Punk und Religion Teil 2: HARAM

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Alles ist verboten

Von Punk und Religion über Punk und Islam hin zu Muslimen im Punk und schließlich zu Nader von HARAM aus New York. Ich entdeckte HARAM vor einiger Zeit im Netz für mich. Wer Freude an Achtziger-Hardcore-Punk und den DEAD KENNEDYS hat, wird sich auch HARAM gut geben können. 2016 kam die EP „What Do You See?“ heraus, es folgte 2017 das Album „When You Have Won, You Have Lost“. Etwas irritierend: Die Texte von HARAM sind auf Arabisch und Sänger Nader sieht auf den ersten Blick aus wie eine IS-Version von Mike Muir. Hinter dieser mehrfach polarisierenden und provokativen Figur steckt ein weltoffener und inhaltlich differenzierender Kopf, der uns seine Sicht auf muslimisch geprägten Punkrock in einer säkularen, aber mehrheitlich christlich dominierten Gesellschaft erklärt. Und warum Turnschuhe ihn zum Punkrocker machten.

Nader, bist du religiös beziehungsweise teilst du religiöse Werte?


Ich praktiziere den Islam nicht, nein. Ich war die meiste Zeit meines Lebens Muslim und ging auf eine christlich-katholische Schule. Und ich denke, dass mich das so beeinflusst hat, dass ich mich immer noch spirituell fühle und von religiösen Bildern und Themen angezogen werde. Aber mir gefällt nicht, wie Religion im Allgemeinen politisch und sozial als eine Form der Kontrolle und Unterdrückung genutzt werden kann. Als Muslim in den USA kenne ich die damit einhergehenden Einschränkungen, was Sozialkontakte und den Lifestyle der Muslime angeht. Sie kapseln sich ziemlich ab. Aber trotzdem fühlt sich das Spirituelle auch manchmal wie ein Schutz an. Ich nehme mir die Freiheit zu tun und zu sein, was ich sein will. Ein friedlicher und aufgeschlossener Islam kann das aber meiner Meinung nach auch.

Kannst du etwas zur Migrationsgeschichte deiner Familie sagen?

Ich bin in einer Stadt namens Yonkers geboren und aufgewachsen, die an New York City angrenzt. Meine Eltern sind in den Achtziger Jahren aus dem Libanon nach New York ausgewandert. Ich gehöre zur ersten Generation Amerikaner in unserer Familie. Ich bin sehr religiös erzogen worden. Religion war für mich allgegenwärtig. Meine Kindheit ist für mich gleichbedeutend mit dem Islam. Ich empfand ihn nie als wirklich bereichernd, es fühlte sich mehr wie etwas an, das ich tun musste. Ich hatte Angst vor ihm und wurde konditioniert, ihm zu folgen. Er betraf jeden Aspekt meines Lebens, deshalb hat er mich nachhaltig geprägt. Heute suche ich nach Leuten, denen es ähnlich ging. Auf Tour mit HARAM haben sich schon einige Möglichkeiten zum Austausch und offenen Dialog mit anderen Muslimen ergeben.

Wann und wie bist du zum ersten Mal mit Punkrock in Kontakt gekommen?

Als ich in der achten Klasse war, nahm mich der zukünftige Bassist von HARAM, mit dem ich zur Schule ging, mit in einen Laden in einem Einkaufszentrum und ermutigte mich, diese neonblauen Turnschuhe mit Totenköpfen zu kaufen, nachdem ich sagte, sie sehen cool aus, würden mich aber zu Hause in große Schwierigkeiten bringen. An diesem Tag hat der kleine Rebell in mir das erste Mal seine Angst überwunden. Ich trug die Schuhe und wurde deshalb in der Schule gemobbt und zu Hause angeschrien, aber es war mir egal. Diese Einstellung ließ mich den Grundgedanken von Punk verstehen, mich frei und selbstkontrolliert zu fühlen. Wichtige Bands damals? Wahrscheinlich SYSTEM OF A DOWN und SLAYER. Und viele lokale Punkbands, wir gingen damals häufig auf Shows.

Wenn die Schuhe schon ein Problem waren, wie reagierte deine Familie dann auf Punkrock?

Meine Familie und ich haben seit dem Start von HARAM vor vier Jahren nur wenig Kontakt. Sie sind nicht einverstanden mit dem, was ich tue, und sind enttäuscht von mir. Sie haben das Gefühl, dass ich den Ruf der Familie zerstöre, für den sie seit ihrer Einwanderung hart gearbeitet haben. Sie verstehen nicht, wie wichtig mir das ist, was ich mache. Man erwartet von mir, dass ich eine bestimmte Art von Rolle spiele. Ihre Vorstellung von einem richtigen Lebensweg ist starr vorgegeben. Als ich meinen eigenen Weg ging, habe ich sie enttäuscht. So sieht es leider aus. Mir tut das sehr leid, es ist hart für mich, sie nicht zu sehen. Aber ich bin unabhängig und stolz darauf, wer ich heute bin und welche Opfer ich gebracht habe, um für mich selbst einzustehen.

Inwiefern beeinflussen deine kulturellen Wurzeln deine Musik, deine Texte für die Band?

Arabisch war meine Muttersprache, bis ich zur Schule ging. Und ich besuchte jahrelang jeden Sonntag die arabisch-muslimische Schule. Ich kann arabisch lesen, schreiben und sprechen. Ein großer Teil der Texte handelt von Erfahrungen, die ich in Amerika gemacht habe und auch heute noch mache. Im Punkrock kann ich mich ausleben. Er bedeutet für mich Freiheit und Respekt vor Meinungen, Bildung, Diskurs und Bewusstsein. Ich habe im Punk einen Weg gefunden, fortschrittlich und gemeinschaftlich mit Menschen umzugehen, die einen Sinn für Bedeutungen haben. Selbstständig einen Sinn in Dingen zu finden, das kannte ich vorher nicht. Ich glaube, dass Punk durchaus eine Bedrohung für ignorante Normen und Tabus darstellt. Leider wird auch das Arabische als Sprache und Kultur in der heutigen westlichen Welt als Bedrohung angesehen. Meine arabischen Texte provozieren viele Leute oder machen ihnen Angst. Das genau ist eine Herausforderung für mich, gegen diese Konditionierung anzugehen, vor fremden Dingen automatisch Angst zu haben.

Wie sind HARAM entstanden?

HARAM begannen 2015. Gitarrist und Schlagzeuger kannten sich durch einen gemeinsamen Job und ich kannte den Gitarristen von früheren Auftritten. Wir haben uns zu dritt getroffen, um zu jammen. Der Bassist ist ein alter Freund von mir und ich habe ihn zu einer Probesession eingeladen. Wir haben uns alle gut verstanden und beschlossen, die Band zu gründen. Die Musik passte gut zu meinem arabischen Gesang, der Klang ist ziemlich hart. Wir sind durch die ganze Welt gereist. Zuletzt durch Australien, Skandinavien und Teile Europas. Unsere Pläne für 2019 sind eine Tour durch Japan und Südostasien. Demnächst kommt auch unser zweites Album raus. Es ist alles sehr surreal für mich. Ich hätte nie gedacht, dass meine Band mich an diese ganzen Orte führen würde. Sie bedeutet mir alles.

Der Begriff „haram“ ist Arabisch für verboten, das Gegenteil von „halal“, „erlaubt“ Auf deinem Bandana steht auf Arabisch „Kein Terrorist“. Warum ist es dir wichtig, dich als arabischer, muslimischer Punk zu präsentieren? Im Punkrock sollte doch eigentlich nichts „haram“ sein.

Ich möchte Menschen herausfordern. Ich möchte Reaktionen auf das, was ich bin und wer ich bin. Und ich möchte keine Angst davor haben. Früher habe ich mich dafür geschämt, als Araber und Muslim wahrgenommen zu werden. Dein Aussehen und deinen fremd klingenden Namen kannst du ja nicht einfach so ablegen. Das Stirnband sagt mir selbst und anderen: Ich weiß, wer ich bin, und ich bin stolz darauf.

Aber „haram“ verbietet traditionell, eigene Entscheidungen abseits der Tradition zu fällen oder Dinge infrage zu stellen. Ein guter Muslim folgt den Anweisungen des Propheten. Warum habt ihr diesen Begriff als Bandnamen gewählt?

Die traditionelle muslimische Lebensart ist unglaublich starr. Alles ist haram! Man darf keine Musik hören, bestimmtes Essen nicht essen, keine Beziehungen haben. Dieses Konzept vermischt religiöse Schuld und Scham mit der Angst, für deine Sünden einen hohen Preis zu bezahlen, wenn du Allah gegenübertrittst. Ich habe irgendwann erkannt, dass all die Dinge, die für mich Bedeutung hatten, haram sind. Und es waren wirklich harmlose Dinge. Ich wollte Musik machen, rumhängen. Deshalb wurde ich schon verstoßen. Ich lebte lange mit diesem Widerspruch. Er betraf alle Facetten meines Lebens. Um in einer Band zu singen, musste ich das alles über Bord werfen. Alles an HARAM ist haram! Alles, was ich tue, wer ich bin und wie ich aussehe, ist haram. Ich bin stolz darauf. Nichts von dem, was ich jemals getan habe, hat einen Menschen verletzt, also kann es doch nicht grundsätzlich falsch sein. Aber ich schwöre, das Wort haram erschüttert und verfolgt mich bis heute. Seine Bedeutung, diese Kontrolle ist tief in mir drin und hat mich geprägt. Ich kenne viele Leute mit ähnlichem Hintergrund, denen das so geht.

Wie reagiert die Punk-Community in den USA auf eure Band und speziell deinen Auftritt?

Als Band stehen wir ein gegen Extremismus, Fremdenfeindlichkeit, Faschismus, Mobbing und Bigotterie. Für Queer- und Trans-Rechte, Progressivität und Akzeptanz. Diesen Ansatz möchten wir möglichst weit verbreiten. Die Punks in den USA wissen, wofür wir stehen, und unterstützen uns. Die Punk-Community ist ein wichtiger Anlaufpunkt für Jugendliche aller Art, und ich denke, sie sollte darum weit verbreitet und vernetzt sein. Natürlich irritiere ich einige Leute und sie stellen Fragen. Aber ich kommuniziere gerne und spreche mit jedem. Ablehnung ist für mich auch okay. Du hast dich damit auseinandergesetzt und es ist nichts für dich? Kein Problem! Es geht um Reaktionen und jede Reaktion hat ihre Berechtigung.

War die Taqwacore-Bewegung eigentlich damals wichtig für dich?

Taqwacore hatte überhaupt keinen Einfluss auf mich. Ich habe das Buch von Michael Muhammad Knight mehr als einmal gelesen. Es ist ein gutes Buch, aber ich war abgesehen von der fiktiven Story nicht an Taqwacore interessiert. Ich denke, dass es wichtige Prinzipien von Freiheit beschreibt. Letztendlich ist es aber nur ein Label, ein Sammelbegriff. Es enthält nichts, was ich an Prinzipien nicht auch so im Punk gefunden hätte. Die New Yorker Punk-Szene ist vielfältig und besteht aus Bands mit allen möglichen Hintergründen, Sprachen und Stilen. Damit identifiziere ich mich. Wir haben uns als Band nie auf Taqwacore bezogen. Als die Leute hörten: HARAM, eine arabische Punkband, das muss Taqwacore sein, da kamen natürlich Fragen dahingehend. Ich liebe die Charaktere im Buch und denke, dass ihr darin beschriebenes Leben für einige real und wichtig ist und ein Bewusstsein für die Probleme der Jugendlichen schafft. Bevor wir unser erstes Demo von HARAM veröffentlichten, bat ich Michael Muhammad Knight darum, Linernotes zu schreiben. Darüber hinaus haben wir aber keinen Kontakt.

Taqwacore war eine Provokation für die amerikanische Gesellschaft und die muslimische Gemeinschaft, wurde aber eher in den westlichen Ländern wahrgenommen. Macht subversive Jugendkultur deiner Meinung nach nur in säkularen westlichen Gesellschaften Sinn? Sind islamische Gesellschaften bereit für subversive Jugendkulturen wie Taqwacore?

Darüber habe ich mir schon oft Gedanken gemacht und etliche Gespräche geführt. Islamische Gesellschaften und Familien akzeptieren westliche Jugendkultur nicht. Sie steht zu sehr im Gegensatz zur islamischen Tradition. Für konservative Muslime ist Punk ein Fremdwort. Sie verstehen ihn nicht. In ihren Augen ist er sündhaft und gegen die Regeln Allahs. Und wehe, du ziehst den Propheten da mit hinein! In westlichen Gesellschaften entfaltet sich die Wirkung ganz anders, sie sind an sozialen Widerstand gewöhnt. Dabei wäre eine Öffnung wichtig. Punk ist in den meisten Fällen das Gegenteil von Religion. Das macht es für ihn sehr schwierig, in muslimischen Gesellschaften zu existieren. Aber wo immer wir können, sollten wir Grenzen überschreiten und die Menschen herausfordern. Punk kann auch für religiöse Menschen ein Ventil sein. Manchmal ist es verdammt frustrierend, religiös zu sein, denn Religion ist meistens ein Korsett, kann dich sogar traumatisieren. Punk gibt dir eine Stimme, um dir Luft zu machen. Taqwacore verdeutlicht, dass es eine große Anzahl von Menschen wie mich gibt, die in Freiheit leben wollen, weg von der Dichotomie von Gut und Böse im Islam. Schafft euch eure eigene Identität! Seid einzigartig! Trefft eigene Entscheidungen! Es gibt viele Härten und Probleme in jeder Art von Gesellschaft für Leute wie mich. Aber die sollten nicht dein Leben vereinnahmen, dich einengen oder verfolgen. Ich habe geschworen, alles zu tun, was ich kann, um das zu verhindern.

Kann Punkrock ein Weg sein, um den Islam zu modernisieren? Progressive Muslime in Europa sagen zum Beispiel, dass es eine Art Euro-Islam geben muss, der westliche und traditionelle Werte verbindet. Was hältst du von dieser Idee?

Ich denke, das ist cool. Es sollte eine Art Diät-Islam geben. Ich glaube, Punk kann helfen, dazu beizutragen. Nachdem ich seit über 18 Jahren Muslim bin, kann ich sagen, dass der Islam mehr Öffnung braucht. Punk ist offen und progressiv, ich bin der Beweis dafür. Wir werden mit HARAM im Juli 2019 in Südostasien spielen. Punk wird immer mehr akzeptiert und anerkannt.

Das Logo des Frauenmarsches gegen Trump war die Silhouette einer Frau mit einem Hijab — ein traditioneller muslimischer Schleier, den moderne, weltliche Muslimas nicht tragen müssen, soweit ich weiß. Das wirkt auf mich widersprüchlich. Liberale Frauenrechte verbunden mit einem traditionellen muslimischen Frauenbild?

Der Hijab symbolisiert für mich persönlich Freiheit. Er ist eine muslimische Tradition, die für fortschrittliche Muslime optional ist, und ich denke, dass die Wahl, ob ein Hijab getragen oder nicht getragen wird, persönlich ist und respektiert werden sollte. In den USA ist er ein leichtes Ziel für Alltagsrassismus und Diskriminierung. Es bedarf einer offeneren Definition des Hijabs. Vielen Muslimas ist er wichtig.

In Europa besteht ein Problem darin, dass der traditionelle Islam und der Salafismus zu einer neuen Form der Jugendkultur geworden ist. Viele Teenager sind konservativer als ihre Eltern. Einige deutsche IS-Kämpfer kamen zum Beispiel aus säkularen arabischen Familien.

Ich denke, ich hätte einer dieser Teenager werden können. Ich hatte Wut und genug Verwirrung in meinem Herzen. Aber ich fand für mich die Musik und die wurde zu meinem Ventil. Und die Leute reagierten auf mich, dadurch kreist du nicht nur um dich selbst. Ich glaube, dass dieser Weg auch anderen Jugendlichen helfen würde, sich nicht dem Extremismus zuzuwenden. Insbesondere für junge Muslime, die Zweifel an ihrem Glauben haben und die etwas verändern wollen.

In Indonesien werden teilweise durch Punkrock oder Metal Religion und traditionelle Werte in die Szene gebracht. Bei PUNK HIJRAH etwa. Gibt es solche Tendenzen auch in den USA?

Nein, ich kenne keine. Ich sehe überhaupt keinen Sinn darin, Punk religiös zu instrumentalisieren.

Der deutsche Philosoph Hamed Abdel-Samad, Sohn eines ägyptischen Imams und ehemaliges Mitglied der Muslimbrüder, sagt, dass der politische Islam eine faschistische Tendenz hat, weil er auf Gehorsam, Angst, Diskriminierung von Ungläubigen, Gewalt und bedingungsloser Führung beruht. Was hältst du davon?

Nein, das finde ich absurd. Der progressive Islam ist in vielen Ländern vereinbar mit Politik und wird erfolgreich praktiziert. Zum Problem wird er, wenn faschistische Menschen den Islam als ein Mittel der Kontrolle und Angst nutzen. Er kann dazu missbraucht werden. Aus sich heraus hat er diese Tendenz nicht.

Nach so vielen ernsten Fragen: Was ist dein Lieblings-Anti-Religion-Punkrock-Song?

Oh, da sind sehr viele. Aber wenn ich mich entscheiden muss, ist es wahrscheinlich „The prayer of realist“ von GBH. Ich war noch ziemlich jung, als ich ihn zum ersten Mal hörte, und ich mochte ihn sofort.