Es war noch nie etwas Ungewöhnliches, wenn der Sänger einer Band irgendwann auch alleine etwas veröffentlicht. Selbst in der Welt der Skate-Decks und Vans, der Irokesen und des Pogos ist dies mittlerweile vollkommen salonfähig geworden, nicht zuletzt durch Leute wie Joey Cape von LAG WAGON. In dieses Schema passte dann 2004 auch "Lock-Sport-Krock", das Erstlingswerk des MILLENCOLIN-Sängers Nikola Sarcevic, gut hinein. Rund zweieinhalb Jahre später ist der sympathische Schwede wieder zurück mit einem neuen Soloalbum, "Roll Roll And Flee". Wie es zu diesen beiden Alben kam und was einem musizierenden Skandinavier sonst so wichtig ist, verraten diese Ausschnitte aus Nikolas Tagebuch, die ich in einem unbeobachteten Moment kopieren konnte ...
2.April 2004
Letzte Woche ist mein Soloalbum "Lock-Sport-Krock" erschienen. In den letzten Jahren habe ich einige Songs geschrieben, bei denen ich immer mehr das Gefühl hatte, dass sie nicht zu MILLENCOLIN passen würden. Stattdessen wurde mir bewusst, dass ich eigentlich an einem anderen Projekt arbeitete, ohne es recht bemerkt zu haben. Irgendwann stand einfach fest, dass ich demnächst eine eigene Platte mit diesen Liedern aufnehmen würde. Also habe ich diesen Sommer eine Pause bei MILLENCOLIN genutzt und mich mit Hendrik Wind von den PEEPSHOWS für drei Wochen in ein Studio begeben und diese Songideen ausgearbeitet und aufgenommen. Erst danach wurde mir auch bewusst, wie sehr sich diese Lieder von meinen anderen unterscheiden. Diese Songs sind teilweise sehr persönlich geworden, und auch diejenigen, die es nicht sind, klingen so.
Als ich das Material aufgenommen habe, wusste ich gar nicht so recht, was daraus werden könnte. Ich bin froh, dass sich Burning Heart Records bereit erklärt haben, das Album zu veröffentlichen. Aber nach all der Zeit, die ich schon dabei bin, hätte mich was anderes auch enttäuscht. Es wäre mir zu anstrengend gewesen, hätte ich mich um ein neues Label bemühen müssen. Mir ging es ja nur darum, diese Ideen zu verarbeiten und einmal ein Album aufzunehmen, das beweist, dass ich mehr kann als bei MILLENCOLIN-Songs zwischen Punkrock und Rock zu schreiben. In erster Linie mir selbst gegenüber.
Jeder Musiker macht sich natürlich Gedanken darüber, wie seine Platte ankommt, aber das stand bei "Lock-Sport-Krock" wirklich im Hintergrund. Und dann der Titel, ich musste an unsere Kindheit und an dieses Fußballteam denken, das wir in unserer Fantasie gegründet haben und das so heißen sollte. So genau weiß ich gar nicht, warum ich mich dann für diesen Namen entschieden habe, aber irgendwie klingt er gut.
Mit MILLENCOLIN wäre ich jetzt als nächstes auf Tour gegangen, sobald ein neues Album erschienen ist. Es ist ein ungewöhnliches Gefühl, sich nach dieser Routine Gedanken darüber zu machen, ob es so etwas wie eine Tour geben wird. Ich würde die Songs gerne live spielen, aber es ist noch zu früh, um abzusehen, ob es mehr als dieses eine Konzert am Wochenende geben wird. Wenn es uns allen Spaß macht, warum nicht? Aber dann steht ja auch bald wieder ein neues Album mit MILLENCOLIN an. Da bleibt nicht viel Zeit für meine Solopfade.
8. April 2005
Gestern ist das neue MILLENCOLIN-Album "Kingwood" auf Platz zwei in die schwedischen Charts eingestiegen! Wow. Mit so etwas rechnet man nicht jeden Tag, schließlich sind wir ja keine gecasteten Superstars.
Wenn ich schon bei gecasteten Bands bin, fällt mir doch gerade ein, dass es auch ziemlich genau ein Jahr her ist, seit mein Solodebüt erschienen ist. Ich weiß noch, wie ich mir damals Gedanken darüber gemacht habe, ob ich überhaupt zwei Shows mit diesem Material spielen werde. Ja, ich habe einige geschafft. Und wenn ich das alles so recht durchdenke, hat mir dieses Projekt großen Spaß gemacht. Ich denke, ich sollte mir langsam Gedanken über einen Nachfolger machen. Natürlich war mir klar, dass es finanziell weit hinter MILLENCOLIN bleiben würde, aber das ist doch egal. Vielleicht muss ich selber wieder Geld drauflegen, aber das wäre es mir wert. Natürlich hat MILLENCOLIN erst mal wieder absolute Priorität in den nächsten Monaten. Sobald wir fertig sind mit den Konzerten, werde ich mich dann hinsetzen und für das nächste Nikola Sarcevic-Album sorgen.
16. März 2006
Ich habe in den letzten Monaten zwischen und auf den MILLENCOLIN-Touren genug Material für ein zweites Soloalbum geschrieben. Möglich, dass ich noch das eine oder andere Lied dazu nehme, aber es steht fest, dass ich in den nächsten Monaten wieder ins Studio will. Außerdem kümmert sich Mathias momentan auch um sein Soloprojekt, also wird es von der Zeit passen, bevor wir uns Anfang 2007 beide wieder MILLENCOLIN zuwenden. Wie werden sich unsere Soloprojekte musikalisch auf die Band auswirken? Mathias geht in eine andere Richtung, sein Material erinnert mich am ehesten an die FOO FIGHTERS. Ich dagegen werde wieder ruhige Songs verwenden, diesmal allerdings auch einige schnellere Nummern aufnehmen. Möglich, dass auch die eine oder andere Popnummer drauf ist. Und, irgendwo werde ich hoffentlich auch eine Mundharmonika unterbringen. Ich weiß, es klingt verrückt, aber ich will auf dem Album eine Mundharmonika haben.
Vor ein paar Minuten habe ich einen Song endlich fertig geschrieben, an dem ich seit drei Tagen immer wieder was gemacht habe. Ich bin gespannt, ob mich jemand danach fragen wird, wofür "The law of John T." steht. Und ob er dann verstehen wird, was ich mir dabei gedacht habe? Für Nichtschweden ist dieser Gesellschaftskodex vielleicht nicht ganz nachzuvollziehen, aber uns zeigt er eben, wie wir uns untereinander verhalten sollten. In Schweden versucht der eine, den anderen nicht zu stören, nicht aufdringlich zu sein, und überhaupt nicht aufzufallen. Diese allgemeine Zurückhaltung funktioniert hier oben besonders gut. Eigentlich handelt es sich ja um kaum mehr als die Erwartungen an das Verhalten der anderen, aber manchmal habe ich das Gefühl, dass es schon fast zu einem Gesetz geworden ist, so wichtig ist es uns.
22. September 2006
Ich habe mir gerade das komplette Album zum ersten Mal angehört, seit es fertig gemischt wurde. Mein Ziel, dass sich "Roll Roll And Flee" vom Vorgänger unterscheidet, habe ich definitiv erreicht. Es hätte einfach keinen Sinn gemacht, ein zweites Album aufzunehmen, das am Ende doch gleich klingt. Dieses Soloprojekt gibt mir ja gerade die Möglichkeit, neue Sachen auszuprobieren. Was aber ähnlich geblieben ist, ist die Stimmung des Albums. Auch wenn es teilweise rockiger oder für manche Menschen gar poppiger geworden ist, sind es doch immer noch diese leicht melancholischen Lieder.
Ein Freund hat mich vor einigen Tagen gefragt, warum sich der eine oder andere Song nach radiotauglicher Single anhören würde und ob das Radio jetzt mein Ziel wäre. Nein, ich wollte in erster Linie einfach nur neue Sachen ausprobieren. So wie es damals ja überhaupt zum ersten Album kam.
Hendrik war mal wieder unglaublich im Studio. Es ist erstaunlich, wie gut der Mann all diese Instrumente beherrscht. Er hat schon wieder fast alles selber eingespielt. Und darüber hinaus hat er mir sehr geholfen, diese neuen Lieder so umzusetzen, wie ich es wollte, oder auch wie ich es wollte, ohne eigentlich zu wissen, dass ich es so wollte.
Manchmal wünsche ich mir, die serbische Fußballnationalmannschaft könnte sich ein Beispiel an Hendrik nehmen. Diese Weltmeisterschaft war ja grausam. Seit ich ein Kind bin, bin ich Fan von Jugoslawien und jetzt Serbien. Danke, Vater, dass du mir das angetan hast, so mitleiden zu müssen. Andererseits, das Team mütterlicherseits, Schweden, war ja auch nicht viel besser. Vielleicht sollte ich das Thema Fußball ganz lassen.
17. Oktober 2006
Noch sechs Tage. Ich freue mich schon darauf. In sechs Tagen erscheint mein neues Album. Ich weiß, wie ich mich gerade anhöre: als wäre ich ganz aufgeregt. Irgendwie bin ich es auch. Mit MILLENCOLIN bin ich es gewohnt, neue Alben zu veröffentlichen, aber unter meinem eigenen Namen ist es ja erst die zweite Veröffentlichung. Es ist mir bewusst, dass viele Leute sich für meine Alben interessieren, weil sie sich sagen: "Hey, das ist doch der Sänger von MILLENCOLIN." Und so sind auch viele zu den Shows vor zwei Jahren gekommen. Aber ich denke, dass es einigen auch so gefallen hat und sie wieder zu meinen Konzerten kommen werden. Schließlich wird es ja in einem Monat eine richtige Europatour geben. Das neue Material hat sich zu gut angefühlt, um es nicht live zu spielen. Und nachdem es so unterhaltsam war, diese einzelnen Shows 2004 zu spielen, war mir klar, dass ich im Grunde einfach nur darauf warte, mit meinen neuen Songs auf Tour zu gehen. Vorhin hatte ich ein Interview mit jemandem aus Deutschland. Okay, es hat mich sehr überrascht, auf Serbisch angesprochen zu werden. Ich habe mich so noch nie über Musik unterhalten, dafür habe ich zu wenig Übung. Aber die Frage, über die ich immer noch nachdenke, während ich das hier schreibe, war die nach der Zukunft. MILLENCOLIN haben natürlich auch weiterhin Priorität, doch sehe ich momentan deutlich, welchen Spaß mir mein Soloprojekt macht. Deshalb hoffe ich, dass ich in einigen Jahren immer noch beide Sachen machen kann. Klar hoffe ich aber auch, dass ich es irgendwie auch so als Songwriter schaffen werde, ohne, dass die meisten Leute mich über die Band kennen. Es wäre schön, wenn sich jemand, der MILLENCOLIN nicht mal kennt, für eines meiner Lieder begeistern würde. Aber das sind Gedanken, die zu weit führen und die auf eine unbestimmte Zukunft zielen. Bis dahin werde ich erst mal die nächsten Wochen auf Tour genießen.
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #69 Dezember 2006/Januar 2007 und Zoli Pinter
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #109 August/September 2013 und Martha Biadun
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #55 Juni/Juli/August 2004 und Tim Tilgner
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #69 Dezember 2006/Januar 2007 und Zoli Pinter