bei allen das Gefühl da, anders sein zu wollen.
Steve: Ich war letztlich spät dran. Ich bin ja älter als die anderen. Ich bin durch meinen Bruder zum Punk gekommen. Der Hintergrund war ein sich auflösendes Familiengefüge. Und die Lücken, die da entstehen. Mein Bruder war immer ein Sucher und sehr offen für alles. Über den bin ich so 1978 mit der Musik in Berührung gekommen. Zuerst die englischen Sachen – das hat echt geschmeckt. Nach Leben, nach Freiheit, nach Zukunft, nach Reibung, nach Leidenschaft, nach dem, was ich alles vorher gar nicht kannte. Mein Leben war toll vorher, aber beim Punk waren ganz tolle Versprechen dabei – und da war es ganz schnell wieder damit vorbei.
Hugo: Ich habe damals parallel auch andere Musik gehört.
Thomme: Auf unserer Schule bildete sich ganz schnell eine Community. Wir haben auch ganz schnell die Stadt-Punks kennen gelernt und das war eine ganz schöne Sache. Man hat sich an der Gänseliesel, dem Mittelpunkt von Göttingen, getroffen.
Hugo: Zu dieser Zeit gab es das Juzi noch nicht, das später unseren Lebensmittelpunkt darstellen sollte. Bis dahin hat man sich eben in der Stadt getroffen oder auch im MILZBRAND-Übungsraum.

Steve hat das eben angesprochen, Punk als Lebensgefühl. War das für euch auch so?
Hugo:
Punk als Lebensgefühl kam nicht sofort, jedenfalls nicht 1978. Wir haben zu der Zeit auch noch alle auf unserem Dorf gewohnt, ein Dorf mit 450 Einwohnern. Als das losging mit Haare abschneiden und kaputten Klamotten, war das zu Hause auch nicht mehr lustig. Meine Eltern hatten eine Kneipe, mein Vater war Bürgermeister für die Spezialdemokraten – der fand das überhaupt nicht lustig. Ich habe mich davon nicht beeindrucken lassen und war ab da halt weniger zu Hause. Ärger mit der Dorfjugend gab es nicht. Im Gegenteil, es entstand schnell eine Gruppe von jüngeren Leuten, die das auch cool fanden und auch auf die Konzerte nach Göttingen fuhren, wie mein jüngerer Bruder. Der ist zwei Jahre jünger als ich und war von Anfang an dabei, der hat auch die ersten BUTTOCKS-Singles gehabt. Die Kids haben eher viel mehr damit sympathisiert und haben eine Band namens WARSCHAUER PAKT gegründet. Die haben damals mit in unserem ersten Übungsraum geprobt.

Was bedeutet euch Punk heute?
Thomme:
Das ist natürlich eine schwierige Frage. Wir haben das immer noch in unserem Herzen, wie es so schön heißt. Wir müssen nicht mehr provokant herumlaufen, das war zu der Zeit. Die meisten Punks sind mir erst einmal grundsätzlich sympathisch, klar gibt es auch eine Menge Idioten.
Hugo: Punk war die prägendste Zeit meines Lebens, da ist natürlich viel geblieben. Klar lebe ich jetzt ganz anders; arbeiten gehen und so einen Scheiß. Man macht jetzt vieles anders und hat sich in vielen Bereichen prostituiert. Aber es ist auch viel im Herzen geblieben.
Steve: Eigentlich ist eher die Frage, was hat es damals bedeutet, was hat damals so fasziniert, was hat es ausgemacht. Wenn du da an der Achse langgehst, wie hat es sich entwickelt? Da ist zum einem unsere Biografie, aber auch das Phänomen an sich, also dieser kulturelle Strahl. Und wo steht er jetzt. Da habe ich wenig Schmeichelhaftes von außen zu sagen. Ich würde auch grundsätzlich sagen, die Zeit ist vorbei. Es hat überhaupt keine Strahlkraft mehr und keine gesellschaftliche Relevanz. Ich kann zwar trotzdem verstehen, dass sich junge Leute dafür interessieren. Und all die ganzen jungen Leute, die ich aus der Punkrock-Szene kenne und die ich alle ganz zauberhaft finde, sind für mich wie die ganzen alten Rock’n’Roller, über die wir uns damals bepisst haben.

Gab es von eurer Seite aus von Anfang an die Idee, Musik zu machen? Und wann habt ihr angefangen? Und wer war auch bei SONDERLEISTUNG dabei?
Steve:
Ich war immer ein Hanns Guck-in-die-Luft gewesen, hatte nie eine Ahnung worum es geht, da kommt Thomme an, und fragt, ob wir nicht eine Band gründen wollen. Ich war zwar vorher bei KRÄTZE dabei, habe zehnmal mit denen geprobt, beim ersten Konzert war ich krank und dann haben sie mich rausgeschmissen. Aber das war für mich nicht ernsthaft eine Band zu haben. Ernsthaft fing das erst mit TIN CAN ARMY an. Ich wäre alleine nie auf die Idee gekommen, eine Band zu gründen. Ich bin sozusagen verführt worden. Das war vor und während SONDERLEISTUNG. Also 600 verschiedene Bands in drei Tagen mit 45 verschiedenen Namen, du kennst so was ja ... haha.
Hugo: Am längsten gab es ja NEROS oder DIE LUSTIGEN MUSIKANTEN oder EWING OIL COMPANY – oder was für Namen ihr da alle hattet. Ein paar weiß ich noch ... Das erste große Konzert, an das ich mich in Göttingen erinnern kann, war von HANS-A-PLAST, das war so 1981/82, dann BUTTOCKS, da haben auch die NEROS mitgespielt. Da haben wir schon CATERPILLAR gehabt, das war vor SONDERLEISTUNG und dann kam TIN CAN ARMY.
Steve: Ich habe noch mit Peter und Kai von BLUTVERLUST, die später MANIACS gründeten, Musik gemacht.
Hugo: Es gab noch VERRÄTER mit Peter, Xocks, Thomme und mir – also eine Hälfte MANIACS und eine Hälfte TIN CAN ARMY. Wir haben genau ein Konzert gespielt, und zwar in Duderstadt zusammen mit BLUTVERLUST.
Steve: Irgendwie haben sich die alten Bands aufgelöst und neu gruppiert. Und so entstanden die MANIACS und wir als TIN CAN ARMY im September 1982.

Wer hatte die Idee zu eurem Namen – TIN CAN ARMY, also Blechbüchsenarmee? Und was bedeutet er für euch?
Steve:
Ich war als Kind ein großer Fan der Augsburger Puppenkiste, damals noch in Schwarzweiß im Fernsehen. Und die Blechbüchsenarmee in „Gut gebrüllt, Löwe“ hatte es mir angetan. Die unterstützen ja erst den bösen Großwesir, und irgendwann sehen sie ein, dass der ein Böser ist. Und sie wollen eigentlich für das Gute kämpfen und wechseln die Seiten und sorgen so dafür, dass das Gute gewinnt. Diese schlichte Analogie hat mich so fasziniert und so habe ich „Blechbüchsenarmee“ als Namen vorgeschlagen. Und Miele hat gefragt, wie das auf Englisch heißt – TIN CAN ARMY. Und das war es dann. Der Name spricht sich gut aus, klingt nicht so deutsch wie „Kanalrattenkotzeschleim“, einfach sexier. Obwohl die Aussage schlicht ist und die wenigsten die Botschaft erreicht haben dürfte.

Welche Einflüsse hattet ihr?
Hugo:
Inhaltlich auf jeden Fall CRASS ...
Thomme: Die ganzen britischen Anarcho-Bands eben ...
Hugo: Und wir hörten ja auch Bands wie DEAD KENNEDYS und die ganzen US-Sachen. Die frühen deutschen Sachen wie BUTTOCKS, der Sound aus England, der recht früh angefangen hat zu langweilen – bis Bands wie SUBHUMANS, ANTISECT oder RUDIMENTARY PENI kamen. Aber zu Anfang haben wir das gespielt, was wir spielen konnten. Nachher bei TIN CAN ARMY waren wir schon weiter, da waren es textlich auf jeden Fall die genannten Bands und auch ihre Haltung!
Steve: Ein wichtiger Einfluss für mich waren CRASS und auf der anderen Seite CLASH. Ich fand CLASH unheimlich attraktiv; von ihrem Outfit, ihrer Bühnenpräsenz her und wie sie sich vermittelt haben – das ganze Paket. Inhaltlich waren mir die ganzen Anarcho-Bands ganz nah. Musikalisch konnten wir zunächst gar nichts – wie es sich eigentlich auch gehört – und haben das gemacht, was wir konnten. Wir haben uns an den Bands, über die wir gerade schon gesprochen haben, orientiert, ein bisschen deutsche Sachen, England-Punk, ein bisschen Anarcho ...
Hugo: Wir waren auch von Anfang an ganz klar antifaschistisch.

Wo habt ihr geprobt und wie oft?
Steve:
Den Großteil unseres Bestehens haben wir im Juzi in Göttingen geprobt, so ab 1983. Vorher sind wir untergekrochen, wo es ging, in Jugendzentren, bei meinen Eltern und in privaten Räumen, in einem Raum sind wir mal von den Bullen rausgehauen worden. Und als das Juzi 1982 gegründet wurde, haben wir uns als erste Band eingezeckt – als erste Nicht-Rockband. Das hat nur ein paar Wochen gedauert, dann gab es da nur noch Punkrock-Bands. Wir haben geputscht, sozusagen.
Hugo: Das war unser Privileg, weil wir die erste Punkrock-Band im Juzi waren. Wir hatten zwei Termine in der Woche und nachher probten da zwanzig Bands. Los ging es wirklich mit den Proberaum im Jugendraum in Erbsen, auf dem Dorf mitten auf dem platten Land. Wir probten ohne Schallschutz. Da kamen auch öfter MANIACS beziehungsweise der Vorläufer BLUTVERLUST vorbei. Die Nachbarn hatten echt Schiss ...

Wie sah die Punk-Szene in Göttingen aus? Ich habe 1987 während einer Tramptour auch mal besoffen an der Gänseliesel, dem Brunnen in der Innenstadt, gesessen ...
Steve:
Das ist eigentlich eine ähnliche Geschichte. Da war zuerst wie bei allen einmal die Innenstadt. Das war im Wesentlichen die Gänseliesel, da gab es noch ein oder zwei Lokale, das Center oder das Omega. Das hat sich komplett geändert, als das Juzi erobert wurde. Das war ja eher von alternativen Leuten gegründet worden, einer Jugendzentrumsinitiative. Das Juzi hat im Sommer 1982 eröffnet. Und ein Jahr später war das die Schaltzentrale – nicht nur der Punk-Szene. Das war das Schöne an Göttingen. Es gab nicht nur die Punk-Szene, es gab die Freak-Szene, eine Antiimp-Szene, eine Häuserkampfszene, eine Anarchoszene ... Und die haben sich alle am Juzi angedockt. Das war ein sehr großes Umfeld von mehreren hundert Leuten, auch militanten Leuten – und das hat sich gegenseitig sehr befruchtet. Das hat für ein paar Jahre richtig pulsiert. Und in diesem Kontext hat sich diese Punk-Szene auch gesammelt und gefunden.
Hugo: Davor waren es MILZBRAND, die damals einzige Punkband in Göttingen neben BAUKNECHT, einer Frauen-Punkband. MILZBRAND waren Leute in unserem Alter, die hatten einen eigenen Übungsraum, da haben wir auch ein paar Mal geprobt, bis das Juzi kam. Zu Beginn durften wir im Juzi einmal in der Woche Platten auflegen, sind auch schon mal rausgeflogen und irgendwann sind sie uns nicht mehr losgeworden. Die Hippies waren irgendwann weg, ebenso im Übungsraum wie im Juzi.

Exzessiver Alkohol- und Drogenkonsum in der Punk-Szene – war das der Grund für den Song „Nestbeschmutzer“?
Hugo:
Es war eben oft nicht so toll, wenn wir auf Konzerten unterwegs waren. Die Leute, die die Konzerte veranstaltet haben, waren cool drauf. Aber die Hälfte des Publikums – die sahen genauso aus wie wir, hörten die gleiche Musik wie wir, aber mit denen hatten wir eigentlich gar nichts zu tun. Das hat uns oft gefrustet. Aber der Text von „Nestbeschmutzer“ ging auch gegen uns, weil wir selbst öfter auch das eine oder andere Bier zu viel getrunken haben oder auch gekifft haben. Eine Zeit lang war das bei uns mal anders, als wir eine Weile drauf verzichtet haben, wurden wir von den anderen „Fucking Malzbierfront“ genannt.
Thomme: Der Text ist auf jeden Fall sehr spannend. Die Ursprungsversion war so, dass der Song drei Strophen hatte und eine ging jeweils über oder auch gegen einen von uns. Wir fanden das ziemlich hart, dass Steve, der unsere Texte geschrieben hat, uns da so hart wegen Kiffen und Alkohol kritisiert hat. Und dann hat er den Text verändert und verallgemeinert. Aber das war schon so, wie Hugo es gesagt hat. Es hat uns oft frustriert, wenn wir gesehen haben, dass sich die Ignoranz und das Dichtmachen in der Punk-Szene immer mehr durchsetzten. Und wir haben uns oft gefragt, wofür wir das eigentlich machen. Da fahren wir ein paar hundert Kilometer, vor Ort sind ein paar nette Leute – in der Regel waren das die, die das Konzert veranstaltet haben, und der Rest, der sich nur dichtmachen will.
Hugo: Und wir spielen zur deren Unterhaltung auf ... Das ist auch der Grund, warum ich mit einem Begriff wie „Show“, wenn ich den im Ox oder auch anderen Fanzines lese, nichts anfangen kann. Für mich war immer klar, wir haben Konzerte gespielt und keine Shows gegeben. Das nur mal so am Rande.
Steve: Um das Ganze zu verstehen, muss man sich klarmachen, dass wir eigentlich ganz schön idealistisch waren. Über die Maßen und vielleicht war ich der Allerschlimmste. Wir hatten echt Flausen im Kopf und wurden mit der Realität konfrontiert, dass Punkrock heterogen war und für viele Leute etwas anderes bedeutete als für uns. Und der Text von „Nestbeschmutzer“ markiert einen Punkt im Rahmen dieser Erkenntnis und der Auseinandersetzung damit, der eine Standortbestimmung oder Neujustierung sein sollte. Und er hatte erst eigentlich gar nichts mit euch zu tun – das mit „dreißig Bier und zwei Pfeifen, und du kannst noch stehen“ basiert auf einer Geschichte, die mir ein anderer befreundeter Punk aus Göttingen mal erzählt hat, eben genau von dreißig Bier und zahllosen Pfeifen, die er einmal auf einer Tour durchgezogen hat. Das war der Auslöser für den Text. Und im Laufe des Schreibens fiel mir auf, dass ich auch Frust hatte mit unserer Band. Und es war kein Song gegen euch, sondern der Ausdruck des Frusts und der Ratlosigkeit, die da war, und der Hoffnung, dass wir ein Level finden, auf dem wir weiter agieren können. Ich fand es schon irritierend teilweise, wie stark unser Miteinander mit der Band und das, wofür standen, zunehmend auch von Alkohol und Kiffen bestimmt wurde. Das fand ich schwierig zu der Zeit.

Welche Aktionen, Peinlichkeiten, Konzerte sind euch in besonderer Erinnerung geblieben?
Steve:
Wir haben nie so viel gespielt, wir haben auch nie eine Tour gemacht, höchstens mal zwei Konzerte am Wochenende. Wir haben in unserer ganzen Bandgeschichte an die sechzig Konzerte gespielt, wenn es hochkommt.
Hugo: Eigentlich waren unsere Konzerte außerhalb immer schwierig. Das ging mit dem Organisieren los. Wir mussten uns immer ein Auto leihen, dabei sind auch einige zu Bruch gegangen. Wir sind teilweise mitten im tiefsten Winter irgendwo gestrandet ... Ein Konzert, das mir in Erinnerung geblieben ist, war im Apex in Göttingen im Rahmen einer Fotoausstellung mit Kai Karawahn, der auch viele Fotos von uns gemacht hat. Da haben wir gespielt, eher eine Art Performance mit echtem Blut und Rosen anstecken. Und das Apex war echt nicht groß, der Raum war rappelvoll und nach dem ersten Akkord hat der ganze Laden gebebt, das war ein echtes Highlight.
Steve: Das war eine Vernissage. Es war nur ein alter Herr da – und sonst nur Punkrocker. Und der alte Herr ist ziemlich schnell gegangen. Und jeder Punkrocker war schnell mit Blut verschmiert, weil beim Pogo alles umgeschmissen wurde. Das waren Liter von Blut, übrigens von der Blutbank aus dem Klinikum. Das war wirklich ein bleibendes Konzert.
Hugo: Dann gab es Konzerte, die gar nicht stattgefunden haben wie zum Beispiel das in Freiburg mit SUBHUMANS für das von der Bullerei geschlossene AZ. Eine Band, also wir, sollte im DGB-Haus spielen und danach sollte das Haus nebenan besetzt werden und im Anschluss daran sollten SUBHUMANS in dem besetzen Haus auftreten. Den Briten war es zu heikel, im Rahmen einer Hausbesetzung zu spielen, weil sie auf Europatour waren und Angst hatten, festgenommen zu werden. Da haben sie als Erste im DGB-Haus gespielt. Und es waren auch so viele Hirnies von Punks da, die schon am Anfang die gegenüberliegende Tankstelle geplündert haben. Von daher waren schon massiv Bullen vor Ort. Ich kann mich noch erinnern, dass ich dreißig Sekunden in dem Haus war, da waren schon die Bullen da. Wir sind zurück, die Bullen hinterher und überall war Tränengas. Das war es mit unserem Auftritt.
Steve: Es war so schön, wie alle nach dem SUBHUMANS-Gig rausgeströmt sind, durch den Garten von hinten in das andere Gebäude, es ungefähr bis zur Mitte des Gebäudes geschafft haben und ihnen wie in einem „Asterix“-Comic von vorne die Bullen entgegengekommen sind und alle nach hinten rausgeprügelt haben. Danach war Straßenschlacht die ganze Nacht.
Thomme: Dann gab es noch ein paar schöne Konzerte wie in Kopenhagen im Ungdomhuset. Linz fand ich auch sehr schön. Wir sind auch nie alleine gefahren, wir hatten immer einen Göttinger Mob im Anhang, 15 bis 20 Leute aus dem Juzi.
Hugo: Wir hatten auch Kontakte nach Zürich, da waren wir ungefähr dreimal. Einmal waren wir da, als wir eigentlich eine Italientour vorhatten. Da ist uns allerdings dort unsere Karre verreckt. Wir haben da gespielt und jemand kam rein und meinte, dass da ein Auto brennen würde. Das war unser Bulli. Und weil irgendwelche Ersatzteile fehlten, ist unsere Italientour ins Wasser gefallen. Wir waren mit ziemlich vielen Leuten da und sind die Woche dageblieben und haben in einer großen WG gehaust. Das war trotzdem ganz lustig. Das nächste Mal in Zürich – wir hatten auf unseren Konzerten immer ein Plakat hinter uns auf der Bühne hängen mit „TCA ACT AGAINST THE DAILY FASCISM“ – da hatten wir mal einen Soundcheck, und das muss man mal festhalten, es gab sonst nie eine Anlage! Da kamen also ein paar Glatzen vor die Bühne und machten so einen auf „Sieg Heil!“. Wir haben sie unter „Nazis raus!“-Rufen nach draußen gedrängt, und dann weiß ich nur noch, dass ich so einen Schlag abgekriegt habe und dass ich auf dem Boden saß. Mir ist eine Glasflasche vor den Schädel geflogen, volle Breitseite. Da bin ich hingefallen und mit der Hand gleich noch in die Scherben. Das war es mit dem Konzert. Es kam zwar noch irgendwann Polizei, aber die haben die Naziglatzen ziehen lassen. Ich musste noch ins Spital, die Wunde nähen. Und dann hieß es auch gleich zurück nach Göttingen, weil auch das Jochbein gebrochen war. Eines von den Konzerten, die nicht stattgefunden haben. Komisch, dass einem vor allem die negativen Sachen in Erinnerung geblieben sind. Dann waren wir in Bremen, eines von unseren frühen Konzerten. Da gab es diese „Anti Skinhead Liga“. Die hatten wohl eher Bock, sich ständig zu prügeln, und haben sich während des Konzerts untereinander vor den Kopf gehauen. Das war sehr unangenehm dort.
Steve: Für mich gab es drei Phasen. In der ersten Phase war es unbekümmert drauflos. Es hat einfach Spaß gemacht, den Leuten hat es gefallen, es sind auch immer viele Leute mitgefahren. Klar gab es mal das eine oder andere nicht so schöne Konzert. Aber ansonsten alles sehr unbekümmert. Dann gab es die Nach-„OiOiOi Naziskinheads“-Phase, wo es bei wirklich jedem Konzert Ärger mit Faschos gab. So nach dem Motto „TIN CAN ARMY spielen? Die kriegen auf die Fresse!“ Es gab Saalschlachten, Verfolgungsjagden, Konzertabsagen, Verletzungen. Und am Ende gab es die Phase mit der Frustration mit den Fragen: Warum und für wen spielen wir eigentlich? Warum machen wir das überhaupt? Das war einer der Gründe aufzuhören beziehungsweise die anderen haben entschieden aufzuhören.
Hugo: Das war Ende 1986. Das war so nervig, da hatte ich keinen Bock mehr drauf.
Thomme: Bielefeld habe ich gut in Erinnerung. Da sind wir auch oft so hingefahren, haben dort viele gute Konzerte gesehen und dort viele gute Freunde gehabt. Wir haben viele Bands da gesehen. Auch als wir da gespielt haben, war es sehr gut – nicht so fertig wie sonst. An das Konzert in Paderborn habe ich komischerweise gar keine Erinnerung. Den Namen Kukoz weiß ich noch, aber es waren einfach so viele Konzerte.
Hugo: Wir haben uns auch nie nur als Band gesehen. Die Band war Teil unseres Lebens und wir waren Teil der Leute in Göttingen, die eben in einer Band gespielt haben. Wir waren ständig im Juzi, wir haben da die Konzerte organisiert und die Bands haben bei uns gepennt. So hast du Leute aus der ganzen Welt kennen gelernt.
Steve: Da muss man ja dazusagen, die anderen drei haben zusammengewohnt. Da war schon ein gewisser Abstand da. Ein wirklich schönes Konzert war in Braunschweig, im ALZ, im Arbeitslosenzentrum, mit REST OF THE BOYS, die waren eher so CLASH-mäßig. Der Bassist war auf einmal verschwunden, sie konnten also nicht spielen. Der Basser war etwas depressiv, er stand die ganze Zeit unten im Keller und hat aus dem Fenster gestarrt. Bis sie ihn irgendwann gefunden haben und überreden konnten mitzuspielen. Das hat mich sehr berührt. Und dann hat es tierisch geregnet, die hatten so eine große breite Treppe, die aus einem wunderschönen Garten hinaufführte, da hatten sie die Bühne aufgebaut, und alles drängte nach oben unter das Glasdach. Und es waren wie früher eigentlich immer viele Leute da, nie unter 200. Da haben wir alle gestanden und auf engstem Raum gespielt. Eine fantastische Erinnerung. Eine Lanze für REST OF THE BOYS – das waren ganz großartige Jungs. Da ist durch die besondere Situation unheimlich viel Energie geflossen.

TIN CAN ARMY – „Wir waren mehr als eine Band ...“
Hugo:
Ja, das ist so. Die Band war immer nur ein Teil von dem, was wir gemacht haben. Wir waren immer aufrichtig. Es war alles ehrlich gemeint, und wir, naiv ohne Ende, haben wirklich geglaubt, wir könnten die Welt verändern oder zumindest besser machen. Umso härter war der Aufschlag, als man gemerkt hat, dass es doch nicht so funktioniert hat. Es war damals im Juzi-Umfeld eine bunte Mischung an Leuten, die alle sehr herzlich miteinander umgegangen sind. Und es ist so, wenn man sich nach zehn Jahren wie jetzt beim „35 Jahre Juzi“-Fest wiedersieht, dass man sich immer noch in den Arm nehmen kann und sich aufrichtig freut, wie das so ist, wenn man die prägendste Zeit seines Lebens miteinander verbracht hat.

Wäre das vor zwei Jahren eine Idee gewesen, zum Juzi-Fest noch mal aufzutreten?
Hugo:
Thomme und ich machen das immer mal. Zunächst beim „20 Jahre Juzi“-Fest zusammen mit TWENTY YEARS OF HATE, einer Punk-Coverband, bei der Thomme mal getrommelt hat, kam die Idee, dass ich bei „Guten Morgen BRD“ mit auftrete. Das haben wir auch gemacht, genau wie beim 25-Jahre-Fest mit zwei Stücken. Und bei 35 Jahren Juzi sind Thomme und ich zusammen mit Fox von ABRUPT am Bass und Ulla und Pepples von STAHLSCHWESTER auf die Bühne, um „OiOiOi Naziskinheads“ und „Führer befiehl“ zu spielen. Da hat Pepples gesungen.
Steve: Das Thema Reunion habe ich immer hintertrieben. Das hat verschiedene Aspekte. Der eine ganz schlichte ist der, dass ich dachte: „Ihr Arschlöcher habt die Band damals sterben lassen und dann könnt ihr nicht mehr angekrochen kommen und jetzt spielen wir wieder zusammen.“ TIN CAN ARMY hat seine Zeit gehabt, sein Fluidum. Und nichts finde ich schäbiger, wenn sich Leute auf die Heldentaten ihrer Jugend einen runterholen. Als ihr da gespielt habt, fand ich das sehr schwierig zu verarbeiten, ein sehr stranges Gefühl.
Hugo: Klar haben wir uns da selbst gecovert. Alles andere fände ich komisch. Klar fände ich es cool, mit euch Musik zu machen – aber nicht mehr TIN CAN ARMY. Das würde nicht funktionieren.

Die Chaostage 1984 in Hannover waren für viele ein einschneidendes Erlebnis. Wart ihr selbst da und wie sind eure Erinnerungen?
Hugo:
Ich war beide Male, also 1983 und 1984 da. Und es war teilweise beängstigend. 1983 war das ja als großes United-Ding angekündigt. Aber das war ja auch nicht.
Steve: Ich war nur 1984 da. In Göttingen gab es überhaupt keine Probleme mit Glatzen. Es gab zwar Skinheads, aber die haben sich bestenfalls als Oi!-Glatzen bezeichnet. Das ging erst 1987/88 los mit dem FAP-Schulungszentrum in Mackenrode. Die Chaostage haben sicherlich bei vielen Frust ausgelöst. Einmal, weil das United-Ding nicht funktionierte, und auch durch die massive Machtdemonstration des Staates, die Einkesselungen in der Glocksee. Das habe ich als sehr demütigend empfunden. Auch dass sich so viele Glatzen rechts verorteten, nicht in Göttingen, aber ...
Thomme: Das hat eher Hannover betroffen ... das haben wir ein paar Mal selbst erlebt.
Hugo: Und die Orte drumherum wie Sarstedt, eigentlich überall. Ob es Wuppertal war, Kopenhagen, in der Schweiz ... immer gab es Nazi-Alarm. Nach unserem Stück „OiOiOi Naziskinheads“ hieß es in einem Hamburger Fanzine, dass irgendwelche Glatzen ein Kopfgeld auf uns ausgesetzt hätten. Wir haben uns noch mal genötigt gefühlt, ein Statement abzugeben, dass wir auch an Fanzines geschickt haben, dass sich der Song nicht gegen Skinheads, sondern gegen Nazis richtet. Aber in Salzgitter 1985 zum Beispiel sind Glatzen vor dem Gig aufgetaucht und haben gesagt: „Wenn ihr das Lied spielt, holen wir euch von der Bühne.“ Der Anführer war übrigens Pedder Teumer von DAILY TERROR.
Steve: Der hat sich sehr daneben benommen. Wir haben da mal wieder zusammen mit den MANIACS gespielt. Und dann gab es ein großes United zwischen den Redskins von MANIACS und den Göttinger Punks. Letztendlich wurden die Faschos gemeinsam aus dem Laden gehauen und haben sich verpisst. Das war für mich ein großes Aha-Erlebnis, dass man konkret was machen kann. Aber das war diese Phase, wo es ständig Pogo gab, eben weil wir dieses eine Lied veröffentlicht haben.

Wo wir gerade von Songs sprechen, wie ist eigentlich der Kontakt zu Mülleimer Records zustande gekommen? Die Aufnahmen zu eurer LP habt ihr ja nicht in guter Erinnerung ...
Steve:
Wir haben Aufnahmen gemacht bei der Toncooperative in Hannover bei Jens Gallmeyer, unter anderem DER MODERNE MAN, GIGANTOR, der fand uns ganz klasse. Wir haben die wirklich besten Aufnahmen gemacht, die wir je gemacht haben, und die banal verschickt – an Mülleimer, an H’Art und Weird System. Und die erste Reaktion kam von Tommy Ziegler von Mülleimer. Der wollte keine ganze LP machen, sondern eine Split-Platte mit MANIACS. Und wir wollten mal was auf Vinyl haben und sind wie so viele andere Bands reingefallen. Eben weil die meisten Menschen, die so ein Label und nicht selber Musik machen, einfach nur Pfeifen sind, die nur Kohle machen wollen – wie auch Thomas Ziegler, wie sich schnell herausstellte. Offiziell hat er 1.500 LPs gepresst, und später hat er wohl noch ein paar hundert nachgepresst. Aber das war schon zu der Zeit, wo wir uns um so etwas schon nicht mehr gekümmert haben.
Hugo: Unser Beitrag auf dem Sampler „Hardcore Power Music Part 2“ war damals auch abgesprochen. Da sollte neben „Verweigerung total“ auch noch „Führer befiehl“ mit drauf, aber das ist irgendwie verschollen. Aber alle Sachen, die er später als A.M. Music veröffentlicht hat wie diesen grausigen Sampler „Haste mal ’ne Mark?“ oder „Schlachtrufe BRD“, wo wir auch mit drauf sind, davon haben wir nie etwas erfahren. Da hast du im Laden den Sampler gesehen und gedacht: Ach, da sind wir auch mit drauf? Wir haben damals für den ersten Schwung der Split-LP eine Abrechnung gekriegt und das war es dann. Aber so ist es 95% der Bands von damals ergangen.
Thomme: Danach hat sich bei uns ziemlich schnell durchgesetzt, dass wir nur alles DIY machen wollen. Und unsere EP haben wir komplett selber gemacht.

Ihr habt auch auf dem „Keine Experimente Vol. II“ -Sampler zwei Songs veröffentlicht. Wie war die Zusammenarbeit mit Weird System?
Hugo:
Bei Weird System war das für den Sampler „Keine Experimente“ auch so, dass die letztendlich unsere Stücke zensiert haben. Der Song hieß „OiOiOi Naziskinheads“ und denen war das zu provokant und sie wollten stattdessen „Dead born babies“.
Steve: Die haben uns das schon überlassen. Die haben jetzt nicht gesagt: „Wenn ihr das nicht macht, kommt ihr nicht auf dem Sampler.“ Das haben wir schon selbst zu verantworten. Klar, haben die Druck auf uns ausgeübt, aber eine Zensur war es nicht.
Thomme: Letztendlich können wir sagen, dass Weird System schon sehr korrekt waren. Die haben nachher immer noch Abrechnungen geschickt. Da ist alles korrekt gelaufen und es waren auch nette Jungs.
Steve: Wie unser Beitrag auf dem Sampler zustande gekommen ist, ist auch eine nette Geschichte. Wir haben unser Demotape ja auch an Weird System geschickt und nachdem wir von denen nichts gehört hatten, wurden wir ungeduldig. Also sind Thomme und ich zu dieser Demo nach Hamburg getrampt und haben gesagt: „Da können wir gleich bei Weird System vorbei“. Vor der Demo sind wir also zu Weird System. Und wir sagten: „Hey, wir sind aus Göttingen. Wir haben euch ein Demotape geschickt“. Und er: „Wann habt ihr das geschickt?“ Wir: „Vorgestern!“ Er: „Ja, das ist noch nicht da!“ Und wir – schlau wie wir waren – hatten noch nicht mal eins mitgenommen. Ein paar Wochen später kam die Rückmeldung, dass das Tape da sei und wir auf den Sampler kommen sollten.

Eure EP „Be Invited“ war ja schon eine musikalische Weiterentwicklung. Ich fand sie sehr kopflastig und war damals – da bin ich ehrlich – mit den Songs überfordert.
Hugo:
Da warst du sicher nicht der Einzige. Zum einem ist der Sound nicht sehr glücklich, weil unser Stimmgerät kaputt war und alles zu hoch eingespielt war.
Thomme: Und es war eine Phase, in der man sich sehr viel mit sich selbst beschäftigt hat. Das findet sich auch in den Texten wieder, eben sehr kopflastig.
Hugo: Auch was wir damals dazugeschrieben haben, war sehr persönlich. Ob ich das heute noch mal so schreiben würde, weiß ich nicht. Aber wir haben uns mit der EP jede Menge Mühe gemacht. Das Aufnehmen war das Geringste, ein Presswerk finden ohne GEMA, jedes Plattencover einzeln falten, Etiketten drucken lassen, die Aufkleber haben wir selbst in der Siebdruckwerkstatt im Juzi gedruckt und so weiter. Wir hatten ja jede Menge Kontakte zu Leuten, die Tape-Sampler gemacht haben – wir sind auf fünfzig bis sechzig Tape-Samplern drauf –, oder auch zu vielen Fanzinern. An die haben wir alle unsere selbstgemachten Flyer geschickt, damit sich jeder melden konnte, der die EP weiterverkaufen wollte. Und das haben auch viele getan, auch wenn der eine oder andere dann die Platten nicht bezahlte. Am Ende waren wir sehr stolz darauf, was wir gemacht haben, aber es war eine Schweinearbeit. Es waren erst 1.000 Exemplare im schwarz-roten Cover und nochmal 500 in Blau-Gelb.

Habt ihr das Gefühl, dass eure Texte immer noch aktuell sind?
Steve:
Ich würde keinen der Texte heute mehr so schreiben. Das war eine ganz andere Epoche. Es gibt einen ganz bestimmten Duktus in den Songs, diese Unbedingtheit und diese Unbekümmertheit, die vielleicht auch noch heute junge Menschen anspricht. Ich fände es schön, wenn die Kids heute ihr ganz eigenes Ding hätten. Aber irgendwie hat sich das Punkrock-Ding gehalten. Es gibt Fünfzigjährige wie dich, die immer noch mit bedruckten T-Shirts, hochgestellten Haaren und Ohrringen durch die Gegend rennen. Und es gibt Kids, die mit Iro und Nietenjacke unterwegs sind. Da gibt es also etwas, wo man andocken kann. Die Texte waren schlicht und einfach formuliert. Sie waren geradeheraus, aufrichtig und der Sache verpflichtet. Das sage ich jetzt ohne Arroganz. Und ich kann mir vorstellen, dass das für Leute spürbar ist und sie immer noch etwas damit anfangen können.
Thomme: Und so etwas wie „OiOiOi Naziskinheads“ ist immer noch aktuell, genauso wie „Freedom“, „Innocent prostitutes“ oder auch „Nestbeschmutzer“.

Im Rückblick: Wie war es für euch in den Achtzigern, in einer Punkband gespielt zu haben?
Steve:
Als Resümee, abgesehen vom Zwischenmenschlichen, ist die Band das einzig Sinnvolle, was ich je gemacht habe. Alles andere war totale Gülle. Und dafür liebe ich auch die drei, weil ohne die wäre es nicht gegangen. Wir haben tolle Erlebnisse gehabt, nicht nur die Band, sondern der ganze Göttinger Klüngel. Zu sehen, was möglich war, wenn Menschen was zusammen auf die Beine stellen. Diese Energie habe ich vor- und auch nachher nie wieder gespürt.
Thomme: Das hast du schön ausgedrückt. Besser könnte ich es nicht sagen, poetisch – unser Poet halt.

Und der Einzige, der noch aktiv Musik machst, bist du Thomme?
Thomme:
Ja, das stimmt. Ich bin nach dem Ende von TIN CAN ARMY in ein Loch gefallen, weil mir die Band so viel bedeutet hat. Aber vielleicht ist es als Schlagzeuger einfacher, wieder etwas Neues zu machen. Ich spiele jetzt bei UNDER YOUR SKIN, davor bei HISBOLLAH JOGGERS. Das war nicht nur ein schöner Name, sondern auch eine gute Band. Und Miele, der ist als Tontechniker in der ganzen Welt unterwegs.
Hugo: Ich habe nach TCA nichts mehr gemacht. Es war wie Stevie eben gesagt hat, was hätte ich nach TIN CAN ARMY machen sollen? Es war unvorstellbar, nach diesem intensiven Erlebnis mit den Menschen in der Band etwas anderes zu machen. Ich habe seitdem effektiv nur bei den Juzi-Festen auf der Bühne gestanden – also dreimal. Wir haben 1998 noch mal im Proberaum von NO RESPECT zu viert gestanden und Musik gemacht.
Steve: Ich habe noch lange Zeit versucht, Bands auf die Beine zu stellen, so circa 25 Jahre lang. Es war aber nicht von Erfolg gekrönt.

2003 habt ihr eure Songs noch einmal auf Vinyl veröffentlicht. Und zuletzt ist die Split-LP mit MANIACS neu veröffentlicht worden. Welche Gründe gab es für die Rereleases?
Hugo:
Wir hatten nie geplant, etwas wiederzuveröffentlichen. Wir hätten auch nicht geglaubt, dass sich irgendwer dafür interessiert. Der Typ, der die Zusammenstellung damals rausgebracht hatte, hat uns jahrelang bekniet, diese LP zu machen. Das lief über persönliche Kontakte, Patrick kam aus Göttingen, man kannte sich. Letztendlich lief das aber nicht so, wie wir uns das gewünscht hätten. Auf Details möchte ich hier verzichten. 2015 oder 2016 hat uns Thomas von Power It Up nach einer Wiederveröffentlichung der Split-LP mit den MANIACS gefragt. Eigentlich dachten wir, diese Platte braucht kein Mensch. Wir waren ja damals total unzufrieden mit dieser Scheibe. Nun ja, irgendwie schmeichelt es einen natürlich, wenn sich heutzutage noch Leute für unseren Krach von damals interessieren. Wir haben es allerdings zur Bedingung gemacht, dass wir uns kennen lernen. Wir wollten schon gern wissen, mit wem wir es zu tun haben. Und so kam Thomas irgendwann zu uns und anschließend sprach nichts mehr dagegen, diese Platte rauszubringen. Thomas ist ein netter Typ! Kleine Anekdote am Rande: Thomas’ Neffe Luk und mein Sohn Tom sind seit der Grundschule in einer Klasse und Kumpels ... Aktuell ist geplant, die 2003er LP mit neuem Cover und Beilagen auf Mad Butcher Records wiederzuveröffentlichen. Darüber hinaus noch eine LP mit bisher unveröffentlichten Stücken aus dem Übungsraum. Da muss Thomme aber noch das Schlagzeug neu einspielen und aufgrund der momentanen Situation ist es unklar, wann das was wird. Das läuft ebenfalls über persönlichen Kontakt, Bekanntschaft ... Ich glaube, dann reicht es aber auch.

Gab es damals eine Art Gleichberechtigung in der Punk-Szene?
Thomme:
Frauen im Punkrock? Die gab es eher wenig und wenn, dann nur Bassistinnen. Aber es gab ja auch eine Ausstellung von Frauen aus Göttingen im Juzi, „Schluss mit dem Fickmist“, die ja genau den Sexismus in der Punk-Szene angeprangert hat. Was uns zumindest auch berührt hat. Die haben viele Cover oder Bandnamen zusammengestellt, wie das Cover der ersten GBH-LP oder vom Sampler „Britannia Waives The Rules“ mit EXPLOITED, INFA-RIOT und CHRON GEN.
Hugo: Es gab immer Ansagen von Stevie auf den Konzerten „Mehr Slam Dance, kein Brutalo-Pogo“. Zwischen den Menschen, mit denen ich zusammen war, war es eigentlich egal, ob Mann oder Frau.
Steve: Letztendlich war das eine Illusion. Vor dreißig Jahren haben wir uns eingeredet, dass es keine Unterschiede gibt. Aber es war auch ein anderer Diskurs. Viele Dinge erscheinen heute sehr holzschnittartig. Es gab halt auch Texte von mir, die sehr fragwürdig waren wie bei „TCA“ die Erwähnung von Auschwitz ... und die Schlusszeile „Dabei ist mein Schwanz doch das beste an mir“ oder der von „White X mas“. Das war so ein unbekümmertes Punkrock-Ding, das würde ich heute nicht mehr machen. Historisch betrachtet waren wir auf der richtigen Seite. Wir haben uns immer klar positioniert gegen Machismo und Mackertum. Punk war für mich so eine Explosion nach außen, gegen die Gesellschaft, ein Rauskotzen. Und wir haben als Band noch die letzten Reste erlebt. Und dann ging das immer mehr Richtung innen, eine Nabelschau, nur noch innerhalb unserer eigenen Szene. Da wurden andere Maßstäbe angelegt, andere Kritikpunkte erörtert. Das konntest du nicht mehr bringen. Ich würde die Zeile heute auch nicht mehr so singen, aber 1982/83 war das für mich noch provozieren und „raus damit“. Da konntest du noch so ein dummes Zeug bringen, okay, Schläge dafür einstecken, aber ein paar Jahre später ging das nicht mehr. Aber 1982 war das adäquat und charmant.