Eines der faszinierendsten amerikanischen Independent-Comics der letzten Jahre ist nun endlich in gesammelter Form erhältlich: Sean Dietrichs Graphic Novel „Industriacide“, erschienen bei Rorschach Entertainment aus Seattle, ist eine 120-seitige Abrechnung mit der Konsumgesellschaft, Meditation über Psychose, Sucht, Gewalt und seelische Abgründe, sowie ein brutal-poetisches Manifest der Freiheit.
Drei junge Menschen in einer feindseligen verfallenden Welt aus giftspuckender Industrie und kafkaesken Gassen gehen durch die Hölle: Natalie, alleinige Erbin einer mysteriösen Fabrik, die unaufhörlich elektronische Konsumprodukte ausspuckt und ein grausiges Geheimnis birgt. Schmaltz, der als kleiner Junge seine ihn misshandelnde Mutter ermordet, und Jahre später, aus einer monströsen Psychiatrie entkommen, als Obdachloser in der Gosse auf der verzweifelten Suche nach einem neuen Leben ist. Und Jake der – von seinem Gefährten, dem imaginären Teddybären Ernie, konstant auf Drogen gehalten – alle Hände voll zu tun hat, nicht den Verstand zu verlieren. Alle drei sind in ihren eigenen alptraumhaften Existenzen gefangen. Alle drei versinken für sich immer tiefer in Strudeln aus Gewalt, Missbrauch und Schmerz. Und doch verbindet sie ein Hunger nach Freiheit, der sich in einer Eruption von Zerstörung und daraus resultierender Hoffnung auf Neuanfang gewaltvoll Bahn bricht.
Harter Stoff, der kein tradiertes konstruiertes Konzept von Gut und Böse anerkennt, changierend zwischen finsterster Grimmigkeit, grotesk-surrealen Traumsequenzen und handfester Gesellschaftskritik in einer Ästhetik, die an Filme wie „Eraserhead“ oder „Seven“ erinnert, gezeichnet in einem absolut einzigartigen, morbid-expressiven Cartoonstil from hell. Dabei hatte Autor und Zeichner Sean Dietrich, der in San Diego, Kalifornien lebt, am Anfang seiner Arbeit an „Industriacide“ eher vage Zielsetzungen.
„Ich wollte einfach nur ein fieses, kleines Comic machen. Sachen aus meinem Kopf heraus kriegen. Ein Ventil finden für meinen Hass auf die viele Scheiße, die ich in der Welt so sehe, und eine Möglichkeit schaffen, Gefühle auszudrücken, die ich in anderer Form so nicht mitteilen könnte. Im Laufe der Jahre kamen dann die sozialkritischen und psychologischen Untertöne dazu. Nicht, weil ich eine wie auch immer geartete Form politischer Überzeugung kommunizieren wollte oder ‚Industriacide‘ als Instrument irgendeiner Form des Aktivismus betrachte, sondern einfach um die Welt der Geschichte dichter und greifbarer zu machen, strukturelle Ähnlichkeiten mit unserer Gesellschaft herauszuarbeiten, und somit eine höhere Identifikation für die Leser zu ermöglichen.“
Seans Verachtung gilt jenen, die sich ausschließlich durch Haben und Konsum bestimmter Produkte und Marken definieren. Leuten, die Trost in Labels suchen und das monatliche Aufstocken ihrer Besitztümer als Fortschritt und persönlichen Wachstum betrachten, begegnet er mit Skepsis. Und doch fasziniert ihn die Bigotterie, die er in Teilen der kapitalistischen und insbesondere der US-amerikanischen Gesellschaft beobachtet: Die bedingungslose Hingabe an Verwertungsstrukturen, die Huldigung der Oberfläche und nicht zuletzt die widersprüchliche Haltung gegenüber Drogen. Eine Schizophrenie, die sich in „Industriacide“ vor allem in Gestalt von Ernie und Jake widerspiegelt.
„Die USA sind besessen von Drogen. Drogen gelten als das Böse schlechthin, und die Jugend muss vor dem Bösen bewahrt werden. Die Heuchelei dabei ist echt zum Kotzen. Überall Anti-Drogen-Kampagnen, während ein Großteil der Bevölkerung munter Antidepressiva poppt, tonnenweise Schmerzmittel und Anti-Aging-Pillen frisst und versucht, mit Medikamenten ihre Schwänze zu verlängern. Total krank. Dennoch, Drogen und ihre User sind schon irgendwie ein faszinierendes Sujet. Jeder, der einen solchen Haufen Scheiße in seinen Körper ballert, und immer noch lebt, hat meine Aufmerksamkeit. So kann Jakes Drogengebrauch in ‚Industriacide‘ einerseits als kritischer Kommentar hierzu gelesen werden. Andererseits ist die Beharrlichkeit, mit der Ernie Jake unter Stoff hält, aber auch ganz einfach Ausdruck schwarzen Humors.“
Von der künstlerischen Gestaltung her ist „Industriacide“ ein Lehrstück in Sachen effektvollen Gebrauchs von Schwarzweiß-Kontrasten, innovativen Layouts und ausgefeilten, hintersinnigen Charakter-Designs. Die zum Teil mit Rasierklingen bearbeiteten Seiten vibrieren mit einer nervös-verzweifelten, potenziell gewalttätigen Energie und führen das sinistre Kindchenschema der Figuren ad absurdum. Schwarz ist dominant, und die allseits drohenden Schatten explodieren mitunter wie in einem Aufschrei von Wut und Aggression. In Verbindung mit der non-linearen Erzählweise und mitunter verwirrenden Sprüngen zwischen Traum und Realität, macht Seans Zeichenstil „Industriacide“ zu einem Comic, das in seiner Vielschichtigkeit und Intensität dem Leser eine Menge abverlangt. Durchaus gewollt, wie Sean sagt:
„Es ging mir beim Artwork in erster Linie darum, die scheinbare Unschuld meiner Figuren mit ihrer Welt zu kontrastieren. Ihr Ausgeliefertsein herauszuarbeiten und die bedrohliche Atmosphäre der Geschichte so wirkungsvoll wie möglich umzusetzen. Und ich kam zu dem Schluss: Je größer das Chaos, desto besser.“
Bei aller inhaltlichen Heaviness und ästhetischen Finsternis ist „Industriacide“ hierbei vor allem auch ein Aufruf, den Arsch hochzukriegen und die Initiative über das eigene Leben zu ergreifen. Wissen über die Welt anzusammeln und produktiv umzusetzen, ohne das Ziel möglichst viel Kohle zu machen, dick dazustehen oder einen „Markt“ zu finden, ist Sean wichtiger als die Anerkennung durch den Mainstream. Interessanterweise sieht er sich in seiner Arbeit weniger durch Comics, als vielmehr durch Musik, insbesondere Industrial, beeinflusst. So liest Sean seit über zehn Jahren außer einigen Indie-Titeln kaum noch Comics und schon gar keine der einschlägigen typisch amerikanischen Superheldenhefte, die trotz schwindender, vor allem an Manga abgetretener Marktanteile immer noch von vielen mit dem Medium an sich assoziiert werden. „Superhelden habe ich aufgegeben, kurz nachdem ich in der High School angefangen hatte, Comics zu lesen. Jeden Monat derselbe dämliche Bullshit, das wurde mir ganz schnell langweilig. Ich fand es allerdings damals schon großartig, wie im Comic Kunst und Narration verschmolzen werden können, und so begann ich, selbst damit zu experimentieren. Als ich dann Underground-Comics und anspruchsvollere Titel wie ‚Sandman‘ und ‚The Maxx‘ für mich entdeckte, war mir klar, dass es tatsächlich ein Publikum für diese Art von Material gibt. Von da an wusste ich: Das will ich machen. Für die großen Superhelden-Verlage wie etwa Marvel würde ich aber nie im Leben arbeiten wollen. Eher würde ich mir die Pulsadern aufschneiden als Superhelden zu zeichnen! Außerdem mag ich meine Unabhängigkeit und habe gern die komplette Kontrolle über meine Arbeit. Ich bin ziemlich sicher, dass du die Leidenschaft mit der im Independent-Bereich gearbeitet wird, bei den großen Produzenten so nicht finden wirst.“
Eine Fortsetzung von „Industriacide“ ist geplant, allerdings nicht für die nähere Zukunft. Was nicht heißt, dass Sean unter Langeweile zu leiden hat: „Ich habe schon tonnenweise Ideen gesammelt, aber irgendwie war mir nicht danach, gleich mit dem nächstem Kapitel weiterzumachen. Ich meine, ich habe immerhin zehn Jahre an ‚Industriacide‘ gearbeitet. Da wäre es schwer, mit derselben Leidenschaft nahtlos anzuknüpfen. Ich arbeite momentan an einigen Projekten, unter anderem am Skript zu meiner nächsten Graphic-Novel ‚Heart Murmur‘, über einen alten Mann, eine illegale Herztransplantation, zehn Millionen Kakerlaken und einer Stadt mit Ego. Das dürfte ganz nett werden.“
Klingt nicht schlecht! Sollte der Comic-Shop eures Vertrauens „Industriacide“, das bislang nur in Englisch vorliegt, nicht in der Import-Ecke vorrätig haben, kann die Graphic Novel direkt beim Verlag bestellt werden.
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #54 März/April/Mai 2004 und Ulf Imwiehe