STICK TO YOUR GUNS

Foto

Jugend an die Macht

Worüber sprechen, wenn das neue STICK TO YOUR GUNS-Album noch nicht mal aufgenommen ist? Jesse Barnett fällt da schon was ein. Ein paar Stunden bevor der Sänger der Band im Kölner Palladium die größte Show seiner Karriere spielen wird, sprechen wir über Politik, Bücher und die Droge Geld.

Jesse, das Album ist ja zu diesem Zeitpunkt noch nicht aufgenommen. Mit welchen Vorstellungen und welcher Einstellung gehst du es an?


Kennst du das, wenn du ein Videospiel spielst, und deine Energie immer weiter runtergeht? Für mich ist es so, als hätten wir das Spiel STICK TO YOUR GUNS mit fünf Leben begonnen und jetzt haben wir noch zwei übrig, haha! Das ist die einzige Unsicherheit, die mich ins Studio begleitet. Wir sind seit 16 Jahren eine Band. Normalerweise haben Bands wie unsere eine kürzere Lebensdauer. Wenn du zehn Jahre schaffst, dann ist das etwas Besonderes. Wir gehen jetzt auf die zwanzig zu, und es fühlt sich immer so an, als sei es zu gut, um wahr zu sein. Die Menschen um uns herum sagen immer: Ihr verdient das, ihr arbeitet so hart dafür. Und das stimmt auch. Aber es ist wichtig, dass du jeden deinen Dank spüren lässt, der mit am Erfolg der Band beteiligt ist. Im Hintergrund arbeiten so viele Leute daran, dass das Projekt STICK TO YOUR GUNS funktioniert. Menschen in Australien, Europa, den USA, Südamerika, alle arbeiten zusammen daran. Wenn ich also ins Studio gehen, denke ich auch an diese Leute. Würden wir uns morgen auflösen, dann wäre unser Manager versorgt, unsere Konzertagentur wäre auch okay, alle in unserem direkten Team wären okay. Aber es fühlt sich so an, als würde ich jetzt für was Größeres kämpfen. Es geht nicht nur um mich oder die Band. Es geht um diese ganzen Leute, die für STICK TO YOUR GUNS arbeiten. Ich nehme es also sehr ernst.

Es ist eine Verantwortung.

Ja, natürlich, ich gehe mit der Verantwortung ins Studio, dass ich meine Szene und mein Team zufriedenstellen muss. Das ist wichtig. So eine Art von Community gibt es in der Popmusik nicht. Oder vielleicht doch, ich weiß es gar nicht. Aber eben nicht wie bei Hardcore oder Metal. Ich bin mir sicher, dass viele Menschen STICK TO YOUR GUNS als Rockband betrachten, denn Hardcore-Bands spielen keine so großen Shows, haha!

Hast du schon eine Vision, wie das kommende Album werden soll?

Ja, na klar. Ich habe auch schon einen Titel im Kopf, den ich dir hier noch nicht verraten will, aber es wird darum gehen, einen Blick darauf zu werfen, in welchem Zustand sich die Welt politisch gesehen gerade befindet, und wo wir im Kapitalismus nur als Kostenfaktor betrachtet werden statt als Menschen, die ein Leben und eine Familie haben. Unser Reichtum wird unter ein paar wenigen aufgeteilt, während die Angehörigen der Arbeiterschicht auf der Strecke bleiben. Um Karl Marx zu zitieren: „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“ Wir müssen uns zusammenschließen und erkennen, dass wir viel mehr sind als die. Wenn irgendwas passieren soll, müssen wir dem folgen. Sieh dir an, was in Chile passiert, im Libanon, in Bolivien, in all diesen Ländern gibt es große Unruhen. Die Menschen werden in eine Ecke gedrängt, und wenn man das tut, werden sie sich den Weg daraus erkämpfen. Und das erleben wir gerade. Und ich bin jemand, der dieses Feuer in den Menschen sieht, und während andere sagen, man solle das nicht auch noch befeuern, dann sage ich: Scheiß drauf. Unser nächstes Album wird Benzin, das wir in die Flammen kippen. Ich will die junge Generation wissen lassen, dass sie Macht haben. Du weißt es vielleicht nicht, denn es wird uns eingetrichtert, aber wir haben Macht, vor allem gemeinsam.

Fans, die nicht mit der Meinung ihrer Lieblingsbands übereinstimmen, reagieren oft mit dem gleichen Kommentar: Bleibt bei der Musik. Aber gerade im Hardcore und Punk geht es doch um die Message, oder?

Die Menge von rechten, kapitalistischen Arschlöchern, die ich im Hardcore wahrnehme, ist erstaunlich. Was zur Hölle wollt ihr hier? Wer hat euch reingelassen? Verpisst euch! Punk und Hardcore ist kein exklusiver Club. Alle sind willkommen. Aber es ist auch nicht für jedermann. Das ist wichtig. Leute, die in unserer Szene rumlaufen und „White Pride“ rufen, sollen sich verpissen. Und das mag keine populäre Meinung sein, aber das Gleiche gilt auch für Gewalt. Ich kann es wirklich nicht mehr hören. In den USA, und bei euch wahrscheinlich auch, sind alle vom „friedlichen Protest“ besessen. Ich sehe all diese Posts, von Jamey Jasta von HATEBREED oder John Joseph von CRO-MAGS. Und sie meinten das auch gar nicht böse. Aber sie schrieben über Chile: „Das ist so toll, seht euch diese friedlichen Demonstranten an!“ Man muss also immer auf das Wort „friedlich“ achten, denn wenn sie nicht friedlich sind, dann gilt ihr Protest nicht mehr als legitim. Was soll das? Da sind Menschen, die um ihr Leben kämpfen. Zur Hölle, brennt alles nieder! Man kann das eine nicht ohne das andere haben. Wenn du nicht in Frieden leben darfst, wenn du dich nicht ernähren kannst und auf der Straße leben musst, oder wenn du gerade mal genug verdienst, um deine Familie durchzubringen: dann ist das Gewalt. Gewalt gegen die Menschen! Wenn du auf die Straße gehst und von der Polizei niedergeknüppelt wirst, dann schlag zurück! Ich kann diese Besessenheit von friedlichem Protest nicht mehr hören. Friedlicher Protest ist eine tolle Sache, keine Frage. Aber wenn du keine andere Möglichkeit hast, dann geh nicht nach Hause, sondern heb die Fäuste. Immer dieses: „Oh, schau dir doch nur die Zerstörung von Eigentum an.“ Warum ist das Eigentum von irgendjemanden wichtiger als jemandes Leben? Du dummes Arschloch! Wir müssen die Augen öffnen und uns bewusst machen, was diese sozialen Unruhen wirklich bedeuten. Die Menschen, die Geld und Macht besitzen, werden nicht eines Tages einfach aufwachen. Das sind Abhängige. Ein Heroinabhängiger wacht nicht einfach auf und sagt: Okay, das war’s. Ich bin fertig damit. Jeff Bezos, der Chef von Amazon, hat so viel Geld, er könnte eine Menge Probleme in der Welt lösen. Aber er wacht jede Morgen auf und entscheidet sich, es nicht zu tun. Er entscheidet sich dagegen, den Welthunger zu lindern oder den Amazonas zu retten. Er wird das Geld nicht einfach zurückgeben. Was willst du also machen? Weiter in Sklaverei leben? Steh auf und kämpfe.

Und du stehst auf einer Bühne und man hört dir zu.

Absolut. Das ist wichtig. Es soll nicht so klingen, als sei das, was in Chile passiert, mein Kampf. Ist es nicht. Ich könnte morgen aus der Band aussteigen und mir einen Job suchen. Und es würde mir großartig gehen. Ich will mich nicht zum Märtyrer stilisieren, aber wir haben ein gemeinsames Ziel, nicht nur für mich, sondern für alle.

Auf deiner persönlichen Instagram-Seite hast du auch einiges über Bolivien gepostet. In den Kommentaren musst du dir dafür auch Kritik gefallen lassen, auch von Leuten aus Bolivien ...

Nein, nicht aus Bolivien, aber aus Südamerika. Viele Leute aus Brasilien haben darauf reagiert. Ich höre da oft: Du weißt ja nicht, wie es hier bei uns in Lateinamerika ist! Nun, Brasilien ist nicht Bolivien. Brasilien ist nicht Chile oder Venezuela. Brasilien ist Brasilien. Brasilien gehört den USA. Willst du mir erzählen, dass Brasilien keine Probleme hätte? Bolivien ist ein sozialistisches Land, mit einem sozialistischen Anführer, der den Ureinwohnern angehört, der sich nicht an die USA verkauft hat. Das ist das Problem. Chile und Bolivien haben große Vorräte an Lithium. Teslas Aktienkurs ging durch die Decke, als Präsident Evo Morales im November aus dem Amt gedrängt wurde. Woraus bestehen noch mal Teslas Batterien? Lithium. Ich klinge wie ein Verschwörungstheoretiker. Aber so funktioniert es. Mir ist schon klar, dass Morales kein perfekter Mensch ist. Ich weiß das. Aber er wollte Lithium verstaatlichen, für sein Land. Die USA zerstören die Welt für ihren Ressourcenbedarf. Afrika, Mittlerer Osten, Asien. Überall. Und ich mache einen Post auf Instagram und die Leute greifen mich an. Ich habe kein Problem damit, mit allen zu diskutieren. Aber da waren auch Bolivianer, die ihr Leben lang in Miami oder Los Angeles gelebt haben. Okay, cool! Ich verstehe ja, dass du bolivianisches Blut hast, aber wenn du in L.A. lebst, dann bist du wahrscheinlich nicht arm und es geht hier eher um ein Klassending. Und wer hasst Evo Morales? Reiche Bolivianer. Ich weiß, dass ich da niemanden erreiche, wenn ich eine Online-Diskussion mit jemanden führe, der sein ganzes Leben nur gelernt hat, dass Sozialismus etwas ist, was es nicht ist. Ich versuche auch nicht, die Geschichte des Kommunismus zu verdrängen, denn sie hat eine dunkle Seiten. Aber immer wenn mir jemand mit der Zahl der Todesopfern des Kommunismus kommt, dann wird Kapitalismus in diesem Schwanzvergleich immer gewinnen. Wenn das also der Maßstab ist, welches System humaner ist, dann weiß ich auch nicht weiter.

Bist du in einem politischen Haushalt aufgewachsen?

Nein, ich bin einem Elternhaus aufgewachsen, das man in den USA „whitebread household“ nennen würde. Sehr normal. Aber ich hatte einen etwas anderen Blickwinkel. Die Familie meiner Mutter stammt aus Brooklyn, wo ihre Eltern auch während der Weltwirtschaftskrise von 1929 gelebt haben. Kurz darauf begann mein Großvater an der Börse zu spekulieren und wurde ein reicher Mann. Die Familie meines Vater stammt aus San Antonio in Texas. Sein Vater, mein Großvater, stammt aus Puerto Rico, meine Großmutter ist halb Mexikanerin und amerikanische Ureinwohnerin. Also eher eine arme Familie. Interessanterweise ist meine Mutter ein linker Hippie und mein Vater konservativ. Aber es war kein politischer Haushalt. Meine Mom hat die Demokraten gewählt, mein Dad die Republikaner, und dann wurde nicht mehr darüber geredet. Die Frage „Wen hast du gewählt?“ gilt in den USA als unhöflich. Darüber redet man nicht. Ich wurde erst durch Punk politisch. Und zu Punk kam ich durch meinen Hass auf die Kirche. Orange County ist sehr religiös, und immer wenn ich zur Kirche musste, habe ich es gehasst. Und dann hörte ich diese ganzen Punk-Songs, und da war mir klar, wohin ich gehöre.

Du versuchst ja auch die Leute dazu zu bewegen, sich zu bilden, mit dem „No Power Book Club“. Was hat es damit auf sich?

Ja, George und ich machen das. Das hat angefangen, als George und ich darüber sprachen, wie cool das war, als Bands wie PROPAGANDHI eine Leseliste in ihren Booklets abdruckten, und dass das leider niemand mehr macht. Dann hatte George die Idee, dies auf die heutige Kultur von Instagram und Podcasts zu übertragen. Wir haben da sehr unbedarft mit angefangen, einfach geschrieben: „Hey, checkt dieses Buch aus, wie geben euch eine Woche, um es zu kaufen, und dann geht es los!“ Dieses Jahr werden wir es „eindeutschen“, haha! Also sehr effizient! Wir werden jeden Monat ein Buch behandeln, und diese Bücher direkt von einem Großhändler kaufen und eine Website erstellen, auf der du das Buch von uns bekommst. Da sind schon viele Leute interessiert. George hat da so ein Psychohirn, er liest etwas und saugt alle Informationen auf. Ich muss ein Buch dreimal lesen, um es wirklich zu verstehen. Er entwirft dann auch kurze Texte für Leute, die vielleicht keine Zeit oder Lust zu lesen haben. Darin beschreibt er den Inhalt in sehr komprimierter Form. Natürlich ist es unser Ziel, die Menschen zu bilden, aber ich mag den Ausdruck nicht, es klingt so überheblich. Wir wollen, dass die Leute in ihrer Filterblase aus Kim Kardashian und Donald Trump auch eine weitere Stimme hören. Mit Social Media wird es immer schwerer, aus der Blase zu entkommen, und die Aufmerksamkeitsspanne wird immer geringer. Mir kommt da zugute, dass wir so viel unterwegs sind. Im Flugzeug oder im Bus kann ich mich konzentrieren. Es ist immer witzig, ich schleppe die ganzen Bücher in meinem Rucksack herum, und am Flughafen in Chicago musste ich meine Taschen öffnen. Und da zogen die „Das kommunistische Manifest“ raus, Marx, Lenin, haha!