PUNK UND DOPPELMORAL

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Was wir sehen, was wir verstehen – und was nicht

Ox-Herausgeber Joachim Hiller stieß bei seinen Recherchen zum für Sommer 2019 geplanten Album der Band TAU CROSS auf den Namen des Verschwörungstheoretikers und Holocaustleugners Gerard Menuhin, den Sänger Rob Miller (davor AMEBIX) in seiner Thankslist aufgeführt hatte, was zuvor niemand aufgefallen war. Die anderen Mitglieder der Band waren fassungslos ob des offensichtlich schleichenden Gesinnungswandels Millers. Die Band wurde vom Label gedroppt und die Veröffentlichung der neuen Platte gecancelt. In diesem Artikel geht es um Ansichten von Bands und weitere Aspekte, die mir in den letzten Jahrzehnten aufgefallen sind. Deshalb werden nur diese Bereiche dargestellt, es soll kein Pro und Contra sich gegenüberstehender Ideologien erörtert werden.

Wie ernst man seinen Job auch nimmt – am Beispiel TAU CROSS sieht man, dass sich Recherchearbeit auf jeden Fall lohnt. Dennoch fragen wir uns, ob uns nicht auch etwas durch die Lappen geht und was in der Vergangenheit übersehen wurde. Wie weit liegt die Verantwortung bei den einzelnen Schreibenden und wo bei der Redaktion? Hat man alles auf dem Schirm? Kann man überhaupt alles im Blick haben – ja, muss man das überhaupt? Wo ist etwas durchgerutscht? Wie reagiert man darauf?

Beim Ox kommen da mehrere Faktoren zusammen. Das Heft ist einerseits kein reines Fanzine mehr, andererseits auch kein Musikmagazin. Irgendwo dazwischen bewegt es sich wohl. Hierbei stellt sich neben der Frage nach der Verantwortung auch die nach der Parteilichkeit gegenüber Bands, die mit ihrer Musik oder in Interviews ihre Meinung offen darlegen, aber auch in ihren Texten, ihrem Layout oder – wie Rob Miller – in der Thankslist. Oder gar auch subtil verstecken? Parteilichkeit zu zeigen als Fan – denn daher kommt der Begriff „Fanzine“ – ist im Ox gang und gäbe. Ich nenne die Interviews, Kolumnen, Artikel, Berichte und Reviews gerne „subjektiv-objektiv“ – sie sollen zeigen, um was es geht, und ebenso ausdrücken, dass man selbst von etwas gepackt wurde und Gefallen gefunden hat (oder eben auch nicht). Genau wie dieser Artikel „subjektiv-objektiv“ ist.

Eine einzige unausgesprochene Grenze gibt es im Punk für mich: „gegen Nazis“. Darüber hinaus ist Punk und Hardcore allerdings so vielfältig und ein so weites Feld, wie es wenige Musikrichtungen sind. Reggae und Heavy Metal zum Beispiel sind nicht eindimensional – doch eine solche Bandbreite wie Punk und Hardcore haben sie nicht. Durch die Vielfalt findet sich viel Tolles, Aufregendes, Pushendes, Antreibendes im Punk – man wird aber auch oft mit Skurrilem, Abenteuerlichem, Befremdlichem, Idiotischem und Abscheulichem konfrontiert. Und dann muss man sich vielleicht entscheiden, welche Band man nicht (mehr) hört und welche schon. Und dann kommt man unter Umständen auch dazu, für sich doppelte Standards einzurichten.

In dem weiten Feld finden sich viele Meinungen wieder. Wer bezeichnet sich als unpolitisch, hochpolitisch, wer predigt Gewalt, wer Frieden, wer ist Patriot, wer nicht, wie hält man es mit Verschwörungstheorien und bei wem spielt Religion eine Rolle? All diese Fragen werden bestenfalls offen beantwortet mit den verschiedenen Texten und dem Verhalten und der Aussage der jeweiligen Bands. Anders ist es, wenn in Metaphern gesprochen wird – ein oftmals interessantes künstlerisches Stilmittel, das es allerdings schwierig macht, die Musiker einzuordnen. Manche Bands verstecken ihre Meinung, was vor allem in der sogenannten Grauzone vorkommt, bei rechtsoffenen Bands, die sich auch im Punk verortet sehen. Oder um auf TAU CROSS zurückzukommen, erst wenn man ganz genau hinschaut, kann es passieren, dass die Alarmglocken schrillen.

Punk und Religion

In den Danksagungen gibt es tatsächlich häufiger Auffälligkeiten. Wenn an erster Stelle „God“ genannt ist, kann man erahnen, was dahinterstecken könnte. Solange aber in den Songs keine religiösen oder esoterischen Inhalte auftauchen, gibt es meines Erachtens damit kein Problem. Manche Bands behandeln ihren Glauben allerdings offen in ihren Texten und Aussagen, so wie etwa David Eugene Edwards (WOVEN HAND), der in Interviews auch gerne mal nervige Bibelzitate loslässt. Er selbst bezeichnete sich in einem Gespräch mit der taz als Heimatlosen, der nirgends ein Zuhause habe, das sei „zugleich eines der zentralen Themen der Bibel: Wir sind alle Fremde auf dieser Welt, unsere Heimat ist nicht hier, sondern im Himmel – auf der Erde sind wir obdachlos“. Andere Bands versuchen, ihren Glauben mehr oder weniger erfolglos zu verstecken, so wie MXPX. Einerseits sprechen sie davon, dass sie keine Christenband sind, andererseits haben sie viele ihrer Platten auf dem christlichen Label Tooth & Nail veröffentlicht.

Ein Fragezeichen steht über NO USE FOR A NAME, die auf ihrer Platte „Daily Grind“ von 1993 einem David Koresh danken. Koresh war Führer der Sekte „Branch Davidians“. Etwa sechs Wochen nach Erscheinen des Albums bekam Koresh weltweite Beachtung wegen der Erstürmung seines texanischen Sektenhauptquartiers in Waco durch das FBI, wo er sich mit seinen Anhängern verschanzt hatte. Das ATF (Bundesbehörde für Alkohol, Tabak und Feuerwaffen) hatte versucht, in die Ranch einzudringen, um eine große Menge an Waffen zu beschlagnahmen, die man dort vermutete. Ebenso stand der Vorwurf des sexuellen Missbrauchs von Kindern im Raum. Drei Mitglieder der Behörde wurden dabei von der Sekte erschossen, man zog sich zurück und rief das FBI. Nach 51 Tagen Belagerung wurde das Sektenquartier schließlich gestürmt. Dabei kamen 76 Männer, Frauen und Kinder zu Tode, die meisten im Feuer, da die ganze Ranch abbrannte. – ein Brand, der wahrscheinlich von Sektenmitgliedern selbst gelegt worden war.

Dass NO USE FOR A NAME-Texter Tony Sly irgendeinen Bezug zu Koresh gehabt haben muss, belegt neben der Erwähnung auf „Daily Grind“ dann noch einmal zwei Jahre später der Song „51 days“ auf der 1995 erschienenen LP „Leche Con Carne“. Der Titel bezieht sich auf die die Dauer der Belagerung durch das FBI, das Stück besteht aus Nachrichtenfetzen, vermittelt eine gewisse Enttäuschung und Trauer und kommt zu dem Schluss, dass David Koresh wohl das bekommen hätte, was er selbst gewollt habe. Eine weitere Verbindung der Band zu der Sekte lässt sich allerdings nicht finden.

Eine sektiererische Entwicklung konnte man tatsächlich im New York Hardcore beobachten, als Bands plötzlich dem Hare-Krishna-Glauben verfielen, einer „Extremform“ des Hinduismus. In den Sechziger Jahren war diese Form der Religion in den Westen gekommen und fand zunächst bei den Hippies Anklang. Eigentlich absurd, dass dieser Glaube zwanzig Jahre später bei Hardcore-Bands Beliebtheit erlangte. Da Hare Krishna damals vor allem von Jugendlichen und jungen Erwachsenen gelebt wurde, wurde es als „Jugendsekte“ bezeichnet. Die darin praktiziert Askese wurde fälschlicherweise mit Straight Edge in Verbindung gebracht. Denn im Straight Edge ging es nicht um Askese und Zurückhaltung, denn da Drogen keine Relevanz hatten, musste man auch auf nichts verzichten. Im „Krishnacore“ waren insbesondere SHELTER, 108 und CRO-MAGS aktiv. Deren Debütplatte „The Age Of Quarrel“ von 1986 gilt als Hardcore-Meilenstein, wobei die Band schon damals umstritten war und es auch permanent interne Konflikte gab. Beispielsweise wollte Sänger John Joseph das Thema „Hare Krishna“ in den Song „Life of my own“ einbauen, was von Gitarrists Parris verhindert wurde.

Punk/Hardcore und Homophobie

„The Age Of Quarrel“ existiert auch in einer rohen Demoversion, die wegen ihrer Brachialität für viele Hörer einer Offenbarung gleichkam. 1991 erschienen diese Demos noch mal auf 10“, und auch das Cover war verändert worden. Dass man sich im „Zeitalter des Streits“ befand, drückte die Band mit Darstellungen von Gewalt, Pornografie, Abtreibung und Drogenkonsum aus – aber auch durch die Abbildung eines schwulen Paars. Sänger John Joseph verneinte 2007 in einem Interview mit dem Ox allerdings jegliche Schwulenfeindlichkeit und bezeichnete es als jugendliche Dummheit. Für einen Teil der Fans, wie etwa Moses Arndt, Herausgeber des Zap-Fanzines, blieb „The Age Of Quarrel“ die Hardcore-Platte schlechthin. Er gab im Review im Fanzine „Reaktion“ der Band recht, dass sie „Pornografie, Fleischfressen, Drogenkonsum, Entmenschlichung, Sinn und Ziellosigkeit in der Konsumgesellschaft“ anprangere. Und verschwieg die eindeutig homophobe Aussage auf dem Cover. Für das Cover einer Zap-Ausgabe retuschierte er das schwule Paar sogar weg. Anderen dagegen war die Band sowieso ein Dorn im Auge. Neben dem Homophobie-Vorwurf deutet sich für diese Kritiker im Video zu dem auf der Platte enthaltenen Song „We gotta know“ gleich noch Rassismus an – Bassist Harley Flanagan trägt eine Kappe mit Südstaaten-Flagge.

Homophobie ist im New York Hardcore generell ein Thema, so auch bei AGNOSTIC FRONT. Bereits in den Achtziger Jahren sagte Sänger Roger Miret: „Wenn ich sehe, wie ein Typ sich in den Schritt fasst und sich die Lippen leckt, hau ich ihn um. Ich habe Freunde, die schwul sind. Aber ich will nicht wissen, was sie tun.“ Jahrzehnte später darauf angesprochen distanziert sich der Sänger von diesen Äußerungen, die auch er in einem unreifen Alter getätigt haben wollte.

Hier stellt sich die Frage, ob es immer nur Jugendsünden gewesen sind, wenn es zu solchen homophoben Aussagen kam. Der Sänger der BAD BRAINS, Paul Hudson alias H.R., war nämlich schon 33 Jahre alt, als er 1989 den Song „Don’t blow bubbles“ vortrug. Laut dem früheren Frontmann der NYHC-Band SFA, Mike „Bullshit“ BS, selbst schwul, lautet die Quintessenz des Songs, dass man AIDS allein dadurch bekämpfen könne, nicht schwul zu sein. BAD BRAINS-Bassist Daryl Jenifer erklärte das 2010 in einem auf punknews.org veröffentlichten Interview außer mit jugendlicher Naivität auch mit dem Rastafari-Glauben, den die BAD BRAINS-Mitglieder in den Achtziger Jahren angenommen hatten. In ihrer Hochburg Jamaika würden die Rastas „das Homosexuellenzeugs wörtlich“ nehmen – was auch immer das bedeuten soll. Im Weiteren redet er reichlich verschwurbelt von allgemeinen religiösen Weisheiten, die besagen, dass alle Menschen von Gott geliebt würden und niemand über den anderen urteilen sollte. Details zum Hintergrund dieses Konflikts zwischen BAD BRAINS und MDC, der auf die frühen Achtziger zurückgeht, als BAD BRAINS-Sänger H.R. sinngemäßt sagte, „die verfluchten Schwuchteln mögen verrecken“, kann man im Interview mit Dave Dictor von MDC in Ox #126 nachlesen (siehe Ox-Website).

Wie diese Beispiele zeigen, stellt sich die Frage: Inwiefern ist hier der Zeitpunkt, das Alter, die Herkunft und eventuell gar eine Ideologie ein Faktor? Spielt das tatsächlich eine Rolle oder verstecken sich Bands heute nur dahinter? Mit AGNOSTIC FRONT wollen einige aufgrund von deren Vergangenheit bis jetzt nichts zu tun haben. Andererseits scheint Sänger Roger Miret durchaus glaubwürdig rüberzubringen, dass sich seine Einstellung geändert hat.

Würde so etwas tatsächlich heute, Jahrzehnte später, in der Punk- und Hardcore-Szene noch vorkommen? Sicherlich hat insgesamt die Toleranz zugenommen, die Homophobie ist aber nicht verschwunden. Es ist eher anzunehmen, dass Bands sich bei diesem Thema lieber zurückhalten, sollten sie ein homophobes Mitglied haben, und es sich um Einzelfälle handelt, wenn beispielsweise Duane Peters, Sänger der US BOMBS, 2018 in einem Post auf Instagram reaktionäre Thesen von sich gibt, die sich gegen Homo- und Transsexualität richten. Oder wenn Philip Labonte, Sänger der Metalcore-Band ALL THAT REMAINS, der in einem Facebook-Post den Sänger der Band BLACK VEIL BRIDES aufgrund seines Emo-Looks als „faggot“, also „Schwuchtel“ bezeichnet. Auf Kritik daran antwortete er, dass die Black Community in den USA weitaus mehr Diskriminierung erfahren habe als die der LGBTI, das Wort „faggot“ verwende er sehr oft und es sei natürlich keineswegs diskriminierend gemeint. Wobei Wattie, der Sänger von THE EXPLOITED, schon Jello Biafra als Schwuchtel beschimpft hat.

„Yeah, it’s the punky reggae party“

Homophobie ist auch im Reggae weit verbreitet, in der Punk-Szene wird das aber nicht thematisiert, jedenfalls nicht von Bands, bei denen er eine gewisse Anziehungskraft hat. Bands von THE CLASH bis RANCID nahmen immer wieder viele Elemente dieser Musik auf. 1979 brachten BOB MARLEY & THE WAILERS den Song „Punky reggae party“ heraus, in dem der Sänger von einer eben solchen mit illustren Bands singt: „The Wailers will be there, The Damned, The Jam, The Clash [...] Dr. Feelgood too.“

Tim Armstrong, Frontmann von RANCID, veröffentlichte 2007 seine Reggae/Ska-Solo-LP „A Poet’s Life“. Er produzierte 2012 die Jimmy Cliff-LP „Rebirth“ und spielte dafür alle Gitarren ein. Sein Label Hellcat ist neben Punk auch ein Qualitätslabel, was Reggae und Ska betrifft (HEPCAT, THE SLACKERS, THE AGGROLITES). Doch auch wenn dieser Musikstil noch so viele „positive vibrations“ haben mag – hinter den meisten Reggae-Bands steckt nun mal der Rastafari-Glauben, der von Frauenfeindlichkeit, Homophobie und Rassismus geprägt ist. Maßgeblichen Einfluss hatte zum Beispiel Marcus Garvey (1887-1940), ein jamaikanischer Politiker und Publizist, der für Rassentrennung eintrat und der Ansicht war, dass Mussolini den Faschismus von seinen Anhängern nur kopiert hätte. Er verbreitete ferner eine Prophezeiung, dass die Krönung eines afrikanischen Königs die Schwarzen befreien würde. Als mit Haile Selassie I. 1930 tatsächlich ein Kaiser in Äthiopien inthronisiert wurde, verehrten die Rastafaris ihn fortan quasi wie einen Gott – die Prophezeiung hatte sich damit „erfüllt“. Haile Selassie war allerdings nichts als ein größenwahnsinniger, despotischer Alleinherrscher – er war Kaiser, Armeechef, oberster Kirchenführer und höchster Richter, der sein Volk für dumm hielt und es am Ende seiner Diktatur verhungern ließ.

Punk/Hardcore, Sexismus und Gewalt

Sexismus gab und gibt es im Punk und Hardcore nach wie vor, selbst wenn man hier moralische Ansprüche vertritt, die das eigentlich verbieten würden. Das gilt besonders für modernen Hardcore, der nicht auf dicke Hose macht. Wie die Band WOLF DOWN, die sich aufgrund von Sexismusvorwürfen gegen zwei Mitglieder aufgelöst hat, wobei der Gitarrist zudem mehreren Frauen sexuelle Gewalt angetan haben soll. Dabei galten ausgerechnet WOLF DOWN jahrelang als feministische Vorzeigeband.

Bei den Recherchen für ein Review zu einer Single der Band TRUE IDENTITY stieß ich darauf, dass ihr Sänger Jim Hesketh, der zuvor bei der Hardcore-Band CHAMPION gesungen hatte, ein paar Wochen zuvor von mehreren Frauen der Vergewaltigung beschuldigt wurde. Die Band löste sich auf und die Single, die ich besprechen sollte, wurde vom Label geschreddert. Nachdem dann die Sache mit WOLF DOWN bekannt wurde, sah und hörte ich mich genauer um – zu dieser Zeit waren mir acht Hardcore-Bands bekannt, bei denen ein Mitglied unter ernsthaftem Verdacht stand, sexuelle Gewalt angewendet zu haben.

In einem Ox-Interview mit der „Wein, Weiber und Gesang“-Band NASHVILLE PUSSY von 1998 wird beschrieben, wie einem „Mormonen-Girl“ von einem ehemaligen Schlagzeuger heimlich Drogen verabreicht wurden: „Nach dem Konzert hingen sie mit uns Backstage herum und dieses Mormonengirl schien irgendwie an Jeremy Gefallen gefunden zu haben. Er bröselte ihr also eine Rohypnol – du weißt schon, die bewährte Date-Rape-Droge – in ihren Drink und sie schlug sich dann auf unsere Seite: Jeremy fucked her way over to the side of rock and roll!“ Im Interview stellt der Sänger das irgendwie als lustig dar und beschreibt bei wörtlicher Übersetzung einen Seitenwechsel – von der Mormonin zur Rock’n’Rollerin. Leider wurde hier nicht nachgehakt. Wer weiß, was da noch alles passierte – im Netz konnte ich aber nichts dazu finden. Ein Beispiel für mangelnde Sensibilität bei diesem Thema. Und das bei einer Band, die mit Ruyter Suys ein weibliches Mitglied hat.

Nazi Punks fuck off?

Manche Bands machen es einem recht einfach, nehmen wir hier BÖHSE ONKELZ, die auch von Menschen gehört werden, die sich als Punk bezeichnen. Hört man, ohne die Hintergründe zu kennen, zum Beispiel allein ihren Song „Deutschland im Herbst“ von 1993, der als Reaktion auf die tagelangen rechtsextremen Krawalle in Rostock-Lichtenhagen entstand, wäre da ein astreiner antifaschistischer Song einer scheinbar korrekten Band, der sich gegen die ganzen „Idioten und Verlierer“ damals vor Ort richtet, wie es im Text heißt. Nun kennt man aber die Story der Band von den Liedern „Für Mustafa“ und „Deutschland“ und anderen sowie Interviews aus der frühen Zeit, die man auch noch findet. Seit Jahrzehnten distanziert sich die Band von rechts und nimmt weiter Platten auf. Die Texte strotzen vor Pathos, die Band beschwört in beinahe jedem Lied das Bild „Wir gegen die“ (Medien, Gesellschaft, Mehrheit, Regierung, Lügner, Wahrheitsverdreher usw.). Unter Nazi-Verdacht zu stehen entwickelte sich zum Geschäftsmodell – ein paar weinerliche Millionäre und ihre Anhänger vereint gegen den Rest der Welt. Das taugt tatsächlich als Soundtrack zum Leben von Idioten und Verlierern. Durch diese Grenzgängerei bleibt die Band weiterhin auch attraktiv für rechte Fans, wobei sich der Extrem-Fascho mit entsprechender Ideologie aufgrund der Ansagen des Chefs Stephan Weidner schon lange verabschiedet haben dürfte. Auch wenn man diesem abnehmen mag, sich von rechten Ansichten abgewendet zu haben, wurde der schlechte Ruf 2012 durch ein anderes Bandmitglied wieder bestätigt, als nämlich Onkelz-Gitarrist Gonzo zwei Platten ausgerechnet auf dem FREI.WILD-eigenen Label Rookies & Kings veröffentlichte, und beide Seiten zugleich ihre enge Freundschaft betonten.

Auch im Punk-Bereich gab es bei einigen Bands jahrelange Diskussionen, ob diese rechts seien oder nicht. DAILY TERROR sind so ein Beispiel. Es existieren Fotos vom mittlerweile verstorbenen Sänger Pedder, auf dem er den „Hitlergruß“ zeigt. Er selbst bestritt immer wieder, ein Neonazi zu sein. Im Textblatt des 1990 erschienen Samplers „Deutsche Punk Klassiker“ erscheint im Lied „Knüppeldicke Intoleranz“ die Zeile, „[...] weil ich Nazis verachte“. Wenn man das Lied dann hört, kommt das Wort „Nazis“ jedoch gar nicht vor, dort sind es dann die „Bullen“. Auf der Platte „Abrechnung“ vom selben Jahr sieht man neben dem Drumkit der Band eine Deutschlandfahne hängen. Ich hatte daraufhin dem Sänger einen Brief geschrieben und gefragt, was das sollte, wenn man ohnehin laufend dem Verdacht des Nationalismus ausgesetzt ist. Die Antwort lautete, dass dies einfach ein Zeichen für die Herkunft sei beziehungsweise des Landes, in dem man lebt. Italienische Bands würden ihre Fahne auch aufhängen und da wäre es ja kein Problem. Tatsächlich?

Punk/Hardcore, Flags & Weapons

Wenn es um Landesflaggen geht, dürften wir in den USA die größte Dichte haben. Wieder sind es AGNOSTIC FRONT, die in dieser Beziehung lange auffielen, die „Stars & Stripes“ finden sich auf dem Cover der Platten „Cause For Alarm“, „Liberty And Justice For ...“ und „Live At CBGB“ (1988). Doch wie man es auf letztgenannter LP hören kann, war das noch nicht alles, es wurde bei Konzerten sogar zum Fahnenappell aufgerufen, Einen nationalistischen Hintergrund hätte es laut Sänger Roger Miret aber nicht gegeben. Nur was soll es sonst gewesen sein?

Vor allem im amerikanischen Punk und Hardcore gibt es auch heute noch haufenweise Bands, die sich als Patrioten bezeichnen, wie zum Beispiel DROPKICK MURPHYS oder MADBALL. Letzte danken auch mal den amerikanischen Truppen weltweit, die im Einsatz für ihr Land seien, und mit dem Song „Semper fi“ von der LP „Hold It Down“ wurde das Motto des US Marine Corps besungen. Die VANDALS waren 2005 in einem Interview im Plastic Bomb Nr. 51 aufgefallen, in dem sie „das Konzept des Militärs als insgesamt notwendig“ bezeichneten. 2004 spielten die VANDALS sogar im Irak für die dort stationierten US-Soldaten. [Wie übrigens auch Henry Rollins, der mehrfach zur Truppenbetreuung ausrückte. – die Redaktion]

In eine ähnlich seltsame Richtung geht auch wieder der ALL THAT REMAINS-Sänger Philip Labonte. Er ist bekennender Waffennarr, der gerne mit Gewehren herumballert und auf YouTube gleich Werbung für Waffenhändler macht. Er tritt auch nach Amokläufen in Erscheinung, verteidigt das amerikanische Waffenrecht und spricht sich gegen eine Verschärfung aus, denn diejenigen, die so was fordern würden, hätten keine Ahnung. Letztens erst postete Eddie Sutton, Frontmann von LEEWAY, ein Video, in dem er mit einem Gewehr auf Zielscheiben schoss. Auf den Hinweis, dass das mit Hardcore wohl gar nichts zu tun hätte, kam die Antwort, er habe einfach nur einen schönen Nachmittag mit netten Freunden verbracht und schließlich habe man auf Zielscheiben und nicht auf Menschen geschossen. Man fragt sich, wieso solche Haltungen bei US-Bands vorhanden sind und wieso man so etwas unter dem weiten Feld des Punk und Hardcore subsumieren sollte. Die einfachste Antwort wäre wohl, dass US-amerikanische Bands, Punks, Fans völlig anders ticken als die europäischen.

Auf dem Backcover der 2015 erschienenen LP von AGNOSTIC FRONT, „The American Dream Died“ steht die Band wieder vor einer US-Flagge. Im Text zum Titellied findet man keinerlei nationalistische oder patriotische Texte, ganz im Gegenteil wird z.B. die zunehmende soziale Ungleichheit und der US-amerikanische Imperialismus kritisiert. Was bei uns nicht zusammen geht, ist in den USA Gang und Gäbe. Als ich letztens die vor allem bei jungen Menschen und auch solchen mit Punk-Background beliebte Kongressabgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez, die sich selbst als Sozialistin bezeichnet, in einem Hearing sah, meinte ich den amerikanischen Patriotismus zu verstehen – auch wenn ich ihn nicht gutheiße. Sie berichtete von den Lagern an der Grenze zu Mexiko, in denen die Kinder von Eltern bereits seit zwei Monaten separiert worden waren. Sie hatte eines besucht und mit Frauen reden können, die dort eingesperrt waren. Sie berichtete im Hearing von den katastrophalen Zuständen und endete damit, dass es eine Schande sei, dass solche Zustände unter den amerikanischen Flaggen, die dort überall hingen, gerade auch deshalb nicht zu ertragen wären. Verfassungspatriotismus hat in den USA, das wird klar, einen anderen Stellenwert, er wird anders ausgelebt als beispielsweise in Deutschland.

Liberty for all

Hier kommt auch der in den USA sogenannte „Libertarismus“ (oder auch „Libertarianismus“) ins Spiel, nicht zu verwechseln mit der deutschen Bedeutung von „libertär“. Grundidee aller Strömungen in den USA ist die absolute Freiheit des Individuums, das Recht auf Eigentum, das Primat der Privatwirtschaft und die Begrenzung des Staates auf ein Minimum (Minarchie) – oder dessen komplette Abschaffung. Vor allem letzteres hat seinen Reiz für einige Punks und auch deren Bands – Anarchie wird hier allerdings mit einem neoliberalen Konstrukt gepaart. Das heißt in den USA dann Anarchokapitalismus (AnCap) und würde in der deutschen Punk-Szene bei den meisten wohl nur Kopfschütteln hervorrufen. Libertäre Ziele in den USA sind die Abschaffung der öffentlichen Fürsorge und die Privatisierung von allem – den Schulen und der Schulpflicht, dazu kommt die Ablehnung von Kinderarbeit, der Armee und der Polizei sowie öffentlicher Infrastruktur. Privatinitiative könne alles effizienter und moralischer lösen, wird postuliert. Dass in der Folge jegliche staatliche Wohlfahrt – und das ist der Hauptkritikpunkt an dieser Strömung – abgeschafft würde, ist laut den Verfechtern dieser Position richtig, denn niemand sei von Natur aus verpflichtet, etwas für andere zu tun. Er könne etwas tun, wenn er eine Gegenleistung bekomme (also einen „deal“ mache) oder auch freiwillig in Form von Wohltätigkeitsvereinen, die es vor dem Sozialstaat gegeben habe. In Bezug auf Deutschland würde man so was am ehesten noch bei einem ultra-radikalen Flügel der FDP ansiedeln.

Die politische Haltung des PENNYWISE-Gitarristen Fletcher ist von genau diesem Libertarianismus geprägt. Fletcher war vom republikanischen Präsidentschaftskandidaten Ron Paul überzeugt, der für eine gnadenlos liberale Politik steht, wie eben den Abbau von Sozialleistungen. Auf der Website „Ron Paul Forums“ wird die ganze Band in einem Eintrag 2012 dafür gelobt und man überlegt, wie PENNYWISE unterstützt werden könnten. RISE AGAINST dagegen seien im Vergleich „leftist bullshit“, so heißt es, da sie sehr nah am Kandidaten Obama „dran“ seien. Es wird aber auch betont, dass schon öfter konservative Punkbands gegeben habe, prominentestes Beispiel sind die RAMONES, deren erzkonservativer Gitarrist Johnny Ramone Ronald Reagan mal als den besten Präsidenten bezeichnete, den Amerika je hatte und der mit „God bless America and God bless President Bush.“ zitiert wurde. Außerdem unterstützte er die Waffenlobby National Rifle Association/NRA.

Als Libertarian hat sich beispielsweise auch Joe Young von der Band ANTISEEN bezeichnet, der unter anderem Verschwörungstheorien verbreitet, etwa dass die Presse von links gesteuert sei, und der sogar für die Libertarian Party kandidierte. Dass in den USA im Bereich Punk und Politik so einiges aus den Fugen gerät, zeigt auch, dass der Vize-Präsidentschaftskandidat der Republikaner, Paul Ryan, der das freie Spiel des Marktes als Programm hatte, erklärte, ein Fan der Band RAGE AGAINST THE MACHINE zu sein, woraufhin Gitarrist und Sprachrohr der Band, Tom Morello, im Rolling Stone fragte, welchen Song er denn besonders mag, „Fuck tha police“ etwa? Oder einen, der die Unterdrückung der Indianer anprangert oder einen gegen den amerikanischen Imperialismus?

Von Conservative Punk zu „Trumpcore“

Als Gegeninitiative zur 2004 von NOFX-Sänger Fat Mike gegründeten Punkvoter-Kampagne, die zum Ziel hatte, eine zweite Amtszeit von George W. Bush zu verhindern, und alle Punks und Sympathisanten dazu aufrief, den Demokraten John Kerry zu wählen, startete conservativepunk.com die Gegenbewegung. Hier begegneten einem damals Leute wie Ex-DAG NASTY-Sänger Dave Smalley, derzeit unter anderem noch bei DOWN BY LAW und DON’T SLEEP aktiv. Smalley erklärt seine Position inhaltlich eigentlich gar nicht, stattdessen kommen Aussagen wie „I’ve come to the conclusion in my 30s that Reagan was right, and Carter was wrong. G.W. good, Clinton bad.“ Verständlich war an seiner Argumentation für mich ein einziger Punkt, nämlich dass man ja nicht alles mitmachen müsse, nur weil Initiator Fat Mike mit einer Kampagne daherkommt. Smalley sah darin die Gefahr, dass alle „gleichgeschaltet“ würden, was dann doch etwas naiv war. Das räumte er selbst in einem Interview 2012 mit dem Ox ein, in dem er seinen damaligen Essay auch als Dummheit und Schnellschuss bezeichnete, den er sehr bereue. Michale Graves, von 1995 bis 2000 Sänger bei den MISFITS, betrieb die Seite conservativepunk.com. Er schlug in die gleiche Kerbe wie damals Smalley und wollte nicht, dass Punk nur auf der „linken Seite“ eingruppiert würde. Ein Jahr später trat Graves dann noch in das US Marine Corps ein.

Die Straight-Edge-Hardcore-Band ONE LIFE CREW aus Cleveland hat eine lange Geschichte hinter sich. Die Szene in der Stadt wurde schon immer kritisch beäugt, die Vorwürfe waren ähnlich wie bei AGNOSTIC FRONT – Rassismus und Diskriminierung von Armen. Der Song „Pure disgust“ aus dem Jahr 2003 von OLC wird oft als verwandt mit dem AGNOSTIC FRONT-Stück „Public assistance“ bezeichnet, wobei er aber weiter über alles, wofür AGNOSTIC FRONT je kritisiert wurden, hinausgeht. Bei OLC heißt es, dass Migranten in ihr „rat land“ zurückgehen („You must get out!“) sollen beziehungsweise gar nicht erst in die USA kommen („Don’t come over here“), da sie Krankheitserreger einschleppen würden („Bringing your infections“). Wer denkt, das sei ja alles lange her, wird eines Besseren belehrt. In einem Video vom 01.09.2019 erzählt Sänger Steve, dass alle, denen nicht gefalle, dass sie Trump lieben, gehen können. Zum Beispiel nach Venezuela oder in die Ukraine – „get the fuck outta here“. Das hier ist kein zu belächelnder „Conservative Hardcore“ – sie nennen es gleich selbst „Trumpcore“, wie man auf ihren Shirts, die sie verkaufen, lesen kann.

Vor der Wahl Trumps 2017 kam öfter die belustigende Behauptung, es sei Punk, was der da mache. Er trete auf wie ein Flegel, so wie einst Johnny Rotten von den SEX PISTOLS, sage, was er denke, und rede auf einfache Art und Weise, weit weg vom Establishment und er hasse „das System“. Trump sei ein Rebell und ja – Punkrock! Genau dieses Bild will die Trump-Administration abgeben. Obwohl sie ja genau die gegenteiligen Prinzipien anwendet – Trump ist Milliardär und konnte sich genau deshalb alles erlauben –, er war in der Position, in die 90% seiner idiotischen Wähler nie kommen würden. John Herrman von der New York Times brachte es kurz vor der Wahl Trumps auf den Punkt: „Nichts könnte für eine aufständische politische Kraft besser sein, als als rauflustiger Außenseiter angesehen zu werden. Und nichts könnte für den aufstrebenden Mainstream – diesmal nicht unternehmerisch oder kulturell, sondern politisch – besser sein, als die permanente Pose der Alternative einzunehmen“.

CDU-Punk

In Deutschland sprechen wir öfter von „CDU-Punk“, wenn es um typischerweise in der Punkszene nicht vertretene Ansichten geht. Immer wieder wird hier die Leverkusener Band OHL genannt, die – in Person von Bandoberhaupt Deutschern W – seit ihrer Gründung 1980 die so genannte Extremismustheorie vertritt. Diese bedeutet in aller Kürze, dass die politischen Extreme gleich schlimm seien: linksextrem gleich rechtsextrem. Das hört man beispielsweise nach einem rechtsradikalen Brandanschlag von Politikern – vornehmlich tatsächlich der CDU/CSU – wie aus der Pistole geschossen, man müsse „gegen Rechts- und Linksextremismus“ ankämpfen. So sagte beispielsweise der stramm rechtskonservative Abgeordnete Philipp Amthor in der Bundestagsdebatte am 07.06.2019 zu den Hetzjagden auf Ausländer in Chemnitz, dass „CDU und CSU ganz klar gegen jede Form von Extremismus stehen“. Wie auch OHL das tun.

1983 fielen sie in Bezug auf aus der DDR Geflüchetete mit Textzeilen auf wie „Sie kamen aus dem Osten / Und baten um Asyl / Was man ihm zugestand / War schon viel zu viel / Sie fraßen unsere Steuern / Sie fraßen unser Brot / Schickt sie nach Hause / Schlagt Spione tot“. In den letzten Jahren ist zunehmend der islamische Extremismus in den Fokus der Band geraten, was darin gipfelte, dass Deutscher W am 31.07.2019 nach einem islamistischen Anschlag auf Facebook postete: „Es wird mal wieder Zeit, THE CURE zu hören ... Killing an Arab“. Diese „Provokation“ hätte aufgrund des zunehmenden Antisemitismus, „egal von welcher Seite“, Not getan, wie Sänger Deutscher W auf Kritik hin in den Kommentaren erklärte. Da passte die Konzertankündigung für einen gemeinsamen Gig im Oktober mit EXPLOITED recht gut, einer weiteren Band, die die Extremismustheorie vertritt. Und schon immer selbst als rechtsoffen galt, was auch verschiedene Fotos im Internet belegen, wie etwa eines, auf dem Sänger Wattie in einer Gruppe zu sehen ist, in der drei Skinheads den „Hitlergruß“ zeigen. Ein weiteres zeigt ihn mit Murray Holmes, dem Gitarristen der Nazi-Band SCREWDRIVER, in einem Blood & Honour-Shirt, auf dem die Triskele gedruckt ist, eine Abart des Hakenkreuzes. In einem Video namens „Wattie’s fuck off“ von 2014 schreit er seine Extremismustheorie heraus.

„Bomber Harris, do it again“

Und dann gibt es da noch Bands, die nach außen hin eine klare Meinung vertreten, die auf den ersten Blick konsensfähig ist, hinter der allerdings eine Ideologie steckt, die mitunter nicht so bekannt ist. Dieses Prinzip wenden zum Beispiel die drei Rapper von ANTILOPEN GANG an, die auch in den letzten Jahren in der Punk-Szene sehr beliebt geworden sind. Im Ox tauchte gar die These auf, dass (deutscher) Rap der neue Punk sei – da Punk sich politisch immer weniger offen ausdrücken bzw. links positionieren würde, als das es bestimmte Rapper täten.

Ein Bandmitglied trägt beispielsweise das provokante TERRORGRUPPE-T-Shirt, auf dem ein Galgen mit dem Slogan „Dem deutschen Volke“ abgebildet ist. Früher war genau das Punk für mich, ebenso wie „Deutschland verrecke“ von SLIME. Heute treten auch ANTILOPEN GANG zusammen mit SLIME auf. Der Song „Mein Skateboard ist wichtiger als Deutschland“ von 1996 war laut TERRORGRUPPE-Sänger Archi ein Brückenschlag zu den Antideutschen, die in diesen Jahren ihren Aufschwung hatten, wie er im Ox #124 berichtete. Wer dann womöglich auf Demos die Sprüche hört wie „Bomber Harris do it again“ (der für die Flächenbombardements auf deutsche Städte verantwortliche englische Sir Arthur Travers Harris, Marshal der Royal Air Force im 2. Weltkrieg, wird „Bomber-Harris“ genannt) oder die (Bonus-)Platte „Atombombe auf Deutschland“ von ANTILOPEN GANG von 2017, auf der viele Punksänger Gastauftritte haben wie Dirk von SLIME, Wolfgang Wendland von den KASSIERERN, Campino, Ingo Donot oder Monchi von FEINE SAHNE FISCHFILET, findet das wahrscheinlich durchaus lustig und provokativ in einem Punk-Kontext. Nur steckt hinter der antideutschen Ideologie mehr, was vielen nicht bewusst sein dürfte.

Mir ist Anfang der Neunziger Jahre erstmals aufgefallen, dass Flaggen der USA und Israel auf Demos gegen Nazis aufgetaucht sind. Wir wussten zunächst überhaupt nicht, was das bedeuten sollte – die Israel-Fahne interpretierten wir noch als Provokation, aber die der USA? Ich fragte mich, ob das dieselben Leute waren, mit denen ich Wochen zuvor vor dem Amerikahaus gegen den Irakkrieg demonstriert hatte.

In einem Interview im Neuen Deutschland vom 10.11.2014 geben ANTILOPEN GANG einen Einblick in ihre antideutsche Weltsicht. Die Blockupy-Proteste in Frankfurt am Main vor der Europäischen Zentralbank bezeichneten sie als „verkürzte Kapitalismuskritik“ – diese Bezeichnung ist für das Lager der Antideutschen neben „strukturell antisemitisch“ Standard im Wortschatz. Die Band bezeichnet die plakative Darstellung, es gäbe 99% Arme gegenüber 1% Reiche als „fast schon antisemitisch“, der „Aufruf zum Pogrom“ sei damit schon impliziert. Ich konnte mit dieser Aussage nichts anfangen, bis mich eine Freundin, die zum Thema Antisemitismus geforscht und Israel und Palästina besucht hatte, aufklärte, dass dies mit dem antisemitischen Klischee des „geldgierigen Juden“ zu tun habe. Das Bandmitglied Danger Dan geht in antideutscher Logik davon aus, dass das 1% reicher Kapitalisten auf „die Juden“ projiziert würden. Und so bringt die Band selbst eben jenes Klischee auf den Tisch, auf das viele gar nicht gekommen waren, wie in den Reaktionen auf das Interview zu lesen war.

Bei Blockupy sind zum Beispiel die Gewerkschaft ver.di, die griechischen Sozialisten Syriza, die Partei Die Linke, studentische Gruppen, die Antifa Frankfurt, Attac und die Occupy-Bewegung organisiert. Bei der Partei Die Linke gibt es unter den Mitgliedern alles von Antideutschen bis Antizionisten. Attac bekam auch schon öfter Vorwürfe, sie würden antisemitische Klischees reproduzieren. Und Occupy werden wohl zu Recht antisemitische Tendenzen bei dem Teil der Leute nachgesagt, die der Zeitgeist-Bewegung nahestehen, einem Haufen von verschwörungstheoretischen und esoterischen Spinnern. Aufgrund der ganzen Vorwürfe distanziert sich Blockupy aber unter anderem von jeglichem Antisemitismus und Verschwörungstheorien. Was natürlich nichts heißen muss. Hier aber auf die gesamte antikapitalistische Blockupy-Bewegung als quasi antisemitisches Bündnis zu schließen absurd. In einem Facebook-Kommentar eines Fans von ANTILOPEN GANG wurde dann die Vermutung angestellt, die Band habe womöglich Blockupy mit Occupy verwechselt. ANTILOPEN GANG loben in dem Interview dann die Polizei, die dem Mob der Kapitalismuskritiker Einhalt geboten habe. Die Proteste gegen das Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 sehen sie im selben Interview ausschließlich im Antikapitalismus der Demo-Teilnehmer begründet.

Zur antideutschen Kritik an der antikapitalistischen Kritik will ich auf ein gutes Beispiel verweisen – die Schriftstellerin Sibylle Berg beginnt eine ihrer Kolumnen in Spiegel folgendermaßen: „Der Kapitalismus, der verschmitzte Gewinner, die Kakerlake der Weltgeschichte, die einzige Gesellschaftsform, die uns eingefallen ist.“ Nach antideutscher Logik wäre das strukturell antisemitisch. Nur: wie käme ich auf die Idee, sie als Antisemitin zu bezeichnen? Frau Berg hat einen israelischen Ehemann, mit dem sie abwechselnd in Tel Aviv und Zürich lebt, es ist also ihre Heimat. In der sie noch dazu sehr gerne lebt.

ANTILOPEN GANG behaupten in genanntem Interview, dass die Proteste gegen Stuttgart 21 „HoGeSa in bürgerlich“ gewesen seien. HoGeSa nannten sich die überwiegend rechtsradikalen „Hooligans gegen Salafisten“, die vor allem durch eine Demo von 2014 in Dortmund auf sich aufmerksam machten. Statt vermuteter 1.500 Teilnehmer, waren es zwischen 3.000 und 5.000 Hooligans und Neonazis, die sich dann Gefechte mit Gegendemonstranten und der Polizei lieferten. Diese mit den Protesten gegen Stuttgart 21 gleichzusetzen, ist völlig absurd. Was ein Bahnhof in Stuttgart mit Antisemitismus zu tun haben soll, erschließt sich mir überhaupt nicht.

ANTILOPEN GANG bezeichnen im erwähnten Interview die linksradikale, antikapitalistische und antiimperialistische Band TON STEINE SCHERBEN als „deutschtümelnd“. Beim besten Willen kann ich das nicht erkennen. Ich nehme eher an, dass die ANTILOPEN GANG den Antisemitismus, den es in der Linken durchaus gab und gibt, direkt mal auf die Band angewendet hat. Was womöglich damit zu tun hat, dass eine Freundin Rio Reisers Kontakt hatte zu Mitgliedern der Bewegung 2. Juni, einem Vorläufer der RAF. Deren anti-israelische und in großen Teilen auch antisemitische Einstellung pauschal auf die ganze deutsche Linke auszuweiten, wie es Koljah von ANTILOPEN GANG tut, indem er sagt, dass die deutsche Linke seit 1968 antisemitisch durchsetzt sei, ist dagegen schlicht arg verkürzt.

Weitere antideutsche Merkmale sind eine bedingungslose Solidarität mit Israel und auch mit den USA sowie deren Regierungen. Der Schluss, rechte und rechtsradikale Regierungen mit Staaten gleich zu setzen, ist falsch. Dann wäre der Staat USA per se zum Beispiel rechtsradikal, rassistisch und sexistisch. Und der Staat Israel wäre zum Beispiel insgesamt ein korrupter (sofern die Anklagepunkte gegen den letzten Ministerpräsidenten Netanjahu stimmen) und imperialistischer Staat (bezogen auf die jüngsten Besatzungspläne). Nein – es geht nicht um die Staaten an sich, sondern um deren Politik. Und wenn man hier Kritik übt, stellt man nicht den Staat in Frage.

Von antideutscher Seite wird Kritik weder gegen die israelische, noch gegen die amerikanische Regierungspolitik geäußert. Ganz im Gegenteil, es wurden Konzerte von Punkbands, die die Kriegspolitik der USA, wie nach dem zweiten Irakkrieg 2003, kritisierten als „faschistoide Gemeinschaftserlebnisse, bei denen Fäuste gereckt, ‚Amis raus!‘ und ‚Fuck Bush!‘ gerufen wurde“ bezeichnet, wie in der antideutschen Postille Bahamas (46/2005) stand. Genannt wurden hier Bands wie OI POLLOI, die öfter als antisemitisch bezeichnet werden und deren Konzerte schon von Antideutschen verhindert wurden, wie letztens erst das „30 Jahre Campary Records“-Labelfest. Die Band hat 2010 in einem Interview mit dem Ox zu den Vorwürfen ausführlich Stellung genommen. Das Angebot des Ox an Anti-Deutsche, über dieses Thema im Heft zu diskutieren wurde leider nicht angenommen.

Der antideutsche Bahamas-Autor kritisierte seinerzeit neben dem Plastic Bomb, das „im Vierteljahrestakt Aufnahmeanträge für die Volksgemeinschaft“ ausliefere, auch das Ox, da für beide die Conservative Punk-Bewegung zum „zentralen Hassobjekt“ geworden sei. Oft haben Antideutsche auch eine hohe Affinität zum Militär – den notwendigen und nachvollziehbaren Schutz, den Israel in seinem Militär sieht, wird etwa mit Spielzeug-Modellpanzern mit Israelflagge oder Postern in den sozialen Medien präsentiert. Auch die „Israel Defense Forces“-Facebook-Seite ist hier beliebt, als Titelbild dient ein Video, in dem ein israelischer Panzer schießt, Kriegsschiffe und Düsenjäger im Einsatz sind und Scharfschützen auf ihren Einsatz warten.

Für mich bedeutet dagegen politisch „links“ zu sein, humanistisch zu sein. Militär sogar zu feiern, das Menschen tötet, fällt ganz und gar nicht darunter. Im Endeffekt könnte man Antideutsche – bis auf solche Sätze wie die mit „Bomber Harris“ – als CDU-Ultras bezeichnen. Bedingungslos solidarisch mit Israel, dem Alliierten USA und deren Regierungen, egal wie rechts bzw. rechtsradikal diese auch sein mögen, für die freie Hand des Kapitalmarktes und gegen Proteste von „Wutbürgern“.

Punk und BDS

Das Bündnis BDS („Boycott, Divestment and Sanctions“), das Israel wirtschaftlich sowie kulturell und schlussendlich politisch isolieren will, ist ein Beispiel für ausgeübte „Israelkritik“. Teile dieses Bündnisses stellen auch das Existenzrecht Israels infrage, ein Punkt, über dessen Falschheit es nichts zu diskutieren gibt. Aufgefallen ist mir dieser Antizionismus im Punk zum ersten Mal beim Lied „Haille Sellasse, up your ass“, das PROPAGANDHI 1993 veröffentlichten. Zunächst interpretierte ich den Text so, dass die Rastafaris nicht von einem Gott träumen sollten, während die Welt voller Konflikte und Krieg ist – und sah den Bezug auf Gaza und die West Bank nur als Beispiel unter vielen. Doch dann singt die Band in diesem Lied „Fuck Zionism“.

BDS beherbergt sowohl Antizionisten wie Antisemiten als auch Menschen, die für ein außenpolitisch friedliches Israel stehen und des Existenzrecht des Staates nicht infrage stellen. PROPAGANDHI versuchen eine Grätsche in ihrer Sympathie mit dem BDS. Angeblich würden sie mittlerweile das Thema differenzierter betrachten als damals und über das Thema auch diskutieren, wie sie es im Trust 2006 gemacht haben, nachdem sie dort zu den Antisemitismus-Vorwürfen befragt wurden. Zunächst führten sie erst mal die Standardantwort und das Klischee an, man werde bei jeder Form der Kritik an der israelischen Politik gleich als Antisemit „gebrandmarkt“. Im Interview führt die Band dann an, dass „Zionismus in seiner Definition auch rassistisch“ sei. Gleichzeitig sprechen sie sich für das absolute Existenzrecht Israels aus und befürworten eine Zweistaatenlösung.

Auch wenn BDS nicht per se Antisemitismus bedeutet und man sich beispielsweise bei Tom Morello von RAGE AGAINST THE MACHINE, der sich üblicherweise zutiefst humanistisch äußert, beim besten Willen nicht vorstellen kann, er sei Antisemit. Hier sei nur sein Einsatz jüngst gegen die Separation der Eltern und Kinder an der amerikanisch-mexikanischen Grenze genannt, gegen die er aktiv wurde. Eines von drei Merkmalen (neben der Dämonisierung von Israel und dem Absprechen des Existenzrechts) von Antisemitismus ist das Setzen von doppelten Standards, was die genannten Musiker tun. Oder gibt es etwa BDS-Aktionen gegen die Türkei, wegen ihres Umgangs mit Kurdistan? Gibt es BDS hinsichtlich Russland, wegen deren Imperialismus? BDS China? Gibt es „Türkeikritik“? „Russlandkritik“? „Chinakritik“? Nein, das gibt es alles nicht.

Wenn man etwas gegen die Politik eines Landes einzuwenden hat, wie in diesem Fall von Israel, treffen die BDS-Boykotte auch allein die Bevölkerung. Ich bin mir sicher, dass sich viele israelische Punkfans über Konzerte von PROPAGANDHI oder PROPHETS OF RAGE (Nachfolger von RAGE AGAINST THE MACHINE) freuen würden. Unverständlich ist mir auch, sich als Künstler aufzublasen und andere Musiker zu kritisieren und zum Boykott aufzurufen, weil diese in Israel auftreten.

BDS wird leider von vielen weiteren Musikern unterstützt, denen man politisch eigentlich eher vertraut hätte. Im Dezember 2018 sagte die Popsängerin Lorde ein Konzert in Israel ab, nachdem sie von BDS-Anhängern davon überzeugt worden war. Auf die Kritik an der Absage reagierten über hundert Künstler in einem offenen Brief mit einer Solidaritätsbekundung – unter ihnen waren neben Tom Morello auch Kathleen Hanna von der Punkband BIKINI KILL. All jene, die den BDS unterstützen, müssen sich im Klaren sein, dass sie definitiv mit Antisemiten zusammenarbeiten. Auch wenn sie als Individuum nichts mit Antisemitismus zu tun haben sollten, würde ich mich an ihrer Stelle fragen, wieso sie mit Anhängern der Hamas oder der Hisbollah auf eine gemeinsame Demo gehen und sich die menschenverachtenden Sprüche anhören. BDS geht überhaupt nicht.

Seltsam an dem ganzen verbitterten und blinden Streit, sowohl der Antideutschen als auch der Antiimperialisten, ist, dass der eigentlich nur außerhalb Israels, und vor allem in Deutschland, ausgetragen wird. Drummer Guzzy von der israelischen Punkband NOT ON TOUR kennt beide deutschen Seiten von Touren, die der Antideutschen und der Antiimperialisten. Und beide Seiten verstünden ihn nicht und würden nicht mit ihm diskutieren wollen, wie er in einem Interview mit dem Webzine Away From Life sagt. Für die Antideutschen ergäbe es keinen Sinn, dass er seine Regierung kritisiere. Und die Antiimperialisten würden denken, er sei automatisch Gewalttäter, der andere Länder erobern wolle. Nicht zuletzt stellte die Band im Ox #144 die nachvollziehbare Frage: „Ich fordere sowohl Antideutsche als auch Antiimperalisten auf, sich bei der Positionierung in diesem Konflikt zu fragen, wer ihrer Meinung nach ihre tatsächlichen Partner auf der anderen Seite sind [...], existieren die Menschen, die sie als Vorkämpfer der israelischen oder palästinensischen Befreiung betrachten, heute tatsächlich?“

Nation of Islam

Neben Tom Morello ist auch der PUBLIC ENEMY-Sänger Chuck D in der Band PROPHETS OF RAGE aktiv. Gegenüber Chuck D wurden in den Achtziger und Neunziger Jahren Vorwürfe des Antisemitismus laut. Das hatte mehrere Gründe. Zum einen hatten PUBLIC ENEMY große Sympathien für die Nation of Islam, die sie der Black Power-Bewegung gleichsetzten. Damals war ich über die Thrash-Metal-Crossover Band ANTHRAX auf PUBLIC ENEMY aufmerksam geworden, die zusammen den Track „Bring the noise“ rausbrachten. Ich kaufte mir die CD „Fear Of A Black Planet“ von PUBLIC ENEMY und wunderte mich kurz, warum hier anscheinend einer Religion gehuldigt wurde – keine andere Band, die ich bis dahin gehört hatte, vor allem nicht im Deutschpunk, hatte etwas mit Religion zu tun! Doch weiter beschäftigte ich mich damit nicht, erst viel später.

Die Interviews gab bei PUBLIC ENEMY oft Professor Griff, der „Minister of Information“, der einen Großteil der Pressearbeit übernahm. Dieser machte in einem TV-Interview „die Juden“ für sämtliche Missstände auf der Welt verantwortlich und fabulierte, diese würden in Südafrika an Schwarzen Experimente mit AIDS durchführen. Professor Griff wurde danach von Chuck D fallengelassen. Die üblichen Erklärungen folgten: „We are not anti-Jewish, we are not anti-anybody – we are pro-black, pro-black culture, pro-human race.“ Des Weiteren haben sich PUBLIC ENEMY lange Zeit mit dem Führer der Nation of Islam, Louis Farrakhan, geschmückt, der Israel als „Schurkenstaat“ und den Judaismus als „Drecksreligion“ bezeichnete . Farrakhans politisches Programm ist bis heute durch und durch rassistisch, zum Beispiel fordert er auf der Website seiner Nation of Islam auch, „Mischehen“ und „Rassenmischung“ zu verbieten. Das zuvor unkritische Abfeiern der Nation of Islam und des Islams an sich, hat allerdings nach 9/11 in der Black Power-HipHop-Szene deutlich nachgelassen, es kam zu einer offenen Entsolidarisierung.

„Hasta la victoria siempre“ und Verschwörungstheorien

Völlig unabhängig und auf einer ganz anderen Ebene beschäftigen sich die Schweden BABOON SHOW mit dem Thema Revolution – indem sie den angeblich sozialistischen Staat Kuba feiern. Gitarrist Håkan sagt im Ox #124: „Che Guevara ist mein Held, Fidel Castro ist mein Gott“ – das ist eine Liebe zur Politik eines Staates, in dem Menschen von der Obrigkeit bis heute unterdrückt werden. Noch dazu ist der „Held“ für Hinrichtungen, Arbeitslager und Folter verantwortlich – und wird dennoch von Teilen der linken Szene seit Jahrzehnten als romantischer Heiliger vergöttert. Er gilt als Symbol für einen Freiheitskämpfer, der angetreten ist, die Welt zu einem gerechteren Ort zu machen, sie von Unterdrückung und Sklaverei befreien wollte. Von keinem anderen Politiker dürfte es dermaßen viel Merchandise geben wie von Che.

Revolutionär lebt es sich schon immer auch in Bayern. Unlängst erreichte mich ein Post des „bayerischen Rebellen“ Hans Söllner, der seit Ende der Siebziger Jahre mit seiner Gitarre durch die Lande zieht und auch eine Reggae-Band namens BAYERMAN VIBRATION hat. Er selbst hängt dem Rastafari-Glauben an. Hans Söllner ist auch in Punk-Kreisen sehr beliebt, da er immer jemand war, der seinen Mund aufgemacht hat gegen die Obrigkeit, gegen die CSU-Regierung. Hierfür kann man ihm Respekt zollen, er hat dafür viel riskiert, hat permanent eins abbekommen und seine Rechtsstreitigkeiten dürften ihn viel Geld gekostet haben. Finanziell hat er das wohl längst ausgeglichen, da er bisher sehr erfolgreich durch die Lande zieht. Hans Söllner ist bekennender Langzeitkiffer, und dass das zu einer Psychose führen kann, legt sein eben angesprochener Post nahe, in dem er sich einmal mehr zum absoluten Impfgegner erklärt und dann völlig absurde Verschwörungstheorien formuliert. Er postete das Video „Die fünf Ebenen der Heilung“, das unter anderem auf die schlimmen Folgen der Handystrahlung aufmerksam machen soll, woraufhin er fordert: „Kein 5G Netz/Nicht hier in Deutschland oder sonst wo auf der Welt“. Dazu werden die üblichen Behauptungen aufgestellt, etwa dass die Medien nicht darüber berichten dürften. Am 12.08.2019 postete er auf Facebook nun ein Video mit dem Titel „Illuminaten Ärztin packt aus!!!“, in dem es um die „Medizin-Mafia“ gehen soll.

Im Punkrock selbst ist mir so was in dieser Drastik noch nicht untergekommen. Nichtsdestotrotz sind Verschwörungstheorien in Bezug auf die Politik, wie ich angerissen habe, auch hier zu finden. Einen guten und detaillierteren Einblick gewährt Daniel Schuberts empfehlenswerter Artikel „Mit Aluhut und Iro – Verschwörungstheorien und Punk“ in Ox #129 (siehe Ox-Website), zu dem auch ein Interview mit der damit in Verbindung gebrachten Band INTERRUPTERS gehört.

Mein Fazit

Wie die Fans heute mit fragwürdigen Aktionen „ihrer“ Bands umgehen, zeigen beispielhaft die beiden von BÖHSE ONKELZ organisierten Matapaloz Festivals 2017 und 2018. Hierzu wurden auch viele Bands aus dem Punk- und Hardcore-Bereich eingeladen. Nachdem man sich bei vielen Bands schon über das Akzeptieren der Einladung wunderte, reagierten deren deutschen Fans, indem sie den allesamt ziemlich großen internationalen Bands schrieben und sie darüber informierten, wer ihre potenziellen Gastgeber tatsächlich waren. Lobenswert reagierten 2017 IGNITE, die nach Hinweisen ihrer Fans ihre Teilnahme sofort absagten. Sie hätten schlicht keine Ahnung gehabt, um was für eine Band es sich dabei handelte, sagten sie. Andere wie HATEBREED oder SUICIDAL TENDENCIES, interessierten die Proteste ihrer Anhänger offensichtlich überhaupt nicht – was vielleicht das Schlimmste an der ganzen Geschichte ist. Es wird kolportiert, dass hohe Gagenangebote hier die Entscheidung pro Auftritt erleichtert hätten.

Einige werden das alles als Doppelmoral bezeichnen, viele andere hingegen nicht. Dann greifen natürlich noch solche Mechanismen, wie es zu verdrängen, zu verschweigen und zu ignorieren. Und das trifft auf alle aufgezählten Punkte zu, von Punk/Hardcore und Religion, Homophobie, sexuelle Gewalt über Antisemitismus und den Boykott von Israel bis CDU- und Nazi-Punk, Waffenverherrlichung oder Antideutschtum. Wenn ich mir überlege, ob ich selbst als Fan doppelte Standards walten lasse, muss ich das ganz klar bejahen. Und dennoch weiß ich mich ganz gut von dieser Doppelmoral abzugrenzen – indem ich mich von einigen Bands in den letzten Jahren verabschiedet habe, auch wenn sie mir musikalisch gleichwohl sehr gut gefallen. Die Übergänge sind dennoch fließend, ein reines Schwarz oder Weiß gibt es oftmals nicht, wenn ich den Kontext, die Umstände, die Zeit, den Ort und die Entwicklung wie beschrieben mit einbeziehe.

Und all das das darf dann jeder auch für sich selbst beurteilen. Auch wenn es wehtun kann. Den Anspruch an sich sollte man haben. Sowohl als Fan als auch als Fanzine.