NOAH LEVINE

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Meditation und Stagediven

Disclaimer/Triggerwarnung
Levine wurde in der Vergangenheit von zwei Schülerinnen aus der „Against The Stream“-Community sexuelle Nötigung vorgeworfen. Er bestreitet das. Teile von Levines ehemaligen Schützlingen von ATS reagierten aufgrund seiner hohen Reputation als Mentor entsetzt, enttäuscht und desillusioniert. Ich habe mich darüber – so gut es ging – im Netz mit meiner Meinung nach objektiven Quellen schlau gemacht. Ergebnis: Seine Schüler:innen aus der Dharma/ATS-Gruppe haben sich mehrheitlich auf seine Seite gestellt und verlautbaren lassen, es habe sich um einvernehmliche Verabredungen gehandelt, die Dritten auch bekannt waren. Der Vorwurf der Schülerinnen lautete auch nicht auf sexuellen Missbrauch, sondern auf das Erschleichen von Treffen und Kontaktdaten. Trotzdem fand eine mehrmonatige strafrechtliche Ermittlung statt. Levine wurde nicht juristisch belangt, es gab keine Anklage. Seine Community hatte ihn aber zeitweilig als Mentor suspendiert, da sie seine Vorbildfunktion als Yogi als beschädigt betrachtete. Mittlerweile wurde die Suspendierung zurückgenommen, Levine gibt wieder Kurse. Im Vorfeld habe ich überlegt, ob ich das (zugesagte) Interview mit Noah machen soll. Ich möchte natürlich niemandem eine Plattform bieten, der in irgendeiner Form übergriffig war. Aber kann ich das als Nichtmitglied der Community beurteilen? Nein! Steht meine gefühlte moralische Empörung über der Faktenlage von Ermittlungsbehörden? Anmaßend und irrational! Strafrechtlich ist der Mann wie gesagt nicht in Erscheinung getreten. Daher: kein Canceln! Hier ist das Interview mit den ursprünglichen Fragen zur „Punk und Religion“-Reihe und ohne Bezug zu den erwähnten Vorwürfen. Levine hat sich zum Thema online mehrfach geäußert. Es möge sich jede:r selbst ein Bild davon machen.

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Noah Levine ist eine der bekanntesten Personen in der Schnittmenge von Punkrock/Hardcore und Buddhismus. Das von ihm gegründete „Against The Stream Meditation Center“ und die damit verbundenen „Dharma Punx“ sind vermutlich für die meisten am Buddhismus interessierten Punks die Initialzündung gewesen. Doch auch außerhalb des kleinen Szenekosmos hat sich Levine mit dem „Refuge Recovery“-Programm einen Namen als Anlaufstelle bei Suchtproblemen gemacht und zählt einige illustre Promis zu seinen von stoffgebundenen Abhängigkeiten genesenen Schüler:innen. Warum Punk für ihn die wilde Stimme der Weisheit darstellt, erklärt er im Interview.

Noah, ich habe gelesen, dass dein Vater dich spirituell beeinflusst hat. Als rebellischer Teenager, der sich für Punkrock interessierte? Wie hast du als junger Mensch diesen Widerspruch zwischen Rebellion und Religion wahrgenommen?

In meiner Jugend und meinen frühen Teenagerjahren habe ich noch pflichtbewusst gegen die Spiritualität meines Vaters rebelliert, aber mit 17 Jahren war ich voll drogenabhängig, kriminell und selbstmordgefährdet. Nachdem ich dann einmal in Haft gekommen bin, schlug mein Vater mir zum Runterkommen Meditation vor und ich war verzweifelt genug, es auszuprobieren. Es half tatsächlich, mich von meinen Problemen abzulenken und ich begann mich dafür zu interessieren und praktizierte es weiter, was mich schließlich zum intensiveren Studium des Buddhismus führte.

Auf den ersten Blick scheint der Buddhismus im Vergleich zu anderen Religionen am meisten mit Punkrock gemeinsam zu haben: Glaube nicht deinen Lehrern, glaube nicht deinen Eltern, glaube nicht einmal Buddha, denke selbst. Aber wenn ich meine eigenen Entscheidungen treffen soll und für mein Leben selbst verantwortlich bin, wie Buddha sagt – warum brauche ich dann überhaupt noch einen Glauben? Wenn der Mensch im Mittelpunkt steht, ist Religion doch überflüssig.
Ja, Religion ist unnötig! Aber wir brauchen eine geeignete Anleitung dafür, wie wir unseren Geist schulen und wie wir in dieser Welt der Unwissenden leben können, ohne im gängigen Modus der Glückssuche durch Sinnesfreuden und Materialismus stecken zu bleiben. Buddha war aus heutiger Sicht ein humanistischer Psychologe, er stand nicht auf all die religiösen Dogmen, die nach seinem Tod aufkamen. Er dachte radikal, rebellierte gegen Religiosität und kritisierte sie ständig.

„Being Buddhist is about as punk as you can get“ ist ein häufig genutztes Zitat von dir. Ich halte es für widersprüchlich. Punk ist laut, anklagend. Meditation dagegen ist leise, versöhnlich.
Echter Buddhismus ist Atheismus. Keine Götter, keine Meister. Keine falschen Versprechen von Glück im Himmel. Nur die Wahrheit, die Realität des menschlichen Leidens und der Ignoranz. In dieser Hinsicht ist es Punk! Punk ist aus der weisen Entscheidung geboren, gegen die ignoranten Normen der Welt zu rebellieren. Aber meistens bietet uns Punk nur eine schnelle und laute Kritik an dieser Ignoranz, keine Lösung. In dieser Hinsicht bringt der Buddhismus die Rebellion auf die nächste Ebene, indem er tatsächlich eine Lösung anbietet, einen Weg, ein Training. Eine Möglichkeit, als Teil der Lösung auf der Welt zu sein. Der Buddhismus lehrt uns, wie wir unser Leiden beenden können, über das Punk nur so schön schreit.

Hast du eine Erklärung dafür, warum buddhistische Punks keine ähnliche Szene wie die Krishnas oder die Christen geschaffen haben? Immerhin gibt es zahlreiche Buddhist:innen in Bands, aber nur sehr wenige buddhistische Bands.
Ich bin mir nicht ganz sicher, aber vielleicht liegt es daran, dass der Buddhismus weniger für sich wirbt oder weniger auf Rekrutierung setzt. Wir versuchen nicht, Leute zu unseren Ansichten zu bekehren, wie es die Krishnas und die Christen zu tun pflegen. Uns fehlt offenbar das Sendungsbewusstsein.

Hardcore und Punk sind ursprünglich sehr subversive und zu großen Teilen atheistische Jugendkulturen. Sie stellen Autoritäten infrage. Wie passt das deiner Meinung nach zur Religion? Ist der Glaube an Gott oder eine höhere Macht nicht ein reines Abbild des Glaubens an eine Autorität?
Genau deshalb bin ich Buddhist. Wir glauben nicht an Gott. Wir wissen, dass der Mensch die Kraft und Fähigkeit hat, durch eigene Anstrengungen und Handlungen aufzuwachen. Durch Rebellion gegen Gier, Hass und Verblendung erwacht man zu Mitgefühl und Weisheit.

Du warst in der Vergangenheit mit Refuge Recovery sehr erfolgreich bei der Behandlung von Suchtkranken. Welche Vorteile siehst du in einer spirituellen Bearbeitung von Suchtproblemen im Gegensatz zu einem herkömmlichen 12-Schritte-Programm?
12-Schritte-Programme verfolgen einen theistischen spirituellen Ansatz, um von der Sucht zu genesen. Deshalb habe ich Refuge Recovery gegründet, damit die Menschen eine nicht-theistische Alternative haben. Der Buddhismus bietet einen sehr praktischen und anwendbaren Weg, um frei von Sucht zu leben. Wir glauben nicht an die Lügen der Religion, das falsche Versprechen eines göttlichen Eingriffs. Wir verstehen, dass unsere Genesung von unserem Handeln und der Weisheit abhängt, die wir durch Meditation entwickeln.

Als Teenager habe ich durch Bands wie DEAD KENNEDYS, PROPAGANDHI, THE CLASH oder GOOD RIDDANCE viel über Politik gelernt, das in der Schule nicht diskutiert wurde. Siehst du buddhistischen Punkrock als einen Weg, buddhistische Ideen zu verbreiten, nicht nur politische?
Grundsätzlich schon, aber ich bin auch nicht auf irgendeiner Art von Mission, um die buddhistischen Lehren zu verbreiten. Vielmehr habe ich die Haltung und Absicht, diese für Interessierte zugänglich zu machen, anstatt sie offensiv feilzubieten. Natürlich freue ich mich immer, wenn Punks durch meine Aktivitäten, Bücher und Vorträge inspiriert werden.

Miguel Chen, Bassist bei TEENAGE BOTTLEROCKET und Yogi, überträgt das Konzept der spirituellen Verbindung von Menschen im Buddhismus auf konkrete politische Forderungen wie eine universelle Gesundheitsversorgung und ein Grundeinkommen. Glaubst du, dass der Buddhismus mehr oder ein anderes Potenzial für konkrete politische Forderungen hat?
Buddha hatte nicht viel Hoffnung auf Gerechtigkeit und Gleichheit auf diesem Planeten. Er verstand, dass die menschliche Gier und Ignoranz zu mächtig war, um sie in einem großen gesellschaftlichen Umfang zu überwinden. Er lehrte Gleichheit und Großzügigkeit, er sprach mit den politischen Führern seiner Zeit über das Leiden, das ihre Gier und ihr Hass nicht nur anderen, sondern auch ihnen selbst zufügte. Aber er versuchte, Weisheit und Mitgefühl zu fördern. Aber letztendlich verstand er auch, dass wir in einer Welt der Ignoranz und Gier leben, die wahrscheinlich nicht zu einer Welt der Gerechtigkeit und Güte werden wird.

Aus yogischer oder buddhistischer Perspektive muss man sich zuerst um sich selbst kümmern, bevor man anderen wirklich helfen kann. Auf der anderen Seite hat Punkrock immer viele gebrochene Persönlichkeiten und Künstler angezogen. Nihilistische Bands wie POISON IDEA oder BLACK FLAG zum Beispiel haben andere positiv beeinflusst, obwohl sie ein negatives Weltbild vermitteln. Kann ich also auch Gutes tun, ohne es zu beabsichtigen?
Ja, wir haben Einfluss aufeinander. Vor allem wenn man in einer Szene oder Community aktiv ist und in der heutigen Zeit, in der soziale Medien die Norm sind. Was wir sagen und tun und wie wir uns darstellen, hat Auswirkungen, ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht.

Das Konzept der Verbundenheit aller Menschen ist ein zentraler Bestandteil des buddhistischen Glaubens. Ich formuliere jetzt bewusst überspitzt und naiv: Bedeutet das, dass Anne Frank und Adolf Hitler genauso miteinander verbunden waren wie ich und Donald Trump heute? Als Nicht-Buddhist ist dieser Punkt für mich schwer zu verstehen.
Einerseits sind wir alle Individuen, die für ihre eigenen Handlungen voll verantwortlich sind, Stichwort: Karma. Andererseits, und darauf spielst du hier an, sind wir letztendlich nicht wirklich voneinander getrennt. Wir teilen uns alle diesen Planeten, wir sind alle in gewisser Weise verbunden. Die Dinge sind nicht so getrennt und fest, wie sie scheinen. Die Molekularbiologie würde sagen, dass wir subatomare Partikel miteinander teilen, also hilft uns das vielleicht zu verstehen, dass wir in gewisser Weise miteinander verbunden sind und in anderer Weise individuell verantwortlich. Hitler und Trump haben das Karma ihrer Handlungen. Du und Anne habt das Karma eurer Handlungen. Jeder hat es.

Während meiner Recherchen bin ich immer wieder auf den Vorwurf der kulturellen Aneignung im Zusammenhang mit dem westlichen Buddhismus gestoßen. Das Thema ist aufgrund der aktuellen Identitätspolitik interessant. Wie begegnest du diesem Vorwurf, wie würdest du ihn widerlegen?
Spirituelle Wahrheit hat keine Kultur. Der kulturelle Ursprung des Buddhismus hatte wenig mit der ihm immanenten ermächtigenden humanistischen Philosophie zu tun. Er wich vom damaligen Zeitgeist ab. Davon abgesehen gibt es einen Haufen religiöser, dogmatischer und kultureller Ignoranz, der mit den wahren Lehren Buddhas verwechselt wird. Und es gibt nichts Schlimmeres als einen Haufen weißer Leute, die vorgeben, etwas zu sein, was sie nicht sind. Aber der wahre Buddhismus ist nicht kulturell determiniert, er ist die Wahrheit der gesamten Menschheit. Buddha selbst war sehr kritisch gegenüber seiner eigenen Kultur und sprach sich ständig gegen die rassistische, sexistische und wahnhafte Zeit aus, in die er hineingeboren wurde. Wir haben genug eigene Ignoranz zu überwinden.

Aus buddhistischer Sicht ist diese Welt irrelevant. Dann ist eine Leidenschaft für Punk eigentlich völlig nutzlos. Wie behältst du deine Leidenschaft für Musik/Punk, wenn du weißt, dass das alles eigentlich unnötiger Unsinn ist?
Ich würde nicht sagen, dass diese Welt irrelevant ist. Diese Welt, diese Lebenszeit, dieser gegenwärtige Moment ist total relevant und voller Möglichkeiten. Die Art und Weise, wie wir unser Leben leben, wie wir uns in der Welt zeigen, wie wir uns gegenseitig behandeln, das ist alles sehr relevant für das Karma, das wir erschaffen. Meine Leidenschaft für Punk ist eine Leidenschaft für die Wahrheit. Punk ist die wilde Stimme der Weisheit. Ich fühle auch, dass das Leben gelebt und so viel wie möglich genossen werden sollte. Es ist immer auch wichtig, Spaß zu haben und ein paar Stagedives zu machen.

Wie geht es mit dir und ATS weiter?
Against The Stream wird weiterhin ein Ort der Zuflucht für alle sein, die ihn suchen. Alle meine Kurse sind online verfügbar und das meiste, was ich mache, wird live gestreamt. Aktuell stecke ich viel Aufmerksamkeit und Energie in Refuge Recovery, das buddhistische Programm zur Suchtentwöhnung, das ich entwickelt habe.

Nach all diesen ernsten Fragen, welcher ist dein Lieblings-Anti-Religions-Punk-Song?
„No spiritual surrender“ von INSIDE OUT.