Mit VÁGTÁZÓ HALOTTKÉMEK (VHK), auf Deutsch: Die Rasenden Leichenbeschauer, hatte eigentlich keiner mehr gerechnet, hatte sich diese legendäre ungarische Kultband doch 2000 aufgelöst. Umso verwunderlicher war dann die Ankündigung für ihre kürzlich stattfindenden Konzerte in Berlin und Leipzig. Fast unbemerkt haben sie 2009, zumindest für ihre ausländischen Fans, wieder zusammengefunden, und zwar in fast alter Formation, lediglich mit neuem Drummer.
Es war, dem Namen gerecht werdend, eine wahrhaftig rasende Show, die Anfang Dezember 2011 Publikum und Musiker in der Berliner Volksbühne gleichermaßen in Rage brachte. Frontmann Dr. Attila Grandpierre raste wie gewohnt wild auf der Bühne hin und her. „Schließlich ist der Begriff ,Rasende Leichenbeschauer‘ so zu verstehen, dass die meisten Menschen in einer Art Scheintod leben und dass sie durch mein Rasen aus diesem Zustand hinausmanövriert werden können“, lautet seine Erklärung dazu. Das traf zunächst mal auf das Publikum zu, das sich teilweise aus einer recht passiven Haltung heraus zu ekstatischen Bewegungen hinreißen ließ. Der Frontmann immer allen voran: „In der ersten Hälfte des Konzertes habe ich das Publikum gar nicht wahrgenommen. Es gab auch einige Momente, in denen ich sehr diszipliniert war. Danach hatte ich mich nicht mehr unter Kontrolle. Manchmal passiert es, dass ich völlig den Kopf verliere. Ich bin dann voll in der Musik.“ Sie präsentierten einen Auftritt voller Energie, mit teilweise drei Gitarren im Einsatz – ein urwüchsiger Sound mit elektronischen Instrumenten, viel Kreativität und experimentellen Parts, ohne Kompromisse.
Früher tourten VHK regelmäßig durch Westeuropa und Übersee und brachten nach der Wende 1989/90 ihre ersten Scheiben auf Jello Biafras Label Alternative Tentacles heraus. Ein bisschen verwirrend ist die aktuelle Namensgebung. VÁGTÁZÓ ÉLETERÖ (Rasende Lebenskraft) nennen sie sich heute, obwohl als VHK angekündigt. Allerdings ist auch ihre neue CD unter dem Namen VÁGTÁZÓ ÉLETERÖ erschienen. Grandpierre ist im bürgerlichen Leben Astronom an der Budapester Sternwarte, doch Job und Musik lassen sich gut miteinander verbinden, denn das Universum und die Musik gehören im weitesten Sinne zusammen, wie er findet: „Das Universum ist ein lebendiger Organismus. Die kreative Kraft hinter dem Universum gestaltet alles und ist der treibende Faktor, ist sozusagen auch die kreative musikalische Kraft.“
Die Musik der ungarischen Band lässt sich schwer in eine Schublade stecken, wird aber meist als Ethno-Punk beschrieben. „Mit dieser Definition stimme ich überhaupt nicht überein“, sagt Grandpierre. „Als wir uns 1975 gründeten, gab es noch gar keinen Punk. Wir entwickelten etwas Energiegeladenes und mieden Punk später im Großen und Ganzen. Und wir entwickelten unsere Musik immer weiter.“ Jedoch finden sich in ihrer Musik tatsächlich Elemente des Punk, die sich mit volkstümlichen Klängen mischen. Henry Rollins war davon einst so begeistert, dass er mit VHK in England auf Tour ging und zu aller Überraschung in einem Interview mit einem holländischen Magazin sagte: „VHK spielen originelle Musik mit echten Inhalten – so wie Punk sein sollte.“ Daran erinnert sich Frontmann Grandpierre noch gut und lacht herzlich darüber.
Vor der Wende waren VHK in Ungarn verboten, mit der Begründung, diese Musik mache die Menschen aggressiv. Bandleader Grandpierre erzählt zurückblickend: „Als wir auf der Bühne standen, haben wir in der kurzen Zeit alle Energie in unsere Musik gesteckt, bis uns der Strom abgeschaltet wurde. Wir haben viele Einladungen bekommen, obwohl wir eigentlich verboten waren. Eine Möglichkeit trotzdem aufzutreten, war damals, dass wir uns im Publikum aufhielten, wenn eine andere Band spielte, die uns dann gesehen hat und einfach auf die Bühne einlud. Wir fanden viele Weg, um aufzutreten. Wir haben auch unter falschem Namen gespielt.“
1983 drehte der ungarische Regisseur und Videopionier Gabor Body den Film „Nachtlied des Hundes“ („A Kutya éji dala“) über einen Punk-Astronom, bei dem VHK die Hauptinspirationsquelle waren, und in den Videoaufnahmen der Band integriert wurden. Er wurde oft in Westdeutschland gezeigt, in Ungarn war er seltener zu sehen. So richtig los ging es mit den Auslandsauftritten ab 1984. Von DIE TÖDLICHE DORIS eingeladen, im Westberliner Front Kino zu spielen, erhielten sie weitere Einladungen und so kam es zur ersten Europatour. 2010 dann standen sie zusammen mit Jello Biafra auf der Bühne. Musikalisch aktiv ist der Bandleader insbesondere auch mit seiner weiteren, 2005 gegründeten Band VÁGTÁZÓ CSODASZARVAS (Rasender Wunderhirsch). Dort spielen elf Leute auf volkstümlichen, nicht elektronischen Instrumenten die Musik der ostasiatischen Steppen-Völker und verbinden die jahrhundertealten kulturellen Überlieferungen mit Mitteln moderner Rockmusik. Teilweise spielen sie auch Songs von VHK neu ein.
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #100 Februar/März 2012 und Volker Voss