Wenn Bands auf Spotify einen Song mit mehreren Millionen Streams haben, der Rest der Diskografie aber eher hinterher hängt, oder wenn dort fast zwanzig Jahre alte Songs wieder auf Platz 1 der beliebtesten Titel einer Band landen, fragt man sich schon, woran das eigentlich liegt. Jedenfalls scheint Punk heutzutage viel zugänglicher für junge Menschen zu sein, denn ob durch TikTok-Trends, Serien oder Videospiel-Soundtracks – auch Punkbands finden hier ihren Platz.
Gerade die Video-Sharing-App TikTok hat Einfluss auf das Hörverhalten junger Menschen. Zwar war TikTok bereits vor der Pandemie auf dem Vormarsch, die Quarantäne Anfang 2020 hat die Popularität der App aber weiter gesteigert. Songs gehen viral, weil User:innen „TikTok-Challenges“ veranstalten, und das schlägt sich auch auf Streaming-Diensten wie Spotify nieder. So ist das SIMPLE PLAN-Lied „I’m just a kid“ momentan der beliebteste Song der Band auf Spotify. Das Stück wurde für eine TikTok-Challenge benutzt, bei der User:innen ihre Kinderfotos nachstellen, und auch die Band selber hat daran teilgenommen. Insgesamt gibt es auf TikTok 4,1 Millionen Videos, die den Song verwendet haben.
Nostalgie ist bei TikTok das Stichwort. Die Band MOLCHAT DOMA ist zu plötzlicher Popularität gekommen, nachdem ein TikTok-User ihren Song „Sudno“ als Soundtrack für ein Throwback-Video über seine Zeit in Russland verwendet hat, das viral gegangen ist und mittlerweile über 7 Millionen Mal angeschaut wurde. Auf Spotify wurde der Song fast 40 Millionen Mal gestreamt und liegt damit weit vor anderen Songs der Band. Dass der Text vom Tod handelt, scheint die TikTok-Community nicht weiter zu stören – die benutzt den Song mittlerweile für Fashion-Videos.
Junge Menschen erreicht man heute vor allem über TikTok, Trends sind aber bekanntlich kurzlebig. In Richtung Punkrock sieht das Ganze dann schon wieder anders aus, hier scheinen die Songs einfach langlebig zu sein. Das erste ANTI-FLAG-Album auf einem Majorlabel, „For Blood And Empire“, das 2006 auf RCA Records erschien, enthält den zeitlosen Klassiker „This is the end (For you my friend)“, der nicht nur auf Spotify, sondern auch bei YouTube die meisten Streams verzeichnet. ANTI-FLAG sind bekannt für ihre politischen, ehrlichen und gesellschaftskritischen Texte und so kritisieren sie in diesem Stück den Schönheitswahn, ein Problem, das leider auch 14 Jahre später noch Relevanz hat und vor allem durch Influencer auf Instagram weiter befeuert wird, die auf ein junges Publikum zielen.
THE DAMNED schaffen es sogar, mit einem mehr als vierzig Jahre alten Song immer noch popkulturell relevant zu bleiben. „Neat neat neat“ erschien 1977 auf ihrem Album „Damned Damned Damned“ und hat auf Spotify über 18 Millionen Streams. In die Popkultur hat der Song schon mehrmals Eingang gefunden: 2005 kam „Neat neat neat“ in dem Videospiel „True Crime: New York City“ vor, 2008 hatte der Song einen kurzen Auftritt in der Simpsons-Folge „Love, Springfieldian Style“, 2017 war er dann in dem Kinofilm „Baby Driver“ zu hören und zuletzt wurde er 2019 in einer Folge der Amazon Prime-Serie „The Boys“ eingesetzt. „Neat neat neat“ ist also in den letzten vierzig Jahren schon reichlich rumgekommen.
Und auch die DEAD KENNEDYS sind in der Popkultur wiederzufinden. Ihr Song „Holiday in Cambodia“ hat ganze 32 Millionen Streams auf Spotify und ist in der Serie „Deadly Class“, sowie den Filmen „Point Blank“ (2019) und „High Fidelity“ zu hören. Zwar haben die Serie und die Filme nicht zum Erfolg der DEAD KENNEDYS beigetragen, der Beliebtheit von „Holiday in Cambodia“ wird es aber kaum geschadet haben und es beweist, dass ihre Musik noch über dreißig Jahre später relevant ist. Hollywood scheint auf „Punk-Ästhetik“ und Nostalgie zu stehen, denn auch HÜSKER DÜ sind in einem Soundtrack vertreten. Ihr Song „Don’t want to know if you are lonely“ wurde mit über 12 Millionen Streams auf Spotify mit Abstand am meisten gehört und ist den Millennials vielleicht durch die Tragikomödie „Adventureland“ aus dem Jahr 2009 schmackhaft gemacht worden, auf dessen Soundtrack die über dreißig Jahre alte Nummer vertreten ist.
Nicht vergessen dürfen wir deutsche Punkrock-Bands wie SLIME, die wohl vor allem durch zensierte Texte auffielen und damit Schlagzeilen machten. Ihr indiziertes Debütalbum „Slime I“, das bereits 1981 veröffentlicht wurde und erst dreißig Jahre später auf dem Index landete, erfreut sich noch immer großer Beliebtheit. Ihr „Wir wollen keine Bullenschweine“, der Grund für die Indizierung, hat auf YouTube immerhin 1,5 Millionen Aufrufe und das obwohl er nicht einmal von SLIME selber hochgeladen wurde. Auf Spotify sticht einem dann der nächste „Skandal“-Song ins Auge: „Sie wollen wieder schießen (dürfen)“ erschien 2017 auf ihrem Album „Hier und jetzt“, hat 1,6 Millionen Streams und ist somit der beliebteste SLIME-Song auf Spotify. Wahrscheinlich hätte das dazugehörige Musikvideo schnell den Rang der meist gesehenen SLIME-Musikvideos errungen, wäre es nicht von YouTube auf ihrem offiziellen Kanal wegen angeblicher Hassrede gelöscht worden.
Musikvideo-los ist auch „Tanzt du noch einmal mit mir?“ von den BROILERS, an fehlender Nachfrage kann es nicht liegen – der Song wurde auf Spotify über 20 Millionen Mal gestreamt und ist somit Fan-Favorit. Auf YouTube liegt dafür „Meine Sache“ an der Spitze mit 25 Millionen Aufrufen. Eigentlich perfekte Voraussetzungen, um auf einem Soundtrack zu landen – vielleicht muss ein Punk-Song dafür aber erst in den Ü30-Club eintreten.
Kommen wir zum Hardcore: SICK OF IT ALL sind wohl eine der bekanntesten NYHC-Bands der Neunziger und ihr Song „Step down“ gilt nicht umsonst vielen als Klassiker. Bis jetzt ist es der beliebteste Song der Band auf Spotify, obwohl er schon 1994 auf dem Album „Scratch The Surface“ erschienen ist. Auch dass MTV damals das Musikvideo zeigte, wird dem Song zu weiterer Popularität verholfen haben, und es ist noch heute sehr amüsant zu sehen, wie sich SICK OF IT ALL darin über die verschiedensten Arten zu moshen lustig machen.
Aber das Beste kommt zum Schluss. REFUSED sind in der Punk-Szene keine Unbekannten und auch in der Popkultur gewinnen sie an Relevanz. Ihre Top-Hits auf Spotify bringen einen zum Lachen: Platz 1 und 2 belegt der Song „New noise“. Er ist nämlich gleich zweimal erschienen: zunächst auf dem Album „The Shape Of Punk To Come“ 1998 und im selben Jahr noch einmal auf der EP „The New Noise Theology“. Lustigerweise ist die EP-Version des Songs doppelt so oft wie die Album-Version gestreamt worden. In einem sind sich die Fans aber einig: Das ist der beliebteste Song der Band. Daran würde sich so bald auch kaum etwas ändern, wenn REFUSED nicht für das Videospiel „Cyberpunk 2077“ als fiktive Band unterwegs wären. Aber von Anfang an: Das im Dezember 2020 erschienene Open-World-Action-Adventure „Cyberpunk 2077“ ist eines der beliebtesten Spiele des Jahres. Darin tritt auch die fiktive und als legendär beschriebene Chrome-Rock-Band SAMURAI auf, und für deren Musik sind keine Geringeren als REFUSED verantwortlich. So wurde die erste Single „Chippin’ in“ auf YouTube bereits 6,4 Millionen Mal angeklickt. Noch kommt der Song aber nicht an „New noise“ heran, der immerhin schon über 20 Millionen Mal auf Spotify gestreamt wurde.
Es können also alle wieder aufatmen: Zwar hat TikTok durchaus Einfluss auf die Streaming-Charts, Klassiker wird das aber niemals ersetzen können, denn die sind einfach nicht tot zu kriegen, während Trends immer kommen und gehen werden. Wünschenswert wäre hier aber, dass die Bands wenigstens von diesem Phänomen profitieren. Viele Streams auf Spotify, Millionen von Aufrufen bei YouTube, ein viraler Hit auf TikTok – alles schön und gut, wenn dann auch die Bezahlung stimmt. Es ist allerdings kein Geheimnis, dass Streaming-Riesen wie Spotify wenig vom Kuchen abgeben und die meisten Bands von Krümeln leben müssen – trotz hoher Streaming-Zahlen. Spotify legt zwar nicht offen, wie viel Künstler:innen letztlich pro Stream bekommen, es wird aber geschätzt, dass 2020 im Schnitt 0,003 Dollar pro Stream gezahlt wurden, was bei 10.000 Streams um die 30 Dollar einbringen würde, und das bei Streams von Premium-Nutzern. Streams von Nicht-Premium-Nutzern bringen wohl noch weniger ein.
Musikvideos bei YouTube werden ebenfalls nicht dafür sorgen, dass man von der Musik leben kann – hier sehen die Zahlen, basierend auf Schätzungen, noch schlechter aus als bei Spotify. Toppen kann das nur noch TikTok. Basierend auf dem Referentenentwurf zur Umsetzung der EU-Urheberrechtsrichtlinien, werden Nutzer auch in Zukunft urheberrechtlich geschützte Werke, sprich: all die auf TikTok hochgeladenen Songs, zu Parodiezwecken frei verwenden können. Wahrscheinlich wird es eine Pauschalvergütung für Künstler:innen geben, wann und wie viel sie pro Sound-Benutzung bekommen, steht aber noch in den Sternen. Aktuell werden die meisten Bands trotz millionenfacher Verwendung ihrer Songs auf TikTok leer ausgehen. Einziger Lichtblick ist hier die Reichweitensteigerung, allerdings vergehen Trends auf TikTok schneller als man gucken kann. Inwiefern man so neue Fans gewinnt, ist also fraglich.
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #154 Februar/März 2021 und Isabel Ferreira de Castro