Die finnische Hardcore-Punk-Legende RATTUS war zuletzt 1984 in Deutschland unterwegs, fuhr damals mit dem InterRail-Ticket mit dem Zug, von Gig zu Gig, quer durch Europa, aber das ist eine andere Story. Ende November letzten Jahres waren RATTUS in Originalbesetzung für drei Gigs wieder in Deutschland, mit ihrem ewigen Freund und Manager Vote Vasko im Schlepptau. Wie es überhaupt zu dieser Mini-Tour kam, wie sie verlief und was sonst noch war, das alles erfahrt ihr in dieser Tour-Diary.
Ende 2002 kontaktierte ich RATTUS über ihre Website und fragte sie, ob sie Interesse daran hätten, die „Ratcage“-LP wiederzuveröffentlichen. Es dauerte nicht lange und ich war mit Vote Vasko, dem ewigen Manager von RATTUS, in Kontakt. Alles nahm seinen Lauf, und das Reissue der besagten LP wurde in die Wege geleitet. Nach einer gewissen Zeit fragte ich Vote, ob denn die Band nicht Lust hätte, beim Erscheinen der LP ein paar Gigs in Deutschland zu spielen. Die Reaktionen der Band waren euphorisch bis skeptisch, letztendlich wusste die Band ja nicht, was sie zu erwarten hatte. Die Entscheidung, die Gigs zu planen, war jedoch schnell gefallen, und somit begann für mich die relativ mühselige Arbeit, für drei Gigs Auftrittsorte zu finden, alles von meinem Computer aus hier in Basel, fernab von Norddeutschland, wo ja alle Gigs stattgefunden haben. Nach etlichen E-Mails stand die Mini-Tour dann rechtzeitig, und der 26.11.03 markierte den Beginn dieser kleinen Odyssee ...
Mittwoch, 26. November 2003
Am selben Abend spielten RATTUS einen Gig in Helsinki, sozusagen ein Aufwärmer für die Gigs in Deutschland, und nach etlichen Jahren der erste Gig der Band in der finnischen Hauptstadt. Für mich, Amos und Soli begann der ganze Trip am Abend des besagten Tages. Um ca. 23 Uhr trafen die beiden aus dem Raum Zürich hier in Basel ein, und dann ging es geradewegs Richtung Hamburg, fast 900 Kilometer lagen vor uns. Das Gute daran war, dass wir genügend Zeit hatten, dachten doch Soli und Amos, die Band würde um 7 Uhr in Hamburg am Flughafen eintreffen, und nicht um 19 Uhr. Aber es gab genug zu tun in Hamburg, denn die LPs für die Tour mussten noch dort am Flughafen abgeholt werden, da es das Presswerk nicht mehr schaffte, die Platten rechtzeitig vor der Abfahrt in die Schweiz zu liefern, und sie somit direkt nach Hamburg versandt wurden.
Die lange nächtliche Fahrt nach Hamburg verlief mehr oder weniger unspektakulär, Amos, der glücklicherweise mitkommen konnte, um beim Merchandise zu helfen, schlief die meiste Zeit auf dem Rücksitz, während Soli, der tapfere Fahrer, und ich vorne im „Cockpit“ mit der Müdigkeit kämpften, was uns aber sehr gut gelang. Überhaupt schien mir die Fahrt rauf in den Norden Deutschlands sehr kurzweilig, von Basel war man schnell mal auf der Höhe von Frankfurt, und das markiert schon mal fast die Hälfte der Fahrt. Nur die kurvige Autobahn machte mir Sorgen und mir wurde fast schwindlig, doch Soli meinte, dass die kurvigen Straßen in der Nacht viel besser seien, man müsste sich so mehr konzentrieren und bliebe dadurch wach.
Donnerstag, 27. November 2003
Kurz vor 9 Uhr in der Frühe war man nur noch 50 km von Hamburg entfernt – nach einer recht langen Schlafpause. Hier gönnte man sich ein großes Frühstück, ich glaube, das Ganze nannte sich „Trucker-Frühstück“ und schmeckte hervorragend. Mit viel Kaffee im Magen und Körper nahmen wir noch die letzen Kilometer in Angriff, bevor wir in der norddeutschen Metropole eintrafen. Dank der sehr guten Wegbeschreibung von Tomshek vom „Lobusch“ waren wir um ca. 11 Uhr vormittags bereits am Ort des Geschehens und bestaunten das architektonisch äußerst interessante und coole Gebäude in der Lobuschstr. 39, dem Konzertort des ersten Gigs der Tour (www.lobusch.org). Irgendwie schafften wir es auch noch, Tomshek aus dem Halbschlaf zu reißen und konnten es uns im obersten Stock des Lobusch gemütlich machen. Das Auftauen und lustige Morgengespräche machten uns so langsam aber sicher hungrig auf den Beginn der Tour.
Von Beginn an wurden wir im Lobusch mehr als nett aufgenommen. Hier spürt man noch den Geist der Punkrock-Bewegung, es herrscht keine Club-Atmosphäre und es wohnen hier auch Leute, die mit Herz dabei sind, um was Gutes auf die Beine zu stellen. Wir hatten Glück, dass Tomshek praktisch den ganzen Tag für uns Zeit hatte, und somit konnten wir bereits am Nachmittag die RATTUS-Platten am Flughafen abholen. Dabei wurde der arme Tomshek von einer Frachthalle in die nächste gejagt, bis nach ungefähr einer Stunde die Platten in unseren Händen lagen. Danach zurück ins Lobusch, um sich noch etwas auszuruhen, bevor es wieder zum Flughafen ging, um dieses Mal die Band abzuholen.
Es dauerte nicht lang, und die fünf Herren samt Vote Vasko kamen heraus. Zurück am Konzertort stand das Essen schon bereit. Die gelungene Organisation der Lobusch-Leute ermöglichte es uns, trotz eines zeitlich relativ engen Fahrplans, alles noch zeitig auf die Beine zu stellen, und auch der Soundcheck verlief problemlos. Nach und nach trudelten dann auch schon die ersten Besucher ein, und langsam aber sicher füllte sich das Lobusch. Die Vorband beim Hamburger Gig war eine Lokalband namens INSTINCT OF SURVIVAL, die ihren crustigen und krachigen Hardcore gut rüberbrachte. Gleich neben dem Eingang bauten Vote und ich den Merchandise-Stand auf. Immer mehr Leute fanden auch den Weg dorthin, vor allem während der Vorband gesellte man sich rund um den Tisch und plauderte und kaufte natürlich auch ein. Kalle Stietzel, der in den 80er Jahren das „Anti System“-Fanzine gemacht hatte, kopierte extra noch die Ausgabe Nr. 9, wo ein Bericht über die 1984 RATTUS-Tour drin war, inklusive Fotos von Kalle, Vote und natürlich RATTUS. Alle hatten ihre helle Freude, die Fotos zu sehen, da fast 20 Jahre dazwischen lagen.
Als RATTUS auf die Bühne kletterten, übergab ich Amos meinen Job, denn die Band wollte ich mir schon ansehen und war mächtig gespannt. Der erste Teil des Sets bestand aus den frühen Songs, als RATTUS noch ein Trio waren, mit Jake an Gitarre/Gesang, Tomppa am Bass und Vellu an den Drums. Die Songs spielten sie einwandfrei runter, und das zahlreich erschienene Publikum hatte mächtig Spaß an der Darbietung. An dieser Stelle darf ich ruhig erwähnen, dass die Band lange Jahre abseits des ganzen Hardcore/Punk-Geschehens gelebt hatte, sie aber ihre alten Songs noch mit der früheren Energie und Spontaneität rüberbringt. Solche Konzerte macht man auch nicht wegen der Kohle, sondern um den Leuten Freude zu machen und eine gute Zeit zu haben. Deshalb wurde auch während des zweiten Teils des Sets, mit Annikki am Gesang, mächtig getanzt, getobt und gejohlt. Der zweite Teil des Sets bestand mehrheitlich aus Tracks, die die Band damals für die «Ratcage»-LP und Compilations aufgenommen hatte. So hörte man also Hits wie «Feministi», «Reaganin Joululanju» oder «Will evil win», was die Mehrzahl der Besucher in ihre Jugendzeit in den 80ern zurückversetzte, mich inklusive. Nach einigen Zugaben war auch der letzte Zuschauer zufrieden und versammelte sich an der Bar oder wieder am Merchandise-Stand.
Dort diskutierte man noch eifriger über Vergangenes und Gegenwärtiges. Es dauerte gar nicht lange, bis die RATTUS-Jungs richtig gesprächig wurden. Bei Leuten aus Finnland weiß man ja nie genau, wann das Eis bricht, aber bei RATTUS war das auch dank den hervorragenden Englischkenntnisse von Vote und der Brüder Tomppa überhaupt kein Problem, und so war es nach dem Gig in Hamburg sehr lustig. Es kam einem so vor, als würde man sich schon seit Ewigkeiten kennen, obwohl für mich und vor allem auch Amos so was wie die Götter der Jugendzeit plötzlich vor einem standen. Die Nacht im Lobusch dauerte noch lange. Soli und ich hauten uns irgendwann aufs Ohr, Amos becherte noch weiter, und es war bereits fast Morgen, als er überaus glücklich und besoffen im Zimmer nach einem Platz zum Pennen suchte.
Freitag, 28. November 2003
Am Morgen wurden wir von den Jungs und Mädels in der Lobusch nochmals herzlichst eingeladen, mit ihnen zu frühstücken. In der Zwischenzeit hatte man den Mietwagen für den Rest der Tour geholt, einen schönen und komfortablen Wagen. Wir verließen die Stadt an der Elbe im 9-Sitzer Richtung Hannover.
Die etwa zwei- bis dreistündige Fahrt nach Hannover verlief unproblematisch und unspektakulär. Plötzlich war man auch schon in Hannover, und auch hier wurde der Laden dank der guten Wegbeschreibung von Arne einfach und schnell gefunden. Man war also auch schon relativ zeitig im „Stumpf“. Die Leute von RATTUS gingen noch zum Bahnhof in Hannover, um einen Freund abzuholen, der extra aus Göteborg für diesen Gig anreiste. Nach kleineren technischen Problemen konnte dann auch der Soundcheck reibungslos über die Bühne gebracht werden, und die Bremer Support-Band KETTEN SÄGEN KOMMANDO trudelte dann auch endlich ein. Auch sonst füllte sich das Stumpf immer mehr, am Anfang trudelten viele stockbesoffene Teeniepunx ein, je später es wurde, desto höher wurde aber das Durchschnittsalter und es kamen mehr Leute, die RATTUS bereits 1984 in Hannover gesehen hatten.
Das KETTEN SÄGEN KOMMANDO präsentierte eine bunte Mischung aus Grindcore, Spazzcore und Kabarett, zum Teil ganz witzig, musikalisch aber mit Sicherheit kein Highlight. Wie dem auch sei, die Leute hatten ihren Spaß. In der Zwischenzeit hatte sich Vote Vasko ganz schön einen angesoffen und der gute Mann torkelte ganz schön in der Gegend herum. In Hannover spielten RATTUS einen Wahnsinns-Gig, mit Sicherheit den besten von allen dreien. Die ersten 30 Minuten gehörten wieder dem Original-Trio, danach gesellte sich Annikki dazu, und von da an ging die Post im Stumpf höllisch ab. Es entstand ein richtiger Pogo-Mob und Annikki legte sich wie der Rest der Band mächtig ins Zeug. Hit um Hit, vorgetragen in typischer RATTUS-Manier, ohne Wenn und Aber, das rockte unheimlich. An vorderster Front vor der Bühne flog ein gewisser Vote Vasko herum, für den Rest der Tour nannten wir den guten Mann einfach einen „Teenie Drunk Punk“. Nach einigen Zugaben ging auch der legendäre Stumpf-Gig zu Ende, und nach dem Gig wurde der Merch-Stand ganz schön unter Beschuss genommen, zu unserer allgemeinen Freude. Das Stumpf leerte sich aber schneller als das Lobusch die Nacht zuvor, aber das war uns allen recht. Die Band pennte privat direkt um die Ecke, während Soli, Amos und ich noch einen schönen Spaziergang hinlegen mussten, bis wir uns endlich etwas Schlaf gönnen konnten.
Samstag, 29. November 2003
Am nächsten Morgen spazierten wir also den ganzen Weg zurück zum Stumpf. Vote Vasko und auch Annikki waren ganz schön angeschlagen, da sie anscheinend noch die halbe Nacht mit ihrem Freund aus Stockholm gefeiert hatten. Die Fahrt nach Berlin war geprägt von lustigen Geschichten, allen voran musste sich der arme Vote so einiges anhören, und so vergingen die drei bis vier Stunden wie nichts. Da RATTUS und auch Amos und ich noch nie in Berlin waren, fuhren wir schon früh aus Hannover raus, um uns noch in Berlin umsehen zu können. Leider war es ein ziemlich grauer und düsterer Tag, und somit reichte es für paar Highlights am Brandenburger Tor oder vor den Resten der Berliner Mauer. Es war trotzdem interessant, die Dimensionen dieser Stadt zu sehen, aber um Berlin so richtig kennen zu lernen, muss ich wohl mit der Frau Gemahlin noch mal hin.
Wir waren dann also sehr frühzeitig im Köpi. Das Köpi ist ein riesiges Areal, wo Kunst der gröberen Art, Crust-Punk und allerlei andere Formen von alternativer Kultur zusammen kommen. Irgendwie fanden wir aber nie heraus, wer in diesem Riesenkomplex überhaupt unser Ansprechpartner war, da Thomas von Thought Crime Records, der diesen Gig mit seiner Hartnäckigkeit überhaupt ermöglicht hatte, erst um 22 Uhr auftauchte. Der Soundcheck klappte dennoch, aber bereits da merkte man schon, dass Annikkis Stimme durch die letzte Nacht noch im Eimer war. Nach einem ausgezeichneten fleischlosen Abendessen konnten wir noch ausgiebig mit der Band fachsimpeln. Zum Beispiel erklärten uns Tomppa und Jake, dass der Song „Feministi“ all denjenigen Frauen gewidmet sei, die viel zu wenig Humor besitzen und schnell mal jemanden als Sexisten abstempeln. RATTUS hatten in den 80er Jahren nicht nur Freunde, da die politisch zu Korrekten ihre Art von Humor nicht verstehen wollten oder konnten.
Das Köpi füllte sich nur langsam, und auch erst spät, aber das ist dort so üblich, wie man uns sagte. Kurz nach 10 Uhr kam auch Thomas, und wir konnten uns wenigstens endlich für seinen unermüdlichen Einsatz für den Gig bedanken. So langsam wurde der relativ große Saal auch immer voller, man hatte zwar mehr Leute erwartet, aber am gleichen Abend spielten auch noch die SHOCKS zu ihrer Plattentaufe auf. Dennoch fanden immer noch ca. 200 Leute den Weg ins Köpi und mit MVD stand auch eine klasse Band im Vorprogramm auf den Brettern.
Danach also zum dritten und letzten Mal RATTUS. Es reichte zu einem guten und sicherlich würdigen Abschluss, doch vor allem die angereisten Hannoveraner fanden, dass der Gig die Nacht zuvor in Hannover besser gewesen war. Annikkis Stimme war im Eimer, und vor allem der zweite Teil des Sets war nicht überragend, aber RATTUS sind RATTUS und sie machten das Beste daraus.
Sonntag, 30. November 2003
Die Stunden nach dem Gig vergingen schnell, und ca. um 6 Uhr in der Früh entschieden wir uns spontan, Richtung Hamburg zu fahren, ohne Stress und in aller Ruhe. Unterwegs machten wir so viel Halt, wie wir wollten, und um 9 Uhr waren wir bereits am Flughafen in Hamburg. Dort hatten wir noch genügend Zeit, mit der Band die zusammen verbrachte Zeit zu verdauen, viel zu lachen, und vor allem über die Zukunft zu reden. Keiner weiß, ob RATTUS noch einmal so eine Aktion unternehmen werden, da die Jungs ihre Familien haben und heute ein Leben fernab der Szene leben.
Nach einer herzlichen Verabschiedung flogen die einen also Richtung Helsinki, und von dort weiter mit dem Auto Richtung Jyväskylä. Wir hielten noch am Hamburger Hafen, ich wollte noch mal richtig die Stadt einatmen, Hamburg ist und bleibt ein spezieller Fleck. Da hockte ich also Kaffee schlürfend in der Kälte, aber überaus glücklich. Über mir in den Wolken saß die Band und flog nach Hause, wir verdanken ihnen unvergessliche Tage und Momente. Wie es Amos so schön sagte, wer hätte 1985 gedacht, dass wir im Jahre 2003 so was erleben dürfen, etwas das ich für den Rest meines Lebens nicht mehr vergessen werde.
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