Winter 1965. Ich sitze im Aufenthaltsraum des katholischen Jungen-Internats und höre die Top 20. Früher Nachmittag: der Unterricht war öde, das Essen fad, jetzt kann mich nur die englische Hitparade retten, wo Gruppen mit einem THE vor dem Namen gespielt werden.
Die neue Single von THE KINKS wird vorgestellt: "Till the end of the day". Wahnsinn!, ich bin wie elektrisiert. Schräg vor mir sitzt "Goofy", alias Günther C., schlaksiger Fabrikantensohn aus Greven, 15 Jahre alt. Er trommelt lässig mit den Fingern zur Musik, wippt mit den Füssen. Goofy hat blondes fettiges Haar und eine angedeutete Elvis-Tolle, bezieht die astronomische Summe von 100 Mark Taschengeld monatlich, sammelt Briefmarken und ist passionierter KINKS-, ROLLING STONES- und WHO-Fan. Er hat die englische Pop-Beat-Zeitschrift FABulous abonniert und verfügt über eine gigantische Plattensammlung. Zuhause. Im Internat sind Tonbandgeräte, Plattenspieler usw. verboten. Zu bestimmten Zeiten dürfen wir im Aufenthaltsraum sitzen. An dem alten Röhrenradio funktionieren MW und LW. Bei gutem Wetter kann man Radio Caroline und Radio Veronika empfangen.
Wer mit Goofy klar kam, genoß kleine Privilegien. Goofy besaß ein 4-Spur-Tonbandgerät, das er in einem Imbiß in Holland deponiert hatte. Das Internats-Gelände lag direkt an der Grenze. Kneipenbesuche waren nicht erlaubt. Zum Imbiß ging man 20 Minuten. Wir hatten einmal pro Woche Ausgang. Es gab Kontrollen, aber wer aufpaßte, konnte den katholischen Geistlichen rechtzeitig sehen und sich aufs Klo verdrücken. Pech nur, wenn besetzt war.
Goofy, dieser rotzige, etwas hochnäsige Typ, flog später von der Schule, weil er Mitschüler verhaute und pornografische Hefte besaß. Ich bewunderte ihn und erinnere mich noch an sein Zimmer und den Geruch dort, als er einmal ein paar Fab-Hefte auspackte.
Die ROLLINGS STONES und BEATLES wurden zunehmend populär - auch bei Leuten, die keine Ahnung von Musik hatten. KINKS-Fans waren seltener, es gab auch vereinzelt WHO-, YARDBIRDS-, HOLLIES- und, ab ´66, SMALL FACES-Anhänger. Manchmal brachte einer BRAVO mit, seltener MUSIK-PARADE. Ich war noch Ministrant, unbedarft, naiv, wußte nicht, was "ficken" bedeutete. Damals fingen die Unsicherheiten mit Mädchen an. Die Beat- und Pop-Musik brachte in mir etwas zum Schwingen und Glühen, das meine katholisch geprägten Wert- und Moralvorstellungen entzündete, durcheinanderbrachte und bisweilen überrollte.
Ich schrieb die Plazierungen der Hitparaden mit. "Inside looking out" war Anfang 1966 der letzte Hit von THE ANIMALS, bevor Eric Burdon im Namen auftauchte. Das Stück war ein wüster Kracher, ekstatisch, mit wilden "Yeah!"-Schreien, vom Rhythm´n´Blues in neue Bereiche vorstossend. THE ROLLING STONES kamen mit "19th nervous breakdown". Wow! dachte ich, es müßte geil sein, einen Nervenzusammenbruch zu bekommen, wenn es solche Musik zu dem Thema gibt. In der gleichen Hitparade waren THE YARDBIRDS vertreten. Mittlerweile ohne Eric Clapton, dafür mit Jeff Beck. "Shapes of things" wurde eines meiner Lieblingsstücke. Ich notierte die Plazierungen, um mit den Bands mitzuzittern, mich mitzufreuen, wenn sie zwei oder drei Plätze raufkletterten und einen Schlagerheini verdrängten. Es gab sonst nichts, was mir viel bedeutete. In der Beat- und Popmusik konnte ich dem Alltag entfliehen, der aus Aufstehen, Waschen, Kirche, Frühstück, Schule, Essen, Hausaufgaben machen etc. bestand. Zwischendurch etwas Freizeit. Woche für Woche, das ganze Jahr über. Nur in den Ferien durfte man nach Hause.
Nachts hörte ich heimlich "Radio Luxemburg", mit Wellenrauschen. Wenn ich die Antenne des Transistor-Radios per Draht mit der Heizung verband, bekam ich auch englische und holländische Piraten-Sender rein, vor allem Radio London, meinen Lieblings-Sender. In der Hitparade brachten sie Stücke nach oben, die in der offiziellen Top 20 nicht plaziert wurden. "Come see me" von den PRETTY THINGS kam Anfang ´66 heraus, ich war hin und weg. Das Schlagzeug-Gekloppe zu Beginn, dann der Hammer-Baß, schließlich die Kreissägen-Gitarre, die die angedeutete Melodie kreuzte und unterlief... Vom Gesang verstand ich kaum mehr als das wiederholte "Baby I´m your man", es störte mich nicht, im Gegenteil, ich wollte den Text nicht verstehen, ich hasste alle deutschen Schlager und Songs, ich wollte nur die Musik, ich wollte das Feeling. Sprache war moralischer Zeigefinger, Beat berührte mich unter der Haut. "Come see me" kam in der Radio London-Hitparade auf Platz 6, in die offizielle Top 20 gelangte es nicht. In Holland schaffte es eine Plazierung. In Holland waren, im Gegensatz zu Deutschland, sowohl KINKS als auch PRETTY THINGS Riesen-Acts.
Im Winter 65 hatten die HOLLIES einen Hit: "Look through any window" war wie mit Lippenstift auf ein Fenster geschmiert, hysterisch, sehr vital, ein Blumenstrauß leicht femininer explodierender Stimmen. Auch "I´m alive" im Sommer zuvor, später "I can´t let go": Wahnsinns-Stücke. THE HOLLIES waren großartig, um später eine Schnarch-Band zu werden und Schleim-Lieder zu liefern wie "The air that I breeze" und "He ain´t heavy, he´s my brother". Erschreckend dieser Abstieg von brillanten Musikern zu Lieferanten der Verblödungs-Branche. Berieselungsmusik für Reklamesendungen oder im Billig-Shop auf Butterfahrt. Auch bei den PRETTY THINGS ließ die Power nach. Sie fingen an, psychedelische Songs zu schreiben, dabei war der straighte Rhythm´n´Blues ihre Stärke gewesen: Die ersten LPs, 1964-66, waren TOP, eine Mischung aus krachlauten schnellen und langsameren Blues-Stücken wie "She´s fine, she´s mine", "Don´t lie to me". Das Rohe faszinierte mich. Auch bei Hits wie "Honey I need", "Don´t bring me down" und "Rosalyn". Phil May, der Sänger, hatte was Unaussprechliches, Schräges in seiner Stimme, aus dem Bauch kommend. Very hot!
Klassenkamerad "Tünnes" war der PRETTY THINGS-Fan in unserer Schule. "Die Stones sind die härteste Band, die PRETTY THINGS die heißeste". Wer wollte da widersprechen, waren doch Schlagzeuger und Bassist (?) während eines Konzerts in Australien so aneinandergeraten (= hatten sich verkloppt), daß die Tournee abgebrochen werden mußte. Ich war erschrocken und neugierig. Die Klopperei war echt gewesen. Fotos bezeugten es. "Mama, keep your big mouth shut" war in Holland ein Knaller, eine LP dort trug sogar diesen Namen. "Cry to me" war im Sommer ´65 in England ein Hit, auch in Holland. Die Version der P.T. war klar besser gewesen als die der Stones (auf LP). Die STONES und BEATLES, deren Musik ich auch toll fand, waren so allgegenwärtig, daß ich mich freute, wenn andere Bands hochkamen.
20. März 99. Erinnerungen steigen hoch, aus Kopf und Bauch, Bilder, vermischt mit Gedanken... Melodie-Sprengsel, Rhythmus-Fetzen, Baßlinien ...Farbige Bilder, x-mal gefilterte magische Momente... wie Inseln... Oasen in der grauen Wüste der katholischen Zuchtanstalt... Erst später kam ich vom spontanen Hören zum zielgerichteten... Im Internat habe ich nach Gefühl gehört, ich kannte keinen Fachjargon. Meine damalige kindliche Begeisterung empfinde ich heute als rührend: Ich kannte von etlichen Bands die Namen der Mitglieder. Ray Davies von den KINKS hatte die Lieblingsfarbe Braun. Den Namen seiner Frau habe ich vergessen. Mich interessierte, was er aß. Die Automarken fand ich unwichtig. Die eine Seite des Komponisten und musikalischen Allrounders Ray Davies: Balladen. Die andere Seite: Knallharte Beat-Nummern: "You really got me" 1964 erschienen, war die dritte Single und der erste große Hit. Heute ein Klassiker. "All day and all of the night" folgten, dann kam "Tired of waiting". Ehrensache, auch die einzelnen Stücke der LPs zu kennen, aufzählen zu können.
In der Schule wurde ich immer schlechter. Statt Freundin "hatte" ich Beat-Gruppen. Ich kam mir unnormal vor. Die Musik verselbständigte sich zu einer eigenen Welt und hatte einen absoluten Wert. Andere konnten, ohne mit der Wimper zu zucken, die schwierigsten mathemati- schen Aufgaben lösen. Ich konnte mir keine Formeln merken. Bei mir waren Zahlen in Melodien verpackt, in Strudel. Leere abstrakte Zeichen, auf die ich mich nicht konzentrieren konnte.
Ich geriet in Gegensatz zur offiziellen Internats-Linie. "Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und Gott war das Wort" hieß ein Satz, den sie mir im Religionsunterricht eingebleut hatten. Etwas daran verstand ich nicht. Es konnte nicht wahr sein! Zugleich war ich fixiert auf die Aussage. Beat und Pop waren Rauschmittel, um solchen Sätzen zu entkommen, die sich durch mein Hirn zogen wie ein endloser Bandwurm, irgendwie nicht zu begreifen und Schuldgefühle in mir erzeugend. Offenbar "tat" ich etwas, das dem Satz widersprach. Mein Gefühl, mein Erleben bezeugten dieses: Daß die Musik das Tiefste war. Scheiß-Sprache! - habe ich damals nicht zu sagen gewagt... Neurotisch sein bedeutet, keine Identität zu besitzen bei dem, was man empfindet und dem, was man denkt und nach außen zeigt. Ich war verklemmt. Ich geriet immer stärker in einen Zwiespalt. Erst später ist mir aufgegangen, wie wir im Internat manipuliert worden sind. Wir standen unter ständiger Kontrolle von außen. Es herrschte nach außen eine Art steriler Sauberkeit. Ich hasse einige Erzieher und Priester noch heute. So lange es ging, haben sie uns von "schlechter Musik" ferngehalten.
20.3.99 16 Uhr 27. Ist Musik ein Mittel, um repressive Strukturen zu erkennen? Innere wie äußere Unterdrückungsmechanismen! Unter welchen Bedingungen kann ich Musik mehr als "nur" konsumieren?! Etwas treibt mich vorwärts, löst sich in mir... Zauberei?... Ich werde aufgeputscht und spüre Aggressionen, die ich sonst eher verdränge. Etwas strömt ins Herz. Gefühl. "Feeling", "vibrations". Und Text? Ich HASSTE Text, wie ich bereits erwähnte. Noch heute kann ich mich auf Text kaum konzentrieren, wenn die Musik stark ist. Texte waren Hirnspeise. Im Dachstübchen war einiges bei mir okkupiert.
THE SORROWS auf CD. 1965 hatten sie den Hit: "Take a heart". Ohne Goofy wäre ich auf die Gruppe nicht abgefahren. "Take a heart" kannte ich, aber die LP war das eigentlich Grandiose. Kraftvolle, rhythm´n´blues-beeinflußte Stücke. Präzise gespielt, sexy. Und dann die Single "You´ve got what I want", ein aggressiver Heuler, wie im Rausch runtergehauen. KEIN Hit. "Let me in" war DER Abspritzer schlechthin, ich habe im Beat nie ein Stück gehört, in dem ein Orgasmus so direkt umgesetzt wurde. Damals habe ich so etwas nicht zu denken gewagt... Ich war intelligent, sensibel, total schüchtern. Feinfühlig, was Klänge und Töne anbelangt. Leider falsch programmiert: Statt Gitarre oder Schlagzeug lernte ich Violine, stur nach Noten, steif, unemotional, es war der reine Zwang, ich galt als hochbegabt ...und war unfähig, eigene Empfindungen auf dem Instrument umzusetzen. Einfach gräßlich.
Die Internats-Regeln waren streng, rigide und genau kalkuliert. Ich war zu jung, um über den Tellerrand meines beschränkten Horizontes zu blicken. Ich bekam Ärger wegen "ungebührlichen Benehmens", fing an, abzudriften. Eher unbewußt. Beim Hören von Songs wie "I feel fine" von den BEATLES, "Little red rooster" von den STONES, "I can´t explain" von THE WHO, usw. usw., ich könnte Dutzende Stücke diverser Gruppen aufzählen, hatte ich ein deutliches Gefühl, überkamen mich Glücksmomente, der Kopf quasselte nicht dazwischen. Ich hatte einen ständigen Gefühlsüberschuß. Nachts träumte ich von der Mutter meines Freundes Georg und onanierte. Und bekam Schuldgefühle. Immer stärker. Scheiß katholische Morallehre! Pop und Beat waren mein Elixier, ich ließ mich mitreißen, verzaubern, treiben. Pop war damals noch kein Schimpfwort. Die BEATLES, STONES, KINKS usw. waren Idole und in unseren Augen Ehrenmänner, nicht Heilige; mehr Vorbilder, als dies Sportler oder Politiker waren.
Ich schwärmte für alles, wovor ein THE stand, bewunderte an Bands die äußere Geschlossenheit, das Zusammenspiel der Mannschaft, die ich nicht war und zu der ich gern gehört hätte. Ich steckte in einem Vereinzelungs-Prozeß, von dem ich mich in einer unbegreiflichen Weise bedroht fühlte, und litt schweinemäßig - wie andere auch. Pubertät.
Anfang/Sommer 65 hatten THE YARDBIRDS ihren zweiten großen Hit: "Heart full of Soul". Ein balladenartiges Stück, das ich nicht "schön" fand, das mir aber irgendwie unter die Haut ging. Es war Ewigkeiten entfernt von Schlager- und Kirchenmusik, die ich mir regelmäßig an- hören mußte und bei der ich anfangs mitsang. Das YARDBIRDS-Stück wanderte durch meinen Kopf. Ich hatte irgendwo da oben einen Plattenspieler. Der leider auch losging, wenn man es nicht wollte und absolut nicht brauchen konnte. Meine Schulzensuren wurden immer schlechter.
Goofy brachte in den holländischen Imbiß ein Tonband mit, auf dem LPs von den YARDBIRDS und DOWNLINER SECT waren. Noch so ein Moment, den ich nicht vergesse. Die LP- und EP-Stücke der YARDBIRDS gefielen mir besser als ihre Hits: "I´m a man", "I´m not talking", "I ain´t done wrong" waren aggressive, rauhe R&B-Stücke. Und dann DOWNLINER SECT, eine Gruppe, deren Namen ich nie zuvor gehört hatte. In Schweden hatten sie einen Hit, sagte Goofy, "Little egypt". Ich habe die LP einmal gehört, dann viele Jahre nicht mehr. Später habe ich sie mir gekauft. DOWNLINERS SECT waren eine der besten englischen Club-Bands, die R&B spielten, aber auch von Country beeinflußt waren. Aus der vagen Erinnerung eines geilen Feelings heraus erinnere ich mich an einzelne Stücke. Musikalisches Gedächtnis: Ein Zauber irgendwo gespeichert, eine Melodie, eine Aggression, ein Fetzen. Sex. 1964 hatten THE NASHVILLE TEENS einen Super-Hit: "Tobacco road", Rhythm´n´Blues vom feinsten. Der Rest ihrer Songs war Mittelmaß, fand ich. Immer wieder gab es einzelne Stücke von Bands, die einen umhauten, einen Kick verschafften im Zwangs-System des Internats. Statt Mädchen hab ich Platten gesammelt bzw., als ich ein Tonbandgerät bekam und mit ins Internat nehmen durfte, 1967, auf Band überspielt. Na und? denke ich heute. Damals habe ich mich etwas geschämt. Ich wäre gerne "normal" gewesen, oder was man so darunter versteht... hätte gerne eine Freundin gehabt. Statt zu ficken habe ich meinen Musikgeschmack kultiviert, meine Platten-Sammlung erweitert. Onaniert. Es war geil. Und einsam. Irgendwann kam ich nicht umhin, einen Psychiater aufzusuchen.
1965 brachte das Fernsehen zum ersten Mal Uschi Nerkes BEAT-Club. LIVE-Musik törnte mich nicht an, aber Uschi war sexy, mit Mini-Rock, definitiv gut aussehend. Ich mochte diesen TYP. Bloß: statt der live vorgetragenen Musik hörte ich lieber perfekt eingespielte Konserven. Ich war fixiert auf Studio-Musik. Ziemlich doof, finde ich heute - damals war ich wie dressiert. In der ersten Beat-Club-Sendung spielte eine deutsche Gruppe: THE YANKEES das Stück "Halbstark"...na ja...äh... "Halbstark, o baby baby halbstark..." Hmm -aber immer noch besser als Roy Black oder Freddy oder Ronny oder wie diese deutschen Schnarcher und Langeweiler sonst noch hießen. Der schlechteste Beat war besser als dieser Spießer-Kram.
Im Unterschied zu heute war die damalige Musik-Szene nicht so demokratisch durchstrukturiert bis in kleinste Unterabteilungen. Es gab die großen Plattenfirmen, ein paar Zeitschriften, paar Fan-Clubs - das war es schon. Daß es so sensationell war, unerreichbar, war das Aufregende. BEAT-Club war etwas absolut Besonderes und blieb über Jahre die einzige Sendung dieser Art im gesamten deutschen Fernsehen (1x im Monat!). Die Idole und Stars lebten abgehoben und getragen von der Begeisterung der Fans. Ich hatte damit keine Probleme. Ich wollte ihnen nicht nahe sein, sie als "Menschen" erleben. Ich ahnte wohl, daß es mit der Verzauberung vorbei gewesen wäre. Mir reichte es, irgendwann Poster an die Wand hängen zu dürfen und Platten zu sammeln, Musik-Expreß und andere Gazetten zu lesen und einen Platz im Himmel für meine Lieblinge freizuhalten.
Im Internat bekamen sie die Begeisterung mit. Auf Dauer half kein Verbot, im Gegenteil, durch das Heimliche wurde englische und amerikanische Musik zusätzlich interessant. Und zusätzlich auch die Lebenseinstellung, die mit der Musik in die Köpfe und Herzen transportiert wurde. Sie versuchten alles, um uns davon wegzubringen. Einmal hörten wir im Musikunterricht "Poor boy" von den LORDS und "Satisfaction" von den ROLLING STONES. Das Ergebnis der Analyse: Die LORDS konnten nicht richtig englisch und die Stones-Musik war von ihrem Wert weit unter klassischer Musik anzusiedeln. Das Feeling, das diese Gruppen rüberbrachten, interessierte unseren Lehrer nicht. Die Lords singen an einer Stelle "My mother learn me to say..." Es hätte"teach me" heißen müssen. Mir war es wurscht. Die LORDS waren, neben den RATTLES, die deutsche Band. Die Lords waren nicht gerade Intellektuelle, und Achim Reichels RATTLES waren auf Dauer bessere Musiker, aber Mitte der sechziger haben THE LORDS knallharten Beat gespielt. Konkurrenzlos in Germany. Ein starker Baß, saubere Guitarren, die Jungs hatten "Holz vor die Hütte". Die Linie war einfach und stimmte. Sie waren Machos und Rüpel in Uniform: Frack, Rüschenhemd, in Stufen abgesetzte Hosen, Beat-Stiefel und spielten "Shakin all over", besser als die englischen SWINGING BLUE JEANS. Der Song wurde häufig gecovert, keine Version reichte an die der Lords heran. Knaller waren auch "Greensleeves", "Poison Ivy", "What they gonna do" und "Don´t mince matter". Den letzten Song empfehle ich auch heute zum Hören. Wo gibt es ein Stück aus jener Zeit (: 1966), wo der Sänger mehrmals bewußt stottert?! "T-t-t-tell me, my girl", ein Sprechfehler als Rhythmus-Mittel, das war einmalig. Die LORDS hatten ihre beste Zeit von ´64 bis ´66. Kurz darauf kam der musikalische Abstieg. Sie wurden mit Stücken wie "Gloryland" oder "John Browns body" Wegbereiter der späteren Fußball-Fans-Kultur, als Party-Band waren sie nach wie vor erfolgreich, aber für mich hatten sie ihre Ausstrahlung verloren. Neulich sah ich sie im Fernsehen, sie spielten "Poor boy", nun mit "My mother teach me..." Irgendwie peinlich fand ich, der didaktische Zeigefinger hatte gesiegt.
THE WHO hatten ihre besten Stücke mit "I can´t explain", "Anyway anyhow anywhere", "My generation", "A legal matter" -fand ich- und einigen Songs von ihren ersten LPs. Die WHO gehörten zu den Bands, die es schafften, einen breiteren Publikumsgeschmack zu prägen. Für mich wurde es dann Zeit, mich nach unbekannteren Bands umzusehen. Mainstream zu werden erschien mir wie Verrat. CUBY & THE BLIZZARDS hatten in Holland Riesenerfolge, waren die holländische R&B-Band, ich mochte ihren Hit "Another day, another road", aber auch andere Songs wie "Window of my eyes". ROB HOEKE´S R & B BAND war die zweite großartige holländische R&B-Formation, die ich jedoch erst in den 70ern gut zu finden begann.
Vor 2 Jahren starb Ronny Lane von THE SMALL FACES an Multipler Sklerose. Steve Marriot, Lead-Guitarrist und Sänger, war dem Bassisten bereits Anfang der 90er vorausgegangen, "bei einem Wohnungsbrand umgekommen". "Shalalalalee" hieß der große Hit und Gassenhauer Anfang 1966, mit denen sie nicht nur in England einen Riesenhit landeten und sich im Laufe von zwei Jahren zu einer absoluten Super-Gruppe mauserten. Ich mochte Stücke wie "Hey girl", "It´s too late", "I can´t dance with you", "Own up time", "Understanding" usw. usw. Im Gegensatz zu den PRETTY THINGS scheiterten THE SMALL FACES nicht mit dem Versuch, anspruchsvollere Musik zu machen und brachten, kurz vor dem Auseinandergehen noch das Konzept-Album "Odgens Nut Gone Flake" heraus, das ich heute noch gerne höre. Die SMALL FACES waren eine der musikalisch besten und originellsten Bands der 60er Jahre, die einen unverwechselbaren Sound prägten. Wie gut sie waren, auch als Komponisten, wird erst heute klar. Wenn ich einen Großkotz wie den Sänger von OASIS herumtönen höre, seine Band sei "Die Beatles der 90er", würde ich etwas Bescheidenheit gut finden. Ich bezweifle, daß OASIS das Niveau der SMALL FACES erreichen.
1965/66 kamen Bands wie THE SPENCER DAVIS GROUP, DAVE DEE DOZIE BEAKY MICK & TICH, THE TROGGS. Im Nachhinein scheint es mir so, daß mit diesen Bands zum einen die Inflation von Super-Gruppen begann und zum anderen das musikalische Handwerk immer mehr in den Hintergrund gedrängt wurde. Es ging um POP pur - die Wurzeln R&B wurden mehr und mehr verdrängt, je gigantischer die Geschäfte florierten. THE SPENCER DAVIS GROUP hatte mit "Strong love" ein erstes jazzartiges Mini-Hitchen (noch ´65), bevor dann "Keep on running" rausgekloppt wurde und munter ein Hit dem anderen folgte. Steve Winwood stieg aus und formierte eine eigene Band, THE TRAFFIC, er war der originellste Musiker der Band gewesen. Man musste sich spezialisieren und ständig Zeitschriften wie MusikExpreß lesen, um Neugründungen und Umformatierungen halbwegs aktuell mitzubekommen. DAVEDEE & CO brachten einige wenige großartige, vitale Songs wie "You make it move" und "Hideaway", bevor sie mit Liedchen wie "Bendit", "Zabadak" usw. immer mehr verflachten und mit ihrem harmlosen Sandkasten-Pop zwar eine große Fan-Gemeinde bedienten, aber musikalisch total bedeutungslos wurden. Längst war die große Geldmache angesagt. Während sich bei Bands wie BEATLES, STONES, KINKS, SMALL FACES, WHO Einnahmen und musikalisches Talent wenn nicht die Waage hielten, so doch in einer erkennbaren Relation zueinander standen, konnten davon bei Davedee und anderen kaum die Rede sein. Längere Zeit hielten sich THE TROGGS in den höheren Gefilden der Hitparade und Pop-Musik-Szene mit Super-Hits und harten Beat-Stücken wie "Wild thing", "I can´t control myself", "Give it to me". Sie hatten auch ein paar nachdenklicher wirkende Songs wie "Love is all around", "Anyway you want me". Ich mochte Stücke wie "Night of the long grass" und "Cousin Jane", aber auch die TROGGS verschwanden bald in der Versenkung - um später zeitweise bei Revivals mitzutouren. Damals hatten ihren ersten Hit "Pictures of matchstick man"; ich will sie hier nicht besonders hervorheben. Ich fand bei SQ Durchhaltevermögen und kommerzielle Cleverness immer stärker als ihr musikalisch-künstlerisches Potential.
Ich merke beim Schreiben, jetzt, 12. Mai 99, daß sich ursprüngliches Erleben und späteres Fachmannwerden stark vermischen. Es gibt noch einige Bands, die mit Einschränkungen im Zusammenhang mit Prä-Punk und Sixties-Beat erwähnt werden müssen. Zum Beispiel die Ami-Gruppe THE SHADOWS OF KNIGHT, die 1966 einen Hit hatten mit "Gloria" (in England landete THEM damit in den Charts). Ich mochte das Stück nicht besonders. Viel stärker fand ich "Oh yeah", "Light bulb blues" oder eine Klopper-Nummer wie "I´m gonna make you mine". Der Sound erinnerte an den R&B der YARDBIRDS zu ihrer wildesten Zeit; der Sänger klang eindeutig amerikanisch. Wenn ich heute den Begriff "Garagenpunk" höre, fallen mir automatisch immer zuerst THE SHADOWS OF KNIGHT ein.
PAUL REVERE & THE RAIDERS waren klar kommerziell ausgerichtet, hatten sogar eine eigene Fernseh-Show - das war mir mit 14 egal. Songs wie "Kicks", Hungry", "Steppin´ out" oder "Good thing" haben mich damals elektrisiert. THE MONKEES, die bald danach hochkamen, haben mich nie angetörnt. Sie waren brav und bieder, nett, poppig. PAUL REVERE & THE RAIDERS fand ich vergleichsweise ekstatisch. An den MONKEES gab es nix originelles mehr oder höchstens dies: Daß sie ein total künstliches, von der Unterhaltungs-Industrie aufgebautes Produkt waren. Die großen Geschäftemacher interessierte nur der kommerzielle Erfolg. Andy Warhol & THE VELVET UNDERGROUND haben damit Underground-Geschichte geschrieben. Aber während die an wirklich heiße Themen gingen und originäre Künstler waren, wurde mit THE MONKEES sauberer Kindergarten-Pop produziert, der niemandem wehtat und Umsatzrekorde erzeugte.
1966. Ich sitze im Aufenthaltsraum des Internats und hörte "7 & 7 is" von LOVE. Es ist irre. Beim ersten Mal hatte ich nur die Sensation bemerkt, beim zweiten Mal kam der Genuß. Ich bin wie verzaubert. Draußen liegt Schneematsch, häßlich. Ich habe ein feeling wie Sex. Die Sonne geht auf, eine Göttin erscheint und macht dir´s Herze weit. "7 & 7 is" war wochenlang meine Hymne. Arthur Lee singt kantig, drauflos, ´ne Art Sprechgesang, der in zwei Breaks gipfelt. Und nach der Atombomben-Explosion (bei einem Test in Arizona aufgenommen) plätschert das Stück dahin, aber angenehm, als ob jemand den Stecker rausgezogen hätte. Ich liebe solche Stücke, die keine Hits werden. Platz 69 in den USA. Noch heute ist es mir schwer begreiflich, daß es solche Musik gibt. Es ist eine Art Wunder. Ich konnte mir eher zehn Hitparadenplazierungen merken als eine chemische Formel. LOVE hatten in den USA einen wirklichen Hit, nämlich "My little red book". Wahrscheinlich kann man solche Stücke mit diesen Brüchen, mit dieser Wildheit und dann auch Balladen, nur machen, wenn man viel Sex hat, Drogen nimmt oder sich einfach vornimmt, jeden Tag ekstatisch zu leben. Ich besitze u.a. eine LIVE-LP von LOVE, die ich bis heute nicht mag. Bin da verwöhnt durch perfekte Studio-Einspielungen.
Wer nach den Ursprüngen der Underground-Musik und des Garagen-Punk forscht, dürfte an THE ELECTRIC PRUNES nicht vorbeikommen. Die 1966 gegründete Band aus L.A. kreierte aggressiven, psychedelischen Rock und gelangte bald darauf in die Charts mit "I had too much to dream last night" und "Get me to the world on time". Ihre zwei oder drei LPs, von denen auf Hilversum III in der Sendung "Teen R" Stücke gespielt wurden, enthielten eine Reihe sehr vitale eingängige Stücke nebst balladenartigen Songs. Ca. Anfang 68 irritierten sie mich mit der LP "Mass in F-Minor", wo sie das "Credo", "Kyrie eleison" und andere Kirchenlieder psychedelisch-rockig vertonten. Ich war innerlich mittlerweile total gegen Kirche eingestellt, mochte mich aber den Reizen dieser Musik nicht verschließen.
In England gab es den Mersey-Beat von Bands wie WAYNE FONTANA & THE MINDBENDERS, JERRY & THE PACEMAKERS, THE FOURMOST, THE MERSEYBEATS, THE ROCKIN´ BERRIES im Sog vor allem der BEATLES. Sie machten melodiösen, ungebrochenen Pop, teilweise R&B-angehaucht. Aber wer war das damals nicht in England. Selbst THE MOODY BLUES, denen Härte und Wildheit kaum nachgesagt werden dürfte, musizierten bisweilen in der Tradition des R&B (einmal konnten wir es selber live im Beat-Club verfolgen).
THE SWINGING BLUE JEANS waren bereits 1963 gestartet, kamen vom R&B her, auch SKIFFLE, und hatten Erfolg mit Gassenhauern wie "Hippy hippy shake", "Good golly miss molly" etc. Sie hatten ein paar schöne poppigere Songs wie "You´re no good" und "Don´t make me over", swinging, wie der Name sagte, aber am beeindruckendsten, weil schräg und seltsam hat sich bei mir für immer ihr "Make me know you´re mine" von 1965 eingeprägt. Es fasziniert mich, wie sie mit Hall-Effekten spielen. "Make me FEEL" - sie schreien beinah. Wüst und zugleich kontrolliert. Es summt in meinem Schädel vom düsteren Baß und glockenhell peitschenden, schräg gegen die Baß-Linie anzwitschernden Gitarren-Beat. Der Nachhall der Musik versetzt mich in Ekstase, strukturierte Aggressivität, die die Gehörgänge so zum Schwingen bringt, daß der Sound sich verselbständigt und das Stück von alleine weiterläuft, selbst wenn es zuende ist...
1966 hatten THE EASYBEATS, Australier, ihren ersten großen Erfolg mit "Friday on my mind". "Heaven & hell" folgten sowie andere kleinere Hits wie "Who´ll be the one", bis sie dann mit "Hello, how are you" einen weicheren Sound kreierten und auch damit Erfolg hatten. Ende der 60-er habe ich sie aus den Augen (und Ohren) verloren.
THE CREATION hatte, nur in Deutschland, den Hit "Painterman". Ähnliche Eintagsfliegen waren CASEY JONES & THE GOVERNORS, die mit "Don´t hahaha" einen deutschen Nr.1-Hit hatten. "Jack the Ripper" gefiel mir besser. Das hatte, fand ich, ´ne Menge Power und Drive, reichte aber an die Großen nicht ran. Die Band war total unintellektuell, ziemlich doof, ähnlich aber nur fast so gut wie die LORDS.
Drafi Deutscher muß erwähnt werden. Obwohl man Gefahr lief, die Texte zu verstehen, ja man nicht umhin kam, daß die eine oder andere Zeile die emotionale Abwehr durchbrach, mit der man sich gegen die Welt der Gebote und Rationalisierungen abschottete, konnte ich mich für ihn erwärmen. Mein damaliger bester Freund stand auf D.D., und Stücke wie "Shake hands" oder "Cinderella Baby" kann ich mir noch heute anhören, ohne die Lärm-Quelle mit Hammer oder Axt bearbeiten zu müssen. A bisserl Kitsch darf sein, gelle, schließlich geht´s um Gefühle?
Auch die TREMELOES, diese Schnarcher mit ihrem Honig-Clip: "Silence is golden", hatten mal gute Ansätze: "I want candy" und "Do you love me". Mit dem kommerziellen Erfolg kam die totale Anpassung an den breiten Publikums-Geschmack. Es war halt nicht genügend musikalische Substanz da, um den Publikums-Geschmack selber zu prägen, das war nur Bands wie den BEATLES, STONES, KINKS, SMALL FACES usw gegeben. Von den Tremeloes zu THE DAVE CLARK FIVE isses ein kleiner Sprung. Auch DC5 hatten einen Hit namens "Do you love me", ansonsten gab es von ihnen noch andere wunderbare, mir unter die Haut gehende Stücke wie "Glad all over", "Bits & peaces", "Try too hard", "Catch us if you can". 1964-67 waren ihre besten Jahre. DC5 waren jazzig angehaucht, brachten äußerst vitalen Fun-Rock´n´Roll vom Besten, kommerziell waren sie immer gewesen, aber das hat mich anfangs nicht gestört. Als nichts mehr lief, sind sie auf die Rock´n´Roll-Masche verfallen. DC5 war eine der ersten Bands, die Fußballstadien füllte. Mit purem Mainstream bzw. drittklassiger Musik. Und THE FORTUNES. Na ja. Mit "You´ve got your troubles" und "Here it comes again" hatten sie Riesenhits gehabt, noch ein zwei kleinere Bonbons ("This golden ring" und "Caroline"), dann kam nichts mehr. Abstauben bei irgendwelchen Oldie-Konzerten. Heute nerven sie mit schlechten Neu-Aufnahmen alter Hits. Toter, öder Kram; geglättet, parfümiert, musikalischer Konformismus... Zwischen Pop und Schleim ist der Übergang ein fließender...
Raimund Samson
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #36 III 1999 und