NOTHING BUT THIEVES

Foto© by Beatriz Oliveira

Diskrepanz in der Hyperrealität

Die Briten sind mit dem vierten Album zurück und ziehen ihrem klassifizierendem Gitarren-Alternative-Sound die Tanzschuhe an. Wir sprechen mit dem Gitarristen Dominic Craik über die Entstehung des neuen Albums, musikalische Inspiration – und natürlich das illusorische Diesseits: „Dead Club City“.

Dead Club City“ ist wie ein „Abend im Berghain mit anschließender Beichte in der Kirche und einem leichten Mittagessen“ – die Metapher bleibt eine Geisterstadt der Antonyme. Auf ihrem vierten Longplayer zeigen sich NOTHING BUT THIEVES nicht nur in einer neuen musikalischen Fasson, sondern nehmen ihre Hörer:innen tief in die thematische und tonale Neuerung mit. Ohne jeden Wegweiser – im freien Fall – immer Masons einprägsamer Stimmfarbe hinterher. Partiell konnte den neuen Songs schon bei den diesjährigen Festivalshows gehuldigt werden, die Band spielte beispielsweise bei Rock am Ring/Rock im Park – laut ihnen einer der „besten Live-Momente des bisherigen Jahres“.
Haben Alternative/Rock-Liebhaber:innen die noch vergleichsweise junge Band aus Essex schon seit Jahren auf dem Radar – spätestens seit dem durchschlagenden Erfolg von „Broken Machine“ –, so unterstrich das 2020er Werk „Moral Panic“ die aufkeimende Euphorie. Vokalist Conor Mason, die Gitarristen Joe Langridge-Brown und Dominic Craik, der zugleich Keyboarder der Band ist, Philip Blake, Bass, und Schlagzeuger James Price haben seit ihrem Debüt 2015 keine Verschnaufpause eingelegt: Ob getrieben von einer schier unerschöpflichen Fontäne an Kreativität oder zahlreichen internationalen Live-Shows (trotz der obligatorischen Corona-Zwangspause), das Quintett arbeitet sich mit langem Atmen und einem strikten Release-Takt an die Spitze.

2023 schlägt die Band, mal wieder, ein neues Kapitel auf – NOTHING BUT THIEVES haben sich von allgemeinen und persönlichen musikalischen Konventionen frei gemacht und sich auf ihr eignes Gespür verlassen: „Der Drang, die beste Platte zu machen, die wir machen können, hat uns dazu gebracht, den inneren Druck anzunehmen“, so Craik über den neuen Longplayer. „Wir haben uns von Einflüssen leiten lassen, die wir normalerweise nie in unsere Musik fließen lassen würden. Alles von ABBA bis DAFT PUNK. Es fühlte sich unglaublich berauschend an.“ Im kompletten Entstehungsprozess wurde trotz des festen Rahmens jeder Bestandteil auf seine Eigenständigkeit geprüft, um nicht in die Falle eines zu verkopften Albums zu stolpern. So gliedert sich exemplarisch auch der Song „Tomorrow is closed“ in das Tracklisting ein, der bereits 2019 entstand und in der vierten Runde seinen Feinschliff fürs Album bekam. Im gesamten Ablauf profitierte „Dead Club City“ vor allem durch die Absenz jeglichen äußeren Drucks. Produziert wurde mehr oder weniger im Alleingang, ohne einen fest getakteten Zeitplan und die Hauptverantwortlichkeit lag bei Craik, der selektiv Unterstützung von John Gilmore erhielt (bekannt für seine Arbeit mit THE 1975, Charli XCX ...). Das Zusammenspiel aus feinfühligem Producing und geschliffenem, aber gleichermaßen emotionalem Songwriting, aus Melancholie und den unbestreitbar weitläufigen Genre-Interpretationen hat die Band schon immer ausgemacht, aber gerade durch die „Experimente mit neuem Gitarrenequipment, Drumcomputern und Synthesizern“ erhielten die Tracks ihren andersartigen Sound, so Craik.

Die penible Ausgestaltung des Tonalen war jedoch keinesfalls die Wurzel des Konzeptalbums. Der titelinspirierte Opener der Platte entwickelte sich eher als Katalysator des episodenhaften Schemas und führt(e) die Band in die Tiefen ihrer eigens erschaffenen Metaphorik. Daraus entstanden sind Geschichten, die weniger chronologisch eine Histoire abarbeiten und mehr eine Gleichzeitig an Momenten postulieren, die der „DCC“ ihren Charakter geben. Mit dem ausgrenzenden „Members only“ und der bedrückenden Isolation von „Talking to myself“ entsteht eine Welt zwischen Entertainment, Entfremdung und Beschleunigung. „Was die Metapher der ‚Dead Club City‘ angeht, so ist sie absichtlich vage und subjektiv – das ist das Spannende an diesem Album. Ist es der Himmel, ist es die Hölle, ist es eine unternehmerische Einöde? Gefällt es den Leuten im Club, dort zu sein? Jeder Song repräsentiert eine andere Perspektive, so dass sich bei jedem Hören neue Blickwinkel auftun.“ Die vorsätzliche Offenheit der subjektiven Wahrnehmung wird bereits auf dem Cover angedeutet, das von Luke Brickett entworfen wurde und gleichermaßen dem Retrofuturismus Buße tut als auch Richtung Gentrifizierung schielt.

„Dead Club City“ stellt sich als Labyrinth der Möglichkeiten dar und bleibt den vorangegangenen Werken insofern treu, dass die Aussage weitestgehend gesellschaftskritisch bis politisch ins Auge sticht. „Ich habe das Gefühl, dass die Welt aus dem Gleichgewicht geraten ist. Das ist sie schon seit einiger Zeit. Ob es um politische Fragen, soziale Ungleichheit oder Macht geht, mir scheint, dass wir dringend ein Umdenken brauchen.“

Mit dem Kopf voller Eindrücke schicken NOTHING BUT THIEVES ihre Fans letztendlich aus dem Album heraus und der Closer „Pop the balloon“ führt die Teilnehmer:innen, wie nach einer durchfeierten Clubnacht, in die Realität zurück, aber „wie wir die Leute aus der ‚Dead Club City‘ schicken, bleibt besser ungesagt“.