Soll ich mit der Geschichtsstunde anfangen? Also, Philomena Lynott. Mutter von Phil. Die hatte als alleinerziehende Mutter im erzchristlich-konservativen Irland der Fünfziger so ihre Probleme, und dass Philip aufgrund der Herkunft seines Vaters dunkelhäutig war, machte die Situation bestimmt nicht leichter ... Gut, dann also Philip Parris Lynott. Sänger, Songschreiber und Aushängeschild von THIN LIZZY, Solokünstler, der erste wirkliche irische Rockstar, ein Hellraiser und Womanizer vor dem Herrn, Poet und Familienmensch, der 1986 im Alter von 37 Jahren verstarb. Und Sohn von Philomena.
Jetzt vergessen wir mal ganz schnell "Whiskey in the jar", das Stück, mit dem die Band 1972/73 den Durchbruch schaffte (und das ihr je nach Coolness schon von euren Eltern kennt), es kann nämlich ohne weiteres als "nicht repräsentativ" bezeichnet werden. Überlassen wir an dieser Stelle Henry Rollins das Wort, der 2002 im Subway meinte: "Ich hielt sie schon immer für eine großartige, unterbewertete Band, liebe Phil Lynotts Stimme und seine atmosphärischen Texte". Nicht genug, dass der Mann damit Geschmack sowie Fachwissen unter Beweis stellt, er gehört auch in die Reihe der SUPERSUCKERS, FU MANCHUs, GLUECIFERs, REPLACEMENTS, TED LEO & THE PHARMACISTS oder der SMASHING PUMPKINS, die zu Ehren von Lynott schon seine Songs coverten. Dieses Jahr jährte sich am 4. Januar zum 20. Mal der Todestag dieses Mannes, und genauso oft fand in Dublin schon der "Vibe for Philo" statt. Zu diesem Anlass treffen sich Musiker und Fans, die das Schaffen des "Rockers" im Rahmen eines Konzerts und einer damit einhergehenden zünftigen Party in Ehren halten wollen. Mit Eric Bell und Brian Robertson sollten in diesem Jahr zwei der vielen ehemaligen Gitarristen mit von der Partie sein, während um den Rest des Programms die Gerüchteküche auf Höchsttemperatur brodelte. Dazu gehörte logischerweise ein fest eingeplanter Besuch am Grab, ebenso den Besuch der Statue, die seit 2005 einen von Lynotts Lieblingsplätzen in Dublin ziert, das volle Programm. Doch erstens kommt es manchmal ja eh anders und zweitens als man überhaupt denkt ...
Denn kurz vor Showtime treffen wir zufällig Phils Mutter Philomena, die wir gerade noch im irischen Fernsehen bewundern durften. Sie betritt den Pub, steuert aus irgendeinem unerfindlichem Grund schnurstracks auf uns zu, stellt sich vor, fragt, wer wir seien und überhaupt. Nachdem wir ihr erzählen, dass wir uns von Germany aus auf die Reise gemacht haben, um ihrem Sohn die Ehre zu erweisen, lädt uns die 76-Jährige nicht nur zur Aftershow-Party, sondern auch für den nächsten Tag in ihr Haus ein. Ein Angebot, das man nicht abschlagen kann. Das Konzert selber gestaltet sich als emotionale und musikalische Achterbahnfahrt, mit Höhen und Tiefen. Den Opener GLYDER kriegen wir nur aus der Ferne mit, doch angesichts eines mit einer Stunde Blues völlig am Anlass vorbeispielenden Eric Bell kann man sich leider nur besaufen. Da konnte auch der erste Auftritt von Robbo Robertson an diesem Abend nichts mehr rausreißen. Anders ex-ANDREW W.K.-Gitarrist Jimmy Coup, der gemeinsam mit dem japanischen Fanatiker Satoshi Shibata die Stimmung erstmalig in Richtung Fußballstadion steuert. Dieses Level kann Cait O'Riordan (POGUES) gemeinsam mit ROUNDHOUSE nicht ganz halten, verlegt sie sich doch auf die romantische Ader von Lynott und dementsprechenden Songs. Trotzdem gelungen. Dann treiben TRAD LIZZY mit ihren Versionen im traditionellen irischen Stil das Stimmungsbarometer wieder ganz nach oben und machen die Meute bereit für die SOUTHBOUND BAND, die sich als eine exakte musikalische Kopie der "Live And Dangerous"-Phase zeigen und mit geschlossenen Augen für "das Gefühl" des Abends sorgen können. Erneut gibt sich Robbo die Ehre und beweist, dass man auch, wenn man schon halbtot aussieht, trotzdem noch Soli aus der Les Paul feuern kann, die zu spontanen Beifallsbekundungen führen können.
Ortswechsel, einen Tag später in Howth, einem Fischerdörfchen an der Küste. Hier scheint die Welt noch in Ordnung, Robert Redford und Bonos Vater wohnen hier. Und eben auch Philomena Lynott. Wir klopfen an der Tür, es empfängt uns eine gut gelaunte Philomena und bittet uns herein. Nachdem sie dafür sorgt, dass sich ihre Gäste wohlfühlen ("Would you like some tea, my dear? Then go and make something for your boys!", wird meine Süße in die Küche geschickt), sehen wir uns schüchtern um. Das gesamte Wohnzimmer ist voll mit Andenken an ihren Sohn und vor allen Dingen an seine Fans. "Leute wie ihr habt mich am Leben erhalten, als Philip starb", beginnt sie unser Gespräch. "Mein Herz war gebrochen, und ich dachte ich kann nicht mehr. Doch dann trafen Tausende Briefe aus aller Welt ein, von Menschen, denen Philip anscheinend genau soviel bedeutet wie mir, und die gaben mir die Kraft weiterzumachen. Ich will bald ein Buch mit all diesen Briefen veröffentlichen, denn es ist so schön, zu sehen, dass, auch wenn er tot ist, Philip und seine Kunst noch für so viele Menschen so wichtig ist."
1994 gründete sie den "Roisin Dubh Trust" (gälisch für "Black Rose", eines der größten Lieder von Lynott), der Geld sammelt, um das Andenken an ihren Sohn und sein Schaffen in Ehren zu halten und unter anderem langfristige Musikstipendien zu ermöglichen. "Ich lernte wieder mehr an Philips Leben, als an seinen Tod zu denken." Auch die 2005 errichtete Statue geht auf das Konto dieser Organisation, denn: "Es gab soviel zu besprechen und zu tun, erstmal mussten wir die Stadt von unserem Traum überzeugen, dann musste die passende Genehmigung für den Ort eingeholt werden. Wie die Statue überhaupt aussehen sollte, aus welchem Material sie sein sollte, wie sie befestigt werden sollte, um all solche Sachen mussten wir uns kümmern." Also stellt man nicht einfach so eine Statue auf? "Nein, wo denkst du hin? Das hat Jahre gedauert. Doch wir haben die alle überzeugt, dass mein Junge es verdient, dass die Stadt, die er so geliebt hat, ihm endlich Danke sagt." Auf die Frage, wie genau die Form der Überzeugung aussah, deutet sie mit einem schelmischen Grinsen einen kräftigen Griff in die primären Geschlechtsorgane eines Mannes an ...
Ihr sehr empfehlenswertes Buch "My Boy - The Philip Lynott Story" wird bald verfilmt, ihr Sohn wird von Gary Dourdan (hierzulande bekannt aus "CSI Las Vegas") dargestellt werden. Was hält sie davon? "Das wird wunderbar, keine Frage! Gary war auch schon hier und hat mich besucht. Und was soll ich dir sagen, er ist ein Riesen-Fan! Wir sind zusammen zu seinem Grab gegangen und haben da erst mal stundenlang zusammen geweint und danach geredet und geredet. Ich glaube nicht, dass man eine bessere Wahl hätte treffen können. Ich jedenfalls bin sehr, sehr glücklich damit!"
Dann ist es soweit, und Philomena bittet uns in das Zimmer, in dem ihr Sohn sich oft aufgehalten hat, und das nun mit Andenken an Phil dekoriert ist. Da hängen Edelmetallauszeichnungen der Plattenindustrie, die Fahne vom "Renegade"-Cover, Fotos von ihm und seiner Familie, und tatsächlich, da ist sie; die "Jukebox in the corner that's blasting out my favourite song" aus "Boys are back in town". Auch interessant seine private Plattensammlung, unter Alben aller Art finden sich da, fein säuberlich nach Erscheinung sortiert, auch die ersten vier Alben der RAMONES! "Bald machen wir ein Museum auf", frohlockt Philomena, "da können wir noch mehr zeigen!" Denn man darf nicht vergessen: wir sind hier auf privatem Grund und Boden und da zeigt man automatisch ein bisschen Respekt, man will ja nicht wie ein sabbernder Affe durch das Haus rennen. Philomena hingegen ist das relativ egal, sie teilt bereitwillig ihr Haus ("In diesem Zimmer kann jeder all die Fotos machen, die er möchte, das ist überhaupt kein Problem.") und ihre Erinnerungen mit jedem, der möchte.
"Helft mir mal, ich hab noch etwas Besonderes für euch!", ruft sie uns zurück. Ehe wir uns versehen, räumen wir den Wohnzimmertisch beiseite und Philomena bittet uns ihr "doch mal das blaue Case da rauszuholen". Sie wird doch nicht ...? Doch, genau das tut sie, und drückt mir seinen Bass in die Hände. Mit einem lockeren "Na los, spiel schon, dafür sind Instrumente doch da!" wischt sie meine Ergriffenheit weg und so stehe ich nun da; mit seinem Bass in der Hand, im Wohnzimmer seiner Mutter und spiele das Anfangsriff von "Jailbreak". "Macht doch alle das berühmte Foto von Philip nach, ihr wisst schon, das, auf dem er den Bass so vor sein Gesicht hält ..." Eine abgefahrene Situation. "Weißt du, das ist meines Wissens das fünftteuerste Instrument der Welt, abgesehen von antiken Sachen", holt sie mich in die Gegenwart zurück. Als sie die ihr schon dafür gebotene Summe nennt, wird mir schlecht und ich packe das Instrument gaaaanz vorsichtig zurück.
Nachdem Philomena noch bereitwillig Bücher und ähnliches signiert (sie verkauft Merchandise, um den Trust am Laufen zu halten, allerdings zu sehr fairen Preisen, auch über die Website erhältlich), fragen wir sie noch nach dem Weg zum Grab, doch auch da haben wir die Rechnung ohne den Wirt gemacht. "Wie, ihr wollt laufen? Das kommt überhaupt nicht in Frage. Keine Widerworte!", stellt sie ohne mit der Wimper zu zucken fest. Und ehe wir protestieren können, organisiert sie es so, dass wir gefahren werden. Tief gerührt verabschieden wir uns und Philomena gibt uns noch Folgendes mit auf den Weg: "Ich bin so froh, dass Philip nun endlich die Annerkennung bekommt, die er verdient! Früher wurde immer nur über seine Eskapaden und Probleme berichtet und völlig übersehen, welch großartiger Künstler und Mensch er war und was für ein großes Geschenk er uns mit seiner Musik und seinen Texten gemacht hat, das haben du, ich und wir alle zusammen geändert."
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #65 April/Mai 2006 und Tom Küppers