Einst galt London als Mekka der Livemusik und des Punk. Musikbegeisterte Menschen reisten regelmäßig an die Themse, um Platten zu kaufen, sich neu einzukleiden und spannende neue Bands zu entdecken, lange bevor diese es auf den Kontintent schafften. In den letzten zehn bis zwanzig Jahren ist die Attraktivität der Stadt stark gesunken, die Gentrifizierung hat immer mehr vom Reiz des alten London zerstört, und mit dem Brexit ist nichts einfacher geworden. Paul Talling, der auch die Bücher „Derelict London“ und „London’s Lost Rivers“ veröffentlicht hat, und den man als Guide für eine alternative Stadtführungen buchen kann, hat für seine beiden Bücher über „London’s Lost Music Venues“ die Standorte von einstigen Londoner Venues aufgesucht und fotografiert. Ich befragte ihn zu Vorgehen, Idee und Motivation.
Paul, bitte stell dich vor.
Von den späten Achtzigern bis in die frühen Zweitausender war ich Musikveranstalter in London und organisierte Gigs im Sir George Robey, Lady Owen Arms, Opera on The Green, The Red Eye und The Marquee. Viele davon waren Punk-Abende mit Bands wie UK SUBS, THE EXPLOITED und THE LURKERS, sowie einigen aufstrebenden Acts wie MANIC STREET PREACHERS und GUITAR GANGSTERS. Ich hatte auch ein Plattenlabel namens Snakebite City, wo ich eine Reihe von Compilations herausbrachte, auf denen Bands wie CARTER THE UNSTOPPABLE SEX MACHINE, CHINA DRUM und MEGA CITY FOUR vertreten waren. Der BBC-DJ John Peel war ein großer Fan dieser Compilations.
Bist du ausgebildeter Historiker, Soziologe oder Archäologe oder etwas in der Art ...? Denn das, was du machst, scheint all diese Felder zu berühren.
Ich habe keinen akademischen Hintergrund, was diese Bereiche betrifft. Im Jahr 2003 bemerkte ich, dass eine verlassene Fabrik im Süden Londons endgültig der Abrissbirne zum Opfer fallen sollte. Das hat mich fasziniert. Ich begann also nach anderen verlassenen Gebäuden Ausschau zu halten – es wurde schon fast zu einer Sucht. Ich zog mit der Kamera in der Hand durch die Straßen und richtete eine Website ein – derelictlondon.com – mit Fotos dieses Umbaus von London, was ja sonst meist undokumentiert bleibt. Ich habe bereits zwei Bücher zu diesem Thema veröffentlicht, eines mit dem Titel „London’s Lost Rivers“, das sich mit vergessenen Flüssen, Kanälen und Docks beschäftigt.
Dein neues Buch „London’s Lost Music Venues 2“ ist wie bereits der erste Teil.
Es weckt sicherlich das Gefühl der Nostalgie und des Verlusts, aber es feiert auch das, was wir hatten, und ermutigt die Menschen hoffentlich dazu, das zu schätzen, was wir noch haben, und weiterhin Konzerte zu besuchen und die existierenden Veranstaltungsorte zu unterstützen.
Welche Absicht verfolgst du mit diesen Büchern?
Nachdem die ganzen Orte, in denen ich selber Gigs veranstaltet habe, geschlossen worden sind, haben sich viele Leute gefragt, was aus ihnen geworden ist. Also habe ich es mir zur Aufgabe gemacht, etwas über Londoner Veranstaltungsorte von den Fünfzigern bis in die Gegenwart herauszufinden, inklusive der Geschichte des Standorts und der Bands, die dort gespielt haben.
Städte verändern sich ständig, manche mehr als andere, und ich denke, dass Shanghai, New York und London Städte sind, wo Altes oft schnell verschwinden kann, während etwa andere Orte mit einer langen Geschichte wie Bern, Wien oder sogar Berlin eher „oldschool“ sind und sich gegen zu viel Veränderung wehren.
London wird oft als das Epizentrum des Kapitalismus bezeichnet. Im Namen der Erneuerung und um das große Geld zu machen, wird die gewachsene soziale Struktur oftmals beiseite geschoben. Das führt zu einer permanenten Umgestaltung und einer schnell wechselnden Anwohnerschaft, die die alten Schmuckstücke nicht immer zu schätzen weiß.
Die Anzahl der Orte, die du in deinen beiden Büchern behandelst, ist erstaunlich. Hast du ein paar Zahlen für uns? Wie viele Lokale gab es insgesamt im Rock’n’Roll-Zeitalter – und wie viele gibt es davon heute noch?
In den beiden Bänden von „London’s Lost Music Venues“ zusammen habe ich bereits über 270 Veranstaltungsorte geschrieben. Ich schätze, ich könnte weitere 130 Orte nennen, die wir verloren haben, die ich aber aber nicht berücksichtigt habe, weil dort nur sporadisch Konzerte stattfanden. Eine vom Londoner Bürgermeister initiierte Projektgruppe hat herausgefunden, dass London seit 2007 über ein Drittel seiner Musiklokale verloren hat.
Ich schätze, dass die Zahl der aktiven Veranstaltungsorte in den letzten zwei Jahrzehnten stark zurückgegangen ist. Was sagt uns das über „unsere“ Musik, Live-Musik und London im Besonderen?
Die erwähnte Projektgruppe hat herausgefunden, dass die Zahl der Veranstaltungsorte in London, in denen junge Künstler auftreten, zwischen 2007 und 2015 von 136 auf nur 88 gesunken ist. Corona hat die bestehenden Veranstaltungsorte noch zusätzlich unter Druck gesetzt. In den letzten Jahren haben sich die Menschen jedoch auch aktiv für den Erhalt der Veranstaltungsorte eingesetzt und die Öffentlichkeit auf die Bedrohung der Live-Musikszene aufmerksam gemacht. Die britische Wohltätigkeitsorganisation „Music Venue Trust“ setzt sich für den Schutz, die Sicherheit und die Verbesserung der britischen Musikspielstätten ein. Außerdem bieten diese Veranstaltungsorte Lehrstellen an und gewährleisten die Ausbildung der nächsten Generation von Künstlern, Technikern, Managern, Veranstaltern bis zu Roadies.
Nichts hält sich ewig, und es scheint, dass viele der von dir genannten Veranstaltungsorte nur von kurzer Dauer waren, weil ein Veranstalter eine Kneipe oder Ähnliches brauchte und sie nur für kurze Zeit nutzte. Andere existierten viele Jahre lang, bis sie geschlossen wurden. Was sind die Top 3 der Gründe für die Schließung eines Clubs? Ein Grund werden wohl die Nachbarn sein, die sich über den Lärm beschweren, oder?
Viele der größeren Veranstaltungsorte in meinen Büchern waren Kinos, in denen in den Fünfziger und Sechziger Jahren auch häufig Live-Veranstaltungen stattfanden. Aber als die großen Kinosäle nach und nach in kleine Schachtelkinos mit mehreren Leinwänden aufgeteilt wurden, war es mit der Live-Musik vorbei. Oder sie wurden einfach in Bingohallen umgewandelt oder an Kirchen verkauft, die anscheinend über reichlich Mittel aus dubiosen Quellen verfügen. Andere größere Veranstaltungsorte waren Universitäten, aber die Kürzung der Fördergelder für Studentenvereine, die die Konzerte organisierten, hat sicherlich zu deren Ende beigetragen. Was die Nachbarschaftsprobleme angeht, so gibt es im Osten Londons ein Lokal namens The George, das sehr erfolgreich ist und eine Kampagne führt, um zu verhindern, dass nebenan Wohnungen gebaut werden, weil sie befürchten, dass sich die neuen Nachbarn über die Musik aus dem Pub beschweren könnten. Doch zu den wichtigsten Gründen für eine Schließung heutzutage: erstens machen die Eigentümer aufgrund der ständig steigenden Grundstückspreise mehr Gewinn, wenn sie die Kneipe oder den Club verkaufen, um sie abzureißen zu lassen oder einer anderen Nutzung zuzuführen. Beispiele dafür sind das Red Eye in Islington, wo das Gebäude in Wohnungen umgewandelt wurde, und das Red Lion in Brentford, das abgerissen wurde, um dort ein Drive-In von McDonald’s hinzusetzen. Oder ein Pub verdient einfach mehr Geld, wenn er den Hinterraum in ein gehobenes Restaurant umwandelt. Ein klassisches Beispiel dafür ist das Bull & Gate in Kentish Town bei Camden. Zweitens: Große Regierungsprojekte wie die Eisenbahnlinie Crossrail, auch bekannt als Elizabeth Line, der Eisenbahnbau im Zentrum Londons, der zum Niedergang des Astoria, des Metro und des 12 Bar Club führte. Drittens: Hohe Unternehmenssteuern und generell das gesamte Wirtschaftssystem und eine überbordende Bürokratie führen oft dazu, dass ein Lokal wirtschaftlich einfach nicht mehr überlebensfähig ist. Ein aktuelles Beispiel ist das Borderline, das 2019 nach 34 Jahren geschlossen wurde, wo im Laufe der Jahre Bands wie OASIS, DIE TOTEN HOSEN, Deborah Harry, R.E.M. und RAGE AGAINST THE MACHINE zu Gast waren.
Wie viel hat das Verschwinden der Musikclubs mit der Gentrifizierung zu tun? In deinem Buch sind eine Menge Fotos, die Wohnhäuser zeigen, die an die Stelle eines Musiklokals getreten sind. Oft sind das wohl Eigentumswohnungen, die Leute aus anderen Ländern gehören, die dort gar nicht wohnen ...
Auch das liegt an der allgemeinen Wirtschaftsentwicklung. Es ist ein londonweites Problem, dass Investoren aus dem Ausland hier Immobilien und Grundstücke kaufen, denn das ist für sie oft eine sicherere Anlage als in ihren instabilen Heimatländern. Die London Arena in der Nähe von Canary Wharf mit einer Kapazität von 15.000 Plätzen wurde 2006 abgerissen und durch eine Wohnbebauung ersetzt, in der anscheinend nicht viele Menschen leben ...
Was sind deine Top 3 Veranstaltungsorte in London, die überleben müssen, sollten oder werden?
Der 100 Club in der Oxford Street: Er firmiert seit 1964 unter demselben Namen und veranstaltet seit 1942 Live-Konzerte, was ihm den Titel des ältesten unabhängigen Veranstaltungsortes der Welt einbrachte. Meine Mutter hat hier in den Fünfziger Jahren Jazzkonzerte besucht und ich komme seit den Achtziger Jahren ebenfalls hierher. Es sieht immer noch so aus wie damals, als ich die Treppe zu diesem Kellerlokal hinunterging, das ist der einzig verbliebene anständige Ort im Zentrum Londons, um Live-Musik zu sehen. New Cross Inn, New Cross: Dieser Pub im Süden Londons ist für mich besonders praktisch. Tolle Bands, anständiger Sound und preiswerte Getränke. Ich habe hier immer tolle Abende verbracht, wenn ich Bands wie THE BOYS, THE MEMBERS und EDDIE & THE HOT RODS gesehen habe. The Dublin Castle: Dieser familiengeführte Pub mit Jukebox liegt im legendären Stadtteil Camden Town und hat ein tolles Hinterzimmer für Gigs. An der Fassade des Pubs befindet sich eine Gedenktafel, die an MADNESS erinnert, die hier 1979 ihren ersten Auftritt hatten, wodurch sie zu einer Art Hausband wurden. Es lässt sich nicht verbergen, dass ich kleine Pub- und Club-Gigs bevorzuge!
Etwas, das ich vergessen habe zu fragen, du aber gerne hinzufügen würdest?
Ich denke, es ist wichtig, dass wir wieder mehr auf Konzerte gehen und die Veranstaltungsorte unterstützen, besonders die kleineren. Wir alle können unseren Teil beitragen, indem wir dort Eintritt zahlen, ein paar Bier trinken und direkt vor Ort Merchandise-Artikel von unseren Lieblingsbands kaufen. Wir sollten das feiern, was wir noch haben, solange wir noch können, denn man weiß ja nie, wann die nächste Pandemie um die Ecke kommt ...
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #164 Oktober/November 2022 und Joachim Hiller