RUSTIC

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Chinese Anarchy

Wenn einer eine Reise tut, so kann derjenige oft nicht nur recht spannende Geschichten erzählen, sondern hat mitunter auch das eine oder andere hübsche Mitbringsel im Gepäck. So auch der geschätzte Kollege Jörg Harley vom Pankerknacker-Fanzine, welcher die gesamte zweite Jahreshälfte 2008 als Praktikantensklave für eine TV-Produktionsfirma im fernen Peking zubrachte und trotz diverser Frondienste, unter anderem als Equipment Manager und Kabelträger während der Olympia-Berichterstattung, doch noch ausreichend Gelegenheit fand, um auf die große Mauer zu klettern, die Wüste Gobi zu durchschreiten und natürlich auch die dortige Punk-Szene aufs Genaueste zu begutachten. Eine fast noch blutjunge Rasselbande namens RUSTIC (auf Deutsch „rustikal“ oder auch „dörfisch“) schien es dem braven Knaben dabei wohl ganz besonders angetan zu haben und nach gerade mal einem einzigen Durchlauf ihrer 2008 erschienenen Demo-CD (siehe Review in diesem Heft) war auch ich schlagartig infiziert: Unglaublich leidenschaftlicher und enthusiastischer Pop-Punk, der schon wegen der hinreißenden Heliumstimme des Sängers und Gitarristen Lucifer seine enge Verwandtschaft zu den TOY DOLLS nicht verleugnen kann, aber aufgrund diverser verschrobener New Wave-, Irish Folk- und sogar Kanto-Pop-Elemente auch über eine ganz besondere, eigenständige Komponente verfügt. Durchaus Grund also, dem guten Lucifer einige Fragen zukommen zu lassen und sich auf den neusten Stand bringen zu lassen, bezüglich „Chinese Democ..., äh, Anarchy“ natürlich!

Zunächst einmal: Wer seid ihr überhaupt und wie kämpft ihr euch so durchs Leben?

Mein Name ist Li Yan, auch bekannt als Lucifer. Ich bin 20 Jahre alt, spiele bei RUSTIC Gitarre und singe und habe gerade mein klassisches Musikstudium begonnen, Klarinette. Außerdem bin ich noch Gitarrist bei einer weiteren Band namens GUM BLEED. Unser Schlagzeuger Li Fan ist 19 Jahre alt, muss sich mit ungefähr hundert verschiedenen Tagelöhner-Jobs durchschlagen und ist trotzdem ständig pleite. Lu Kai spielt bei uns den Bass, ist 20 Jahre alt und arbeitet in einer Stahlfabrik. Unser alter Bassist ist leider zu vier Jahren Gefängnis verurteilt worden, aber sobald er wieder draußen ist, wird er definitiv wieder in die Band aufgenommen!

Wann ist es mit der Band losgegangen und was würdet ihr als eure maßgeblichen Einflüsse bezeichnen? Habt ihr vorher auch schon in anderen Gruppen gespielt?

Die Idee, eine Band zu gründen, kam uns, als wir im März 2006 am Bahnhof der Stadt Shijiazhuang abhingen. Der Name RUSTIC leitet sich von der Tatsache ab, dass wir in einer sehr kleinen Stadt mit ausgeprägtem bäuerlichen Milieu aufwuchsen. Bis zum Alter von 15 Jahren gehörte ich noch zu den Besten in meiner Schule, doch von da an ging es mit meinen Leistungen kontinuierlich bergab. Ich fühlte mich zunehmend einsam und unglücklich, angesichts der Lebenswege, die meine Mitschüler einzuschlagen gedachten, und wenn ich nicht angefangen hätte, Musik zu machen, wäre mir wohl sehr bald meine komplette Lebensfreude verloren gegangen. Ich kann einfach nicht so leben, wie es mir andere vorgeben wollen. RUSTIC ist meine erste Band – und auch der erste Versuch, mein Leben so zu leben, wie es mir richtig erscheint. Zu unseren größten Einflüssen zählen TOY DOLLS, POGUES, RANCID, SEX PISTOLS, Tom Waits, VELVET UNDERGROUND, SONIC YOUTH, BIRTHDAY PARTY und NEW YORK DOLLS.

Wie schwierig ist es, in China eine Band zu gründen? Ich vermute mal, dass nur die wenigsten Leute sich zum Beispiel vernünftige Instrumente oder Verstärker leisten können?

In mancher Hinsicht ist es wirklich nicht so einfach. Wir haben in der Tat kaum Geld für Equipment zur Verfügung und bei den Konzerten kommt auch nicht viel rum, da sich die Besucher, wenn überhaupt, nur geringe Eintrittspreise leisten können. Es ist mitunter schon vorgekommen, dass wir Teile unserer Ausstattung aus den Geschäften der Reichen stehlen mussten. Die meisten Leute und fast alle Firmen hier haben für Rockmusik nur Verachtung übrig und somit ist es auch aussichtslos, sich von irgendjemandem sponsern zu lassen. Man betrachtet uns eigentlich nur als Diebe. Da wir hier in China jedoch zu den absoluten Außenseitern gehören und kein „normaler“ Mensch auch nur im Ansatz etwas mit uns zu tun haben möchte, können wir uns sicher sein, dass jeder der hier der Szene angehört, auch wirklich mit ganzem Herzen dabei ist! Wir sind hier alle untereinander befreundet und jeder unterstützt jeden.

Habt ihr, mal abgesehen von eurer Demo-CD, schon irgendwelche regulären Veröffentlichungen am Start?

Bis jetzt noch nicht, aber wir stehen kurz davor, unsere erste richtige CD aufzunehmen, und wenn alles gut geht, wird sie wohl im Sommer auf Chinas bestem Label Maybe Mars erscheinen.

Gib mir doch bitte mal einen kleinen Einblick über die Szene, in der ihr euch so bewegt. Wenn ich das, was auf eurer MySpace-Seite geschrieben steht, richtig verstanden habe, seid ihr ja nach Peking gezogen, weil hier das Herz der chinesischen Underground-Szene schlägt. Was sind denn so die coolsten Bands und die besten Auftrittsmöglichkeiten?

Nun ja, China ist riesig und es gibt natürlich auch viele andere Städte, wo eine Menge los ist, aber seit hier 2006 das D22 eröffnete, ist Peking wirklich der „place to be“ und auch in punkrockmäßiger Hinsicht zur Hauptstadt geworden. Das D22 ist quasi die Homebase für alle wichtigen Bands, man kann dort hervorragend trinken, pennen, Freunde treffen und Shows für umsonst sehen. Unter anderem trifft man hier auch häufig JOYSIDE und DEMERIT an, unsere größten Helden im chinesischen Punkrock, und es war wirklich aufregend für uns, als wir sie kennen lernten. Weitere tolle Gruppen sind zum Beispiel CARSICK CARS und OURSELF BESIDES ME, die großartigen Postpunk spielen, oder auch MAFEISAN, absolut verrückte Jungs, die alles zerstören und dabei einen Höllenlärm fabrizieren. SNAPLINE hingegen sind mehr in der Industrial-Ecke unterwegs und ziemlich erfolgreich in den USA. Leider tritt unsere Lieblingsband JOYSIDE nur noch selten auf, aber Sänger Bian Yuan und Xiao Hong, der Gitarrist, haben mit LABF und THE MOLD zwei neue Spitzenprojekte am Start: Einfach nur purer Rock’n’Roll, wir lieben sie! Unsere besten Freunde sind die Streetpunker GUMBLEED und nicht zu vergessen die COOL KIDS, FLYXX und OVERDOSE, mit denen wir auch häufig spielen.

Was waren denn bislang so eure herausragendsten Live-Erlebnisse?

Zu meinen besten Live-Erfahrungen gehört mit Sicherheit die erste Show, die wir im D22 spielten, denn ich habe vorher natürlich allen möglichen Leuten gesagt, dass sie uns unbedingt sehen müssten, und auf der Bühne flippte ich dann total aus und gab alles. Das Beste daran war, dass es dem Besitzer des Clubs super gefiel und er uns nach der Show anbot, uns zu managen – wir waren überglücklich. Außerdem trat auch mal eine berühmte schwedische Popsängerin dort auf, jedoch habe ich leider ihren Namen vergessen. Nun ja, jedenfalls schien sie mich irgendwie zu mögen und so bat sie mich auf die Bühne, um einen Song mit ihr zu singen, und ich versuchte natürlich, eine Punk-Show daraus zu machen: Es war ungefähr so, als hätten Céline Dion und Michael „Olga“ Algar versucht, ein Duett miteinander anzustimmen, haha! Ich bin mir zwar nicht so ganz sicher, ob es ihr wirklich gefiel, aber zumindest hat sie mir angeboten, sie eines Tages in Schweden besuchen zu kommen.

Was wir in Deutschland über die chinesische Punkrock-Szene wissen, speist sich hauptsächlich aus Filmen, wie vor allem „Beijing Bubbles“ oder auch „Rock Heart Beijing“. Kennst du die vielleicht und falls ja, wie ist deine Meinung dazu?

Ich habe eigentlich nur „Beijing Bubbles“ gesehen, da er von JOYSIDE handelt. Sie führten damals noch ein ziemlich ärmliches Leben und am Anfang konnte niemand mit ihrer Art des Rock’n’Roll etwas anfangen. Doch der Film ist mittlerweile auch schon alt und die Rock’n’Roll-Szene hat seitdem kontinuierlich Zulauf erhalten. Aber auch wenn ich bis auf diesen keine anderen Filme über unsere Szene gesehen habe, kann ich mir doch nur schwer vorstellen, dass sie das wahre Leben hier repräsentieren. Ich glaube, den meisten ausländischen Filmemachern geht es nicht wirklich um das, was wir machen, sondern nur um den für sie spannenden und „exotischen“ Fakt, dass wir Chinesen sind. Mir wäre es ehrlich gesagt lieber, sie würden sich einfach nur auf die Musik konzentrieren.

Wie reagiert die chinesische Gesellschaft heutzutage auf so eine Gang von 77-gestyleten Punks wie euch? Ich denke zwar, China hat sich wohl in den letzten Jahren zunehmend dem Westen geöffnet, aber letzten Endes ist es doch immer noch ein kommunistisches Land, oder nicht? Gibt es viel Ärger mit der Polizei? Und wie denken eure Familien über euren Lebenswandel?

In der Regel gilt, dass sich die chinesische Gesellschaft genauso wenig um uns kümmert, wie umgekehrt. Manchmal kann es vielleicht ein bisschen gefährlich werden, da einige Bands über Dinge singen, die der Regierung nicht allzu gut gefallen, doch hauptsächlich ignoriert man uns. Mit der Polizei gibt es relativ wenig Ärger, da die meisten Polizisten auch enorm arm sind und ein beschissenes Leben führen, also da herrscht tendenziell sogar eher Verständnis vor. Unsere Eltern hingegen hassen uns dafür, dass wir uns dazu entschieden haben, Musiker zu werden. Sie können diesen Lebenswandel nicht im Geringsten nachvollziehen und verabscheuen unsere Musik. Selbst Leute wie Shouwang von CARSICK CARS, der nun wirklich Erfolg hat und schon oft in Amerika und Europa auf Tour war, muss immer noch heftige Kämpfe mit seinen Eltern ausfechten. Laut dem, was mir meine Freunde aus dem Westen so erzählen, scheint die Situation bei uns heute wohl in etwa so zu sein, wie sie bei euch in den Sechzigern gewesen sein soll, als sich nur wenige Leute getraut haben, sich dem Mainstream entgegenzustellen und etwas Neues auszuprobieren. Jedenfalls hassen wir diese Idee vom Leben; wir wollen einfach nur unser eigenes Ding durchziehen.