25 Jahre nach dem Aufbruch der Riot Grrrls
Während einer gemeinsamen Lesereise im Februar durch Sachsen mit der Anthologie „Damaged Goods – 150 Einträge in die Punk Geschichte“ erzählte mir Jonas Engelmann, dass demnächst im Ventil Verlag ein Buch über Queer_Feminismus im Punk erscheinen würde. Ich war sofort neugierig. Nachdem ich das Buch gelesen hatte (siehe hierzu meine Rezension in Ox #138), wollte ich von den Herausgeberinnen Barbara Lüdde und Judit Vetter unbedingt mehr über die Hintergründe des Buches und die aktuellen queer_feministischen Entwicklungen im Punk und Hardcore erfahren. Außerdem, so Jonas weiter, würde im Sommer zudem Philipp Meinerts neues Buch „Homopunk History“ bei ihm erscheinen (siehe hierzu meine Rezension in der vorliegenden Ausgabe). Ein erfreulicher Anlass, auch mit Philipp ein Interview über Geschichte und Gegenwart unserer Szene zu führen, in dem die Musik mal nicht im Mittelpunkt steht.
Our Piece of Punk
Das Interview mit Barbara und Judit führte ich am 16. August 2018 anlässlich einer Lesung aus ihrem Buch im Rahmen des „Lauter Glitzer“-Festivals in Dortmund.
Was hat euch dazu bewogen, ein Buch über Queer_Feminismus in der Punk-Szene zu machen? Und wer ist auf die Idee gekommen, das Thema in die Form einer Graphic Novel zu bringen?
Judit: Ich würde sagen, die Idee zum Buch entwickelte sich in einem sehr langen Prozess, bis es das geworden ist, was jetzt vorliegt, oder, Barbara?
Barbara: Ja, absolut! Wir hatten die Vorstellung nicht von Anfang an im Kopf. Wir hatten Ideen und Themen, die uns interessiert haben, die wir illustrieren wollten. Wir sind Illustrator*innen und kennen uns durch das Studium. Wir bewegen uns schon lange in der Punk-Szene und wollten was zum Queer_Feminismus machen. Uns konnte es aber nicht darum gehen, nur unsere subjektiven Perspektiven darzustellen, wir wollten auch das Netzwerk beleuchten, in dem sich Queer_Feminismus im Punk bewegt. Und darum haben wir mehrere Menschen angefragt, ob sie uns Beiträge mit ihren Perspektiven auf das Thema schreiben möchten.
Judit: Wir hatten von Anfang an gesagt, wir machen ein Buch zu Queer_Feminismus im Punk. Aber ich glaube, es war uns nicht klar, dass es das wird, was es jetzt ist. Wir hatten auch gesagt, wir werden versuchen, auf Verlage zuzugehen, und wenn das nicht klappt, dann machen wir ein Zine daraus oder wir verlegen das Buch selber; es muss auf jeden Fall unter die Leute und wir wollen Lesungen machen, sobald das Buch fertig ist. Das waren so Punkte, in denen wir uns mehr oder weniger einig waren. Aber wir hatten keinen strikten Rahmen, in dem wir uns bewegten. Und dann kam das eine zu anderen. Wir hatten Fördermittel beantragt und auch bekommen. Das war der Startschuss. Dann haben wir mit unseren Recherchen begonnen, uns regelmäßig getroffen und viel diskutiert, wie wir das Thema angehen wollen. Klar war, es müssen viele verschiedene Perspektiven berücksichtigt werden. Wir beide sind nicht repräsentativ für die Szene. Na ja, auch die 35 am Buch beteiligten Autor*innen können das Thema natürlich nicht vollständig abdecken. Aber ein Eindruck von der Vielfalt von Queer_Feminismus im Punk wird so schon deutlich.
Barbara: Es ist eine Momentaufnahme dessen, was sich in unserem erweiterten Umfeld abspielt. Es ist also ein recht subjektiver Blickwinkel.
Das bringt mich zur nächsten Frage: 35 Autor*innen haben zum Gelingen des Buches beigetragen. Woher kanntet ihr die Leute? Und war es von euch beabsichtigt, dass die Beiträge solch intime Einblicke in das Denken und das Gefühlsleben der Protagonist*innen ermöglichen sollen?
Barbara: Ich würde sagen, dass das zufällig so gekommen ist. Wir hatten ihnen keine konkreten Vorgaben gemacht, wie der Beitrag werden soll. Das war eine offene Anfrage an Menschen, die wir kennen, die uns inspirieren, die uns beeinflusst haben in unserer Entwicklung. Und natürlich haben wir auch Freund*innen von uns gefragt. Wir hatten außerdem Punkte benannt, die im Buch berücksichtigt werden sollten. Zu einigen Aspekten fehlen allerdings Beiträge, weil sich niemand fand, der etwas dazu geschrieben oder gezeichnet hätte.
Judit: Seit dem Zeitpunkt der Veröffentlichung erleben wir ein reges Interesse an dem Buch. Ich denke, dass die Leute, die wir angesprochen hatten, alle richtig Bock drauf hatten mitzuwirken. Es war niemand dabei, der gesagt hätte, ein Buch über Punk und Queer_Feminismus sei komplett unnötig. Die meisten Leute, die wir angefragt hatten, meinten: Wie geil, richtig, wichtig und cool. Manche gaben an, keine Zeit zu haben, und haben dann ein paar Tage später doch was geliefert, weil es ihnen offensichtlich sehr wichtig war, sich einzubringen. Wir werden inzwischen auch häufig nach unserer Meinung gefragt. Offensichtlich denken die Leute, dass wir jetzt mehr über das Thema wissen als andere. Aber ich sehe mich eigentlich nicht als Expertin. Ich denke, so ein Interview, wie wir es hier führen, kannst du mit jeder FLTI*-Person bei einem Punk-Konzert machen und es wird genauso spannend sein und wichtig in der Aussage. Nur weil wir das Buch herausgegeben haben, beanspruchen wir keine Deutungshoheit für uns.
Barbara: Von Anfang an war klar, dass wir keine wissenschaftliche Arbeit über etwas schreiben wollen. Das Buch sollte unbedingt mit der Szene entstehen. Deswegen haben wir nur Menschen angefragt, die durch Punk sozialisiert sind.
Ihr nehmt in eurem Buch eine Bestandsaufnahme vor und skizziert die Erfolge und Niederlagen der historischen queer_feministischen Kämpfe in unserer Szene. Wie fällt euer Fazit 25 Jahre nach dem Aufbruch der Riot Grrrls aus? Sind deren Forderungen erfüllt? Hat sich etwas an der Männerdominanz, der Heteronormativität und der mal latenten, mal offenen sexuellen Diskriminierung in der Szene geändert?
Barbara: Das sind Fragen, die man pauschal nicht beantworten kann. Ein endgültiges Fazit können wir nicht ziehen. Wir können Tendenzen sichtbar machen. So gibt es zum Beispiel kleine Festivals, die einen hohen emanzipatorischen Anspruch und Standard erfüllen, ohne sich ausdrücklich queer_feministische Forderungen auf die Fahnen zu schreiben. Aber es gibt genauso auch große Festivals, wie zum Beispiel in Hamburg, wo vierzig Bands spielen, aber insgesamt vielleicht nur vier nicht cis-männliche Personen auf der Bühne stehen. Und das ist ein klares Zeichen dafür, dass sich überhaupt gar nichts verändert hat. Die queer_feministischen Forderungen sind angekommen und bei vielen auch im Bewusstsein verankert. Aber das heißt noch lange nicht, dass sich auch die Strukturen geändert haben.
Judit: Also ich glaube, es hat sich schon was verändert. Es ist anders als vor 23 Jahren, als ich mit Punk in Berührung kam. Was sich verändert hat, ist meine Begrifflichkeit und Sprechfähigkeit, um mein Empfinden zu beschreiben und um Diskriminierung zu kritisieren. Dass queere Menschen in der Szene auffindbare geschützte Räume für sich geschaffen haben, auch das hat sich im Vergleich zu vor über zwanzig Jahren geändert. Klar, gibt es aber auch immer noch die angeblich diskriminierungsfreien, zum Beispiel antisexistischen Räume, die aber eben nicht emanzipatorisch sind. So wie es auch Räume gibt, in denen nur weiße Menschen über Antirassismus sprechen, anstatt mit People of Color ins Gespräch zu kommen. Aber es gibt eben auch Kontexte, die es anders machen, die Räume schaffen, in denen Menschen diskriminierungsfrei miteinander umgehen. Solche Räume habe ich damals noch nicht finden können. Und das ist in meiner Wahrnehmung ein Unterschied zu heute. Jetzt kann ich die Orte frei wählen, die ich besuche, oder ich kann auch selbst Räume gestalten.
Die Agenda ist also im Kern noch dieselbe wie vor 25 Jahren, aber die Szene ist für Anliegen und Bedürfnisse von FLTI*-Menschen, also Frauen, Lesben, Transgender- und intersexuelle Personen, offener und sensibler geworden? Kann man das so sagen?
Barbara: Jein, die Agenda ist nicht komplett die gleiche wie damals. Damals standen vor allem die Interessen und Rechte von Cis-Frauen im Vordergrund. Heute geht es ganz klar auch um die Interessen und Forderungen von zum Beispiel Trans*- und nicht-binären Personen. Da hat sich die Debatte in den letzten Jahren sehr ausdifferenziert.
Judit: Debatten in der Subkultur entwickeln sich ja immer auch in Abhängigkeit von Diskussionen in der hegemonialen Kultur. In der Punk-Szene hat sich die Debatte heute ausdifferenziert, weil Feminismus auch gesamtgesellschaftlich heute breiter diskutiert wird als vor 25 Jahren. Es geht nicht nur einfach darum, eine alte Agenda zu erfüllen. Es entwickeln sich immer auch neue queer_feministische Forderungen und Einsichten. Diese Fähigkeit in der Szene, gemeinsam zu lernen, finde ich bemerkenswert. Und deshalb begeistert mich ein Satz von Mariam Bastani auch so, die bei einer Veranstaltung, an der ich teilgenommen hatte, sinngemäß gesagt hat: „Punk is not dead, because it can change and it changes all the time.“ Es ist wichtig, dass wir heute nicht nur die alten Forderungen formulieren, sondern auch die Lebenswirklichkeiten nicht heteronormativer Personen gleichberechtigt berücksichtigen. Die Riot-Grrrl-Bewegung hat uns empowert, das heute so tun und Feminismus weiterdenken zu können, würde ich sagen. Weiterdenken, sich für neue Ideen öffnen, dafür steht unser Buch.
Das bringt mich zu meinem nächsten Punkt: Wie kann ich mir vorstellen, dass sich queer_feministische Debatten und Kämpfe in der Punk-Szene organisieren? Soweit ich das beurteilen kann, handelt es sich um regionale selbstorganisierte Kontexte, die unabhängig von etwaigen übergeordneten Strukturen aktiv und wirksam werden. Oder täusche ich mich? Gibt es Hotspots queer_feministischer Theoriebildung, die in die Szene zurückwirken beziehungsweise Orte, wo die heteronormative Männerdominanz auf einer solchen Basis dauerhaft aufgebrochen wurden konnte?
Judit: Der Queer_Feminismus ist so selbstorganisiert, wie die Szene selbst DIY ist, natürlich. Ich würde behaupten, dass es eine queer_feministische Punk-Szene zum Beispiel in Berlin gibt. Berlin ist ein Schmelztiegel verschiedener feministischer Praxen. Hier gibt es Räume, die queer_feministisch organisiert und geprägt sind. Auch in den USA oder in Australien erlebte ich regional lebendige queere Punk-Szenen. Das mal gesehen haben zu dürfen, wirkte sehr bestärkend auf mich und vermittelte mir Strategien, die wir vielleicht auch hier ausprobieren können. Ich sehe hierzulande kein etabliertes überregionales Netzwerk, an das wir anschließen könnten. Aber wir lernen auf unseren Lesungen so viele Menschen an unterschiedlichen Orten kennen, die queer_feministisch bewegt und engagiert sind. Diese Menschen wollen wir ermutigen, sich selbst lokale Netzwerke aufzubauen.
Barbara: Gleichzeitig bekommen wir aber auch immer wieder gespiegelt, dass die Menschen mit den vorhandenen Strukturen eher unzufrieden sind beziehungsweise das Fehlen von queer_feministischen Strukturen bemängeln.
Welche Hilfestellung könnt ihr Menschen geben, die Diskriminierung durch eigenes Verhalten in der Szene verhindern möchten, die sich aber im Umgang mit Diversity noch unsicher fühlen? Welche Kriterien für diskriminierungsfreie Praxen könnten zum Beispiel Konzertveranstalter*innen berücksichtigen, um Ausschlüsse zu vermeiden?
Judit: Viele Gruppen sind immer noch durch Cis-Männer dominiert. Zunächst wäre es daher wichtig, selbstreflexiv auf die eigenen Konzertgruppe zu schauen. Welche Personen sind bei uns vertreten und welche Interessen werden aufgrund dessen vielleicht bisher zu wenig berücksichtigt? Und wie kann ich das ändern? Wie gelingt es zukünftig, mehr queere Bands zu buchen, die es natürlich gibt. Man muss sie allerdings auch erkennen wollen. Wir haben bei einer Lesung Leute kennen gelernt, die eine interaktive Internetplattform gründen wollen, wo Veranstalter gezielt Bands mit queer_feministischem Hintergrund buchen können, wo Bands und Veranstalter direkt in Kontakt miteinander treten können. Es ist unbedingt wichtig, dass die angefragte Band auch künstlerisch zur Ausrichtung der Veranstaltung passt. Eine Singer/Songwriterin bei einem Crust-Abend – da fragt sich doch dann jeder, was das soll. Dann wollen die Leute sie nicht sehen, weil es einfach musikalisch nicht zum Abend passt. Als Veranstalter*in ist es außerdem wichtig, darauf zu achten, dass bei Konzerten oder Festivals FLTI*-Bands gleichberechtigt behandelt und nicht schlechter gestellt werden. Ich habe schon erlebt, dass FLTI*-Bands, die auf einer eigenen Bühne zu spielen hatten, weniger Gage bekamen als die Acts, die auf der Hauptbühne auftraten. Ungleiche Gagen, das geht sowieso schon mal gar nicht. Hier führt es dann aber auch noch zur Ungleichbehandlung von FLTI*-Bands.
Lasst uns zum Abschluss mal einen Blick über den Tellerrand unserer Szene hinaus werfen. Hat die zunehmende Referenzierung und Inszenierung von Feminismus in der Mainstream-Popkultur emanzipatorisches Potenzial oder ist das alles nur verkaufsförderndes Kalkül?
Barbara: Ich denke, das muss man differenziert sehen. Ich will keiner Künstlerin ihren Feminismus absprechen. Und ja, Feminismus in der Mainstream-Kultur ist auch wichtig, sofern es nicht bei coolen Sprüchen auf Klamotten angesagter Modelabels bleibt. Mit solcher Oberflächlichkeit würde sich an den patriarchalen Strukturen im Pop-Business nichts ändern.
Judit: Sobald eine Subkultur vermarktungsfähig ist, stirbt sie. Das ist vermeintlich mit Punk geschehen und ich fürchte, das könnte auch mit Feminismus passieren, dass dieser entpolitisiert wird. Ich sehe Feminismus im Mainstream aber nicht grundsätzlich negativ. Auch Popstars können ihr Publikum durch ihre Texte zum Nachdenken bringen und so Menschen für Feminismus sensibilisieren. Man muss eben nur aufpassen, dass die Menschen dann nicht bei einem möglicherweise marktkonformen Feminismus stehenbleiben. Feminismus muss politisch radikal, muss queer diskutiert werden, wenn es dir damit ernst ist.
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #141 Dezember/Januar 2018 und Salvador Oberhaus