Der Name Thomas Brussig war mir bis vor einem Jahr gänzlich unbekannt, bis ich über eine Freundin auf sein Schauspiel "Heimsuchung" (Verlag Volk und Welt, 2000) gestoßen bin. Das Stück spielt nach der Wende und handelt von drei Ex-Punks, die nach dem Versuch, sich an einem ehemals engen Freund für seine Spitzeltätigkeit für die Stasi zu rächen, in einer Kirche in Hessen vor der Polizei Zuflucht suchen. Das sehr unterhaltsame Stück brachte mich auf die Idee, mal nachzufragen, wie man darauf kommt, so etwas zu schreiben. Thomas Brussig (Jahrgang 1965) ist vor allem durch seine Drehbücher für "Sonnenallee" und "NVA" bekannt geworden. Doch auch seine Romane wie "Helden wie wir" (1995), "Am kürzeren Ende der Sonnenallee" (1999) oder "Wie es leuchtet" (2004) erfreuen sich großer Beliebtheit. Wenn ihr dieses Heft in Händen haltet, wird sein Reportageroman "Die Berliner Orgie", das seinen nachdenklichen Streifzug durch das Berliner Rotlichtmilieu beschreibt, in den Läden stehen. Mein Interesse im folgenden Interview galt allerdings Thomas' Bezug zu Punk und wie er ihn während seiner Jugend in Ost-Berlin erlebt hat. Nach einigen vergeblichen Anläufen erwischte ich ihn am Telefon und wurde das erste Mal in meinem Leben gefragt, ob ich aus Sachsen käme. Mein Dialekt klänge so. Was sagt man dazu? Nicht genug, dass man sich als Schwabe in Freiburg permanent hämische Kommentare anhören muss. Nein, die Freiburger verpassen einem auch noch einen sächsischen Akzent ...
Thomas, wie kommt man darauf, ein Stück zu schreiben, das von drei Ex-DDR-Punks handelt, die in einer Kirche in Hessen Zuflucht vor der Polizei suchen?
Die Handlung geht zurück auf ein Filmprojekt mit meinem ehemaligen Schulkameraden Bernd-Michael Lade, für das ich das Drehbuch verfasst habe. Der Film heißt "Rache" und hat eine ganz ähnliche Handlung wie "Heimsuchung". Lade ist Schauspieler und spielt heute zum Beispiel im Dresdner "Tatort" den Kommissar Kain. Wir haben uns auf der Filmhochschule wieder getroffen, wo ich damals Dramaturgie studiert habe und er Regie. Lade war zu DDR-Zeiten Punkrocker. Er spielte in der Band CADAVRE EXQUISE und brachte es 1989 mal auf Platz zwei der DDR-Hitparade.
Warst du auch Punk?
Nee. Aber in der zweiten Hälfte der 80er war ich oft auf Punk-Konzerten. Das war eine unglaublich interessante Szene. Vom Selber-Punksein haben mich aber die Konsequenzen abgeschreckt. Ich war zwar wütend und war gegen das System, aber Punk stand für die Totalverweigerung. Ich bin eher ein konsensbedürftiger Mensch, leider, und ein Zuhause mit fließend Warmwasser ist mir wichtig, haha. Mir hat bei Punk das ungeschützte Rausschreien dieser Wut imponiert, die ich ja auch in mir gespürt habe. Das hat mir unheimlich imponiert. Bands wie HERBST IN PEKING, ICH-FUNKTION, SANDOW, HARDPOP, DIE FIRMA, FEELING B, DIE ANDEREN oder DIVISION höre ich bis heute. Wobei die nicht im engeren Sinne Punkbands waren. Die wurden etwas hilflos als "die anderen Bands" bezeichnet. Die konnten mehr als die berühmten drei Akkorde und machten nicht nur diesen typischen, monomanischen Punk-Sound. HERBST IN PEKING spielten beispielsweise mit einer Mandoline. Das waren alles Bands, die wenig hatten und viel wollten. Darin lag die Schnittmenge mit dem Punk. Die "anderen Bands" fanden sich dann aber in völlig verschiedene Sounds und Spielweisen wieder. Ich glaube, die meisten Bands hatten auch keine Vorbilder, sondern waren auf der Suche. Es begann irgendwie mit Punk, strebte dann aber weg, zu etwas Eigenem.
Wie hat die Kirche in der DDR, die ja auch ein eher gespanntes Verhältnis zum SED-Regime hatte, die Punks gesehen? Hatten die Pfarrer Verständnis dafür, wenn sich Jugendliche gegen den Staat aufgelehnt haben?
Die Punks waren eine "erniedrigte" Gruppe und damit ein Fall für die Kirche. Es gab Pfarrer, die damit konnten, und andere, die damit gar nichts zu tun haben wollten. Punk war zunächst apolitisch. Die haben ja nur gesagt: "Mit diesem Land können wir nichts anfangen." Das ist aber in einem System, das jeden haben will, hintenrum wieder eine extrem politische Haltung.
Was hat die Staatsobrigkeit zu den Bunthaarigen in Lederjacke gesagt? Wurde das überhaupt öffentlich thematisiert?
Kaum. Vielleicht auch, weil da was war, was die Obrigkeit überhaupt nicht kapiert hat. Die Reaktion der Staatsobrigkeit auf die Punks war sehr von der Situation vor Ort und von der Einstellung der Polizisten vor Ort bestimmt. Dann wiederum gab es aber Radiosendungen, in denen Punk gespielt wurde. Ich würde da durchaus von einem Desinteresse des Staates sprechen, von einer Unlust, sich systematisch nun auch noch um diese Problemgruppe zu kümmern. Das werden Punks natürlich anders sehen. Als Punk warst du in gewisser Weise vogelfrei. Du konntest nicht damit rechnen, dass sich irgendjemand für dich einsetzt, wenn du als Punk Dresche kriegst.
Ich habe neulich eine Dokumentation gesehen, in der es um einen Überfall von Nazi-Skinheads auf die Zionskirche in Ost-Berlin während eines Punk-Konzerts 1987 ging.
Fanden Konzerte in Kirchen häufiger statt oder war das eine Ausnahme?
Punkbands haben oft in den Kirchen gespielt. Ich musste aber nicht in die Kirche gehen, um die Bands zu sehen. Es gab zwar Auftrittsverbote, zum Beispiel für HERBST IN PEKING, aber die DDR-Staatsführung hat in den 80ern schon angefangen zu schwächeln, weshalb sich die Verbote in Grenzen hielten. Die konnten da selbst mit der Stasi-Unterwanderung der Musikerszene einfach nicht mehr jeden Brand löschen. Dieses Konzert 1987 in der Zionskirche, bei dem übrigens ELEMENT OF CRIME, also eine Westberliner Band spielte, war ein einschneidendes Ereignis, ein unglaublicher Skandal: Nazis in der DDR! Ich habe damals direkt neben der Zionskirche gewohnt und war auch als Zuschauer beim Prozess gegen die beteiligten Skinheads, aus reinem Privatinteresse. Der Verhandlungsraum war rappelvoll.
Wogegen richtete sich die Wut der Punks im Osten? Würdest du sagen, dass es Unterschiede zu den Punks in der BRD gab?
Punk war letztlich ein Westimport. Die Slogans waren dieselben. Ganz anders waren die politischen Umstände. Die Punks im Osten zeigten einem Staat, der für sich beanspruchte, für alle da zu sein, die kalte Schulter. Das brachte Probleme. Ein richtiger Punk kam überhaupt nicht ins Ausland, nicht mal mehr in den Ostblock. Ich glaube, dass Punk im Westen doch eher ein Lifestyle war, denn dem Staat Bundesrepublik ist es doch völlig egal, ob jemand Punk ist oder nicht. Und natürlich haben sich die Ost-Punks auch nicht gegen Konsumterror auflehnen können, wenn es nichts zu kaufen gab. Es war eine Auflehnung gegen die permanente Kontrolle, gegen das ungefragt Eingetaktetwerden, gegen den roten Einheitsbrei und gegen den schier übermächtigen Konsens, der den ganzen Laden namens DDR lange zusammenhielt.
"Heimsuchung" ist derzeit - wenn überhaupt - nur gebraucht zu bekommen. Wird es eine Neuauflage geben?
Wohl eher nicht. Wer will schon Theaterstücke lesen? Allerdings habe ich das auch in Deutschland für Aufführungen vorerst gesperrt, weil das Stück zunächst in diese Ost-West-Problematik-Schublade geschoben wurde. Die ganzen Rätsel, die in dem Stück stecken, sind da völlig untergegangen. Ich muss einfach auf den Tag warten, an dem nicht gleich ein Ost-West-Tendenzstück gewittert wird, wenn auf der Bühne mal drei Ostler in einer Kirche im Westen Zuflucht suchen.
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #72 Juni/Juli 2007 und Hannes Baral