Punk und Religion Teil 5: MOSHIACH OI!

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Ein Schlag ins Gesicht der Göttlichkeit

Im fünften Teil dieser kleinen Reihe zu Punk und Religion geht es um das Judentum. ProtagonistInnen mit jüdischem Background an sich sind auch im Punkrock keine Besonderheit. Ebenso Punkbands aus Israel, wo es eine aktive Szene gibt, die sich in der Regel aber eher säkular und linkspolitisch verortet. Eine strenggläubige, jüdisch-orthodoxe Variante von Punkrock entstand 2008 jedoch nicht in Israel, sondern in New York. Die Mitglieder von MOSHIACH OI! (Moshiach = Messias) gehören zu den so genannten Na Nachs, einem kleinen Teil orthodoxer Juden, der durch mantraartige Gesänge eine Verbindung zu Gott aufbauen will. Warum Abraham der erste Punkrocker war und Schreien eine Form der spirituellen Reinigung ist, erklärt Sänger Yishai.

Yishai, erzähl uns doch bitte etwas zur Entstehung deiner Band MOSHIACH OI!.


Die Band startete 2008. Ich hatte gerade angefangen, die Thora zu lernen, und fing an, ins Judentum einzusteigen. Gleichzeitig schrieb ich Punk-Songs, die meinen neu gefundenen Glauben widerspiegeln sollten. Für mich funktionieren Punkrock und die Thora perfekt zusammen und ich benutzte die Musik, um mich selbst zu inspirieren, weil ich keine andere religiöse jüdische Punkmusik finden konnte, die ich hören konnte. Bald darauf begann ich, meine Songs zusammen mit Mike, unserem Gitarristen, aufzunehmen. Später kamen Mitch am Bass und Pesach am Schlagzeug dazu. Wir haben drei Alben veröffentlicht, 2009 „Better Get Ready“, 2012 „This World Is Nothing“ und 2017 „Rock Rabeinu“. Hauptsächlich haben wir in der Gegend von New York City gespielt, ansonsten in Washington D.C. und Denver. Unser Traum wäre es, einmal in Jerusalem aufzutreten.

Gibt es eine jüdische Punkrock/Hardcore-Szene in New York?

Nicht wirklich. Als ich vor zehn Jahren die Band gründete, hatte ich gehofft, dass so etwas wie eine Thora-Punk-Szene entstehen würde. Leider warte ich immer noch, aber eines Tages wird es passieren!

Wann und wie bist du zum ersten Mal mit Punkrock und/oder der Punkrock-Subkultur in Kontakt gekommen?

Das war in der Highschool. Ich passte nie wirklich dahin, hatte viel Wut und Leidenschaft im Bauch, also sprach Punkrock mich an. Meine Lieblingsbands waren LEFTÖVER CRACK, F-MINUS, BLACK FLAG, BAD BRAINS, REAGAN YOUTH und MINOR THREAT. Ich habe mich aber immer für viele Arten von Musik interessiert, nicht nur für Punkrock, da ich in einer musikalischen Familie aufgewachsen bin und viel mit klassischem Rock und Jazz konfrontiert wurde. Ich liebe Musik im Allgemeinen.

Offensichtlich bist du ein religiöser Mensch. Warum ist dir Religion wichtig?

Für mich ist die Thora die Wahrheit unserer Existenz. Ich glaube, dass Gott, im Judentum auch HaSchem genannt, die Welt aus dem Nichts erschaffen hat und uns die Thora gegeben hat, die uns auf seinen Wegen führt. Die Thora ist mein Leben. Sie ist mein Herz und meine Seele. Wir versuchen unser Bestes, nach ihren Lehren zu leben und Licht in diese Welt der Dunkelheit zu bringen.

Wie bist du zur orthodoxen Gruppe der Na Nachs gekommen?

Irgendwo auf meiner Lebensreise hat mich Gott dahin geführt. Im Laufe der Generationen sandte uns Gott heilige Menschen, um uns auf dem Weg der Thora zu führen. Rabbi Nachman ist der letzte Lehrer, der unsere Welt in ihre vollständige Erlösung führt. Wir glauben, dass Na Nach der Schlüssel zur Erlösung ist. Indem wir Rabbi Nachmans Lehren lernen und versuchen, seinem Rat zu folgen, können wir wirklich gute, reine Menschen werden.

Musik spielt eine wichtige Rolle in der Na Nach-Kultur, oder?

Musik ist wesentlich für das spirituelle Wachstum einer Person und die Verbindung mit Gott. Rabbi Nachman lehrt, dass Musik einen Menschen auf ein prophetisches Niveau bringen kann. Er lehrt auch, dass Musik und Tanz all die Härte und Dunkelheit lindern, die es in der Welt gibt. Bei den Na Nachs dreht sich alles um Musik. Sie nutzen Musik, um Menschen zum Tanzen zu bringen, ihnen Freude zu bringen und das Licht und die Lehren Rabbi Nachmans in der Welt zu verbreiten.

Das Schreien aus vollem Herzen hilft dir, in eine spirituelle Stimmung zu kommen. Das irritiert mich ein bisschen, da die meisten religiösen Menschen das Gegenteil behaupten. Ist das eine Art umgekehrte Meditation?

Es bringt mich HaSchem nahe. In unserer spirituellen Praxis gibt es Zeiten, in denen man ruhig und meditativ sein muss, und dann gibt es Zeiten, in denen man wie ein Löwe brüllen muss. Rabbi Nachman sagte uns, wir sollten schreien und zu HaSchem brüllen. Er sagte, wenn wir im Inneren schlafen, müssen wir uns aufwecken. Wir müssen HaSchem von ganzem Herzen anschreien, den Schmerz und die Bitterkeit, die es in der Welt gibt, rausschreien – nach Hoffnung und Erlösung schreien.

Wenn diese Welt deiner Ansicht nach bedeutungslos ist und Gott alles – warum ist es überhaupt notwendig, um die Aufmerksamkeit HaSchems in dieser Welt zu kämpfen, indem man laute und aggressive Musik spielt?

Ich glaube nicht, dass es HaSchems Beachtung ist, um die es uns geht. Wir versuchen, uns selbst und die Welt aufzuwecken. Diese Welt schläft. Ich muss schreien und offensive Musik spielen, um mich selbst zu erschüttern, und wenn ich auch andere erschüttern kann, die auf die Erlösung warten, ist das großartig.

Meinst du das damit, wenn du sagst, eure Musik sei „a punch in the face of godliness“, also ein Schlag ins Gesicht der Göttlichkeit?

Ja! Der Satz kam einfach irgendwie spontan aus mir heraus und klingt cool. Ich schätze, ich habe versucht zu sagen, dass es einerseits einen schönen Weg gibt, Ideen in die Welt zu tragen, und andererseits einen Weg, der laut und aggressiv ist. Wir fallen eher in die letztgenannte Kategorie.

Bist du eigentlich in einer religiösen Familie aufgewachsen? Und wann bist du zum ersten Mal mit der Religion in Berührung gekommen?

Ich wurde in Long Island, New York geboren. Ich bin religiös aufgewachsen. Aber der wichtige Teil meiner Verbindung zu Gott kam später. Als Teenager interessierte ich mich mehr für Punkrock und Underground-Kultur, erst mit Anfang zwanzig begann ich, meine Verbindung zu HaSchem und der Thora wirklich zu entdecken.

Wie war die Reaktion deiner Familie, deines Umfelds auf die Vorliebe für Punkrock?

Ich war immer ein Außenseiter, also war es nicht so überraschend, dass ich mich für so etwas wie Punkrock begeistern würde. Meine Eltern störten sich nicht wirklich an der Musik, sie mochten nur nicht die Drogen, den Sex und die Kriminalität, die auch dazugehörten. Glücklicherweise habe ich mich schließlich von dieser Art von Lebensstil distanziert, der mit viel Dunkelheit und Negativität gefüllt ist. Obwohl ich diese Musik immer noch liebe. Den rebellischen und befreienden Aspekten von Punk bin ich verbunden geblieben.

Inwiefern beeinflussen deine kulturellen Wurzeln deine Musik und deine Texte für die Band?

Die Musik von MOSHIACH OI! ist hauptsächlich vom Punkrock inspiriert, aber auch von Folk und Reggae. Meine Texte handeln alle von der Thora, unserer Verbindung zu Gott und vor allem von den Lehren Rabbi Nachmans. Einige der Themen sind die Sehnsucht nach Moshiach, also dem Messias, das Lernen der Thora, der Kampf gegen die Yetzer Hara, das ist die Neigung, Böses zu tun, das Bringen von Licht und Freude in die Welt durch Na Nach, Rabbi Nachman, das Land Israel und die Annäherung an HaSchem.

Warum ist Punkrock dabei für dich eine wichtige Ausdrucksmöglichkeit?

Ich habe Punkrock immer geliebt, weil er rebellisch und leidenschaftlich ist. Es stellt eine großartige Möglichkeit dar, starke Ideen und Überzeugungen auszudrücken. Außerdem liebe ich es zu schreien. Wir versuchen, auf positive Weise zu schreien. Ich kann zum Beispiel in den Wald gehen und zu HaSchem schreien oder das in einem Punkrock-Song tun. Tue es nur mit Liebe und Freundlichkeit anderen Menschen gegenüber.

Was ist es heutzutage in den USA die größere Herausforderung, Jude zu sein oder Punkrocker?

Ich hatte immer das Gefühl, dass Juden die ursprünglichen Rebellen und Punkrocker waren. Abraham, der erste Jude, erhob sich gegen den König und alle mächtigen Völker seiner Generation. Er widersetzte sich ihnen allen wegen HaSchem und wurde dafür ins Feuer geworfen. Im Laufe der Generationen haben Juden und Heilige das immer wieder getan. Das echte Thora-Judentum ist eine große Bedrohung für den Materialismus und die Gier der Welt.

Als Minderheit, also Punk, innerhalb einer Minderheit, nämlich der jüdischen Gemeinschaft: Wie reagiert die Punk-Community in den USA auf euch?

Ich weiß es nicht. Ich schätze, einige mögen uns und andere nicht. Es ist mir egal. Ich tue das nicht für die Anerkennung von irgendwem. Wenn es den Leuten gefällt, ist das fantastisch. Und wenn nicht, so what! Mein Ziel ist es nur, meinen Teil dazu beizutragen, die Erlösung der Welt zu erreichen.

Aus meiner nicht-religiösen Perspektive scheinen Punk und Religion nicht viele Dinge gemeinsam zu haben: Individualismus vs. Kollektivismus, Non-Konformismus vs. Konformität. Dazu ist Punk schwulenfreundlich, teilweise feministisch. Alles in allem scheint mir, dass die Ursprünge des Punk in säkularen Gesellschaften zu finden sind. Punkrock ist für mich eine typische Art, Gesellschaften und ihre Werte zu hinterfragen – aber die Gesellschaft selbst muss offen sein, um das zu ermöglichen. Würdest du dem zustimmen?

Ich weiß nicht, was Punkrock für andere Leute darstellt, ich weiß nur, was er für mich ist. Es gibt so viele verschiedene Strömungen im Punkrock mit einer Vielzahl von Lebensstilen und Überzeugungen, so dass das schwer zu definieren ist. Aber ja, was sie alle gemeinsam zu haben scheinen, ist eine rebellische, unangepasste Lebensweise. Für mich ist das Judentum die ultimative Rebellion gegen alle Unwahrheiten, die es in dieser Welt gibt. Die Welt ist besessen von Geld, Sex, Drogen, Besitz, Status, Ehre, Essen und natürlich endloser Egozentrik und Gier. Die Thora ist der Gegensatz zu allen falschen Wünschen dieser Welt, da sie uns zu der wahren Vision von Gott führt. Es geht um Frieden und eine wahrhafte Verbindung mit Gott. Juden sind immer dem Weg ihrer Vorfahren gefolgt. Wir haben uns nie zurückgezogen, auch nicht angesichts von Tod, Verfolgung und Exil. Trotz aller Versuche, uns zu zerstören, sind wir für unseren Glauben, unsere Thora und unseren Gott stark geblieben. Das scheint mir ziemlich Punkrock zu sein.

Kann Punkrock ein Weg sein, um das Judentum zu modernisieren?

Ich hoffe nicht.

Glaubst du, dass Punkrock immer noch so progressiv ist wie in seinen Anfängen? Hat er seinen Biss verloren?

Sobald so etwas größer wird, geht der Biss zwangsläufig verloren. Aber ehrlich gesagt interessiert mich Punkrock als Szene nicht mehr so sehr. Ich mag immer noch die Musik und die rebellische Haltung. Ansonsten stehe ich nur auf die Thora und HaShem.

Was verachten konservative Juden deiner Meinung nach am meisten am Punk? Ist er ein Symbol westlicher Dekadenz? Oder einfach zu rebellisch, beispielsweise gegen Gott oder die Propheten?

Ich weiß es nicht genau. Ich selbst bin ja nur zufällig zum Punkrock gekommen. Wenn ich mich nicht schon in frühen Jahren damit beschäftigt hätte, wäre er mir vielleicht völlig egal gewesen.

Frühere Tabus erfahren heute immer mehr Akzeptanz. Ist konservative Religion das Einzige, was in der modernen westlichen Gesellschaft noch aneckt? Der einzige Weg, rebellisch zu sein, wenn auch auf konservative Weise?

Ja, das trifft es ziemlich genau, denke ich. Nichts ist mehr heilig. Sich gegen den Hedonismus und die Freizügigkeit dieser Kultur zu wenden, ist vielleicht die wahre Rebellion.

 


Die Na Nachs sind eine Splittergruppe des orthodoxen Judentums, die an eine transzendentale Wirkung der Musik glauben. In Israel gelten sie als eine Art kurioser Glücksbringer. Gründer ist der Rabbi Nachman von Breslow, der die Bewegung vor 200 Jahren in der Ukraine ins Leben rief und ihr seinen Namen gab. Für seine Anhänger ist er Popstar, spiritueller Mentor und Vaterfigur in Personalunion. Jedes Jahr zum jüdischen Neujahrsfest im Herbst, pilgern die Gläubigen nach Uman in der Ukraine, wo Nachman von Breslow begraben liegt. Grundlegendes Merkmal der Bewegung ist das Mantra „Na Nach Nachman Me’uman“, das gesungen, geschrien und getanzt wird und das möglichst oft. Den Na Nachs wird nachgesagt, junge Menschen mit problematischer Biografie (Sucht, Gewalt) anzuziehen, die in der Bewegung Halt und eine klare Lebensstruktur finden. Sie sind eine rein spirituelle Verbindung und lehnen Gewalt in jeglicher Form ab.

Daniel Schubert