MORGEN/GRAUEN

Foto© by Malte Tonn

DIY-Punk aus der Discomfort Zone

MORGEN/GRAUEN kommen sowohl aus Leipzig sowie aus kleineren Orten aus der Umgebung und mischen seit 2020 Hardcore-Punk, Crust und Metal mit einem Schuss deutschen Pogo-Punk zu einem derben Sound. Auch in ihren Texten finden sie klare Worte. Wir sprechen mit Nils (gt, voc) und Jan (bs, voc), der auch das Proud To Be Punk-Fanzine herausgibt, über offenen und strukturellen Rassismus, solidarische Landwirtschaft und Piratentum. MORGEN/GRAUEN sind außerdem Tim (gt, voc) und Arvid (dr).

Eurer erster Release ist die Split-LP mit WE ARE DOOMED. Wie ist die zustande gekommen?

Jan: Alex, seines Zeichens Sänger und Gitarrist bei WE ARE DOOMED, hat mich 2022 auf dem Paranoya Festival in Radebeul angesprochen. Er hatte MORGEN/GRAUEN kurz zuvor in der Kombi in Nünchritz live gesehen, wobei ihm unsere Musik, unsere Texte und die dazugehörigen Ansagen sehr gut gefallen haben. Demzufolge kam ihm die Idee, uns zu fragen, ob wir uns nicht eine LP mit ihnen teilen wollen würden, da WE ARE DOOMED ohnehin schon lange den Plan hatten, etwas in Vinylform zu veröffentlichen, was bislang immer an den damit verbundenen Kosten gescheitert ist. Als ich den Vorschlag in unsere Band getragen hatte, waren alle einverstanden, woraufhin dann noch vier befreundete Labels mit ins Boot geholt worden sind. So konnten wir sowohl die Kosten als auch den Vertrieb besser aufteilen. Geplant war, die Veröffentlichung der LP mit einem Release-Konzert zu feiern, was aber aus verschiedenen organisatorischen Gründen leider nicht realisiert werden konnte. Auf jeden Fall müssen wir mal gemeinsam mit WE ARE DOOMED die Bühne entern, denn das hat sich bislang leider noch nie in dieser Konstellation ergeben. Soweit ich es überblicken kann, waren die bisherigen Reaktionen durchweg positiv, wobei vor allem der Abwechslungsreichtum unserer Musik, aber zum Beispiel auch die Tatsache gelobt wurde, dass wir in das Beiheft viel Herzblut gesteckt haben.

Warum waren euch die ausführlichen Erklärungen zu den Songs im Beiheft so wichtig?
Nils: Einer der Gründe war, dass es in einigen Texten etwas anzumerken gab, das im Text selbst nicht gesagt werden konnte. So wird zum Beispiel in unserem Song „Death to the kings“ phrasenhaft und emotionalisiert etwas herausgekotzt, dessen Zusammenhänge sich nicht selbst erklären und man sie erst versteht, wenn man die historischen Hintergründe kennt, und das schien uns erklärenswert. Wenn wir Texte schreiben, finden wir es gut, wenn sie an Emotionen andocken, mit einem Gesangsrhythmus gesungen werden können, der reinhaut, und ja, auch phrasenhaft Sachen auf den Punkt bringt und demnach herunterbricht und verkürzt. Ja, auch weil es eben geil ist, „Death to the kings“ zu schreien. Unsere Anmerkungen dagegen sind das Nachvollziehbarmachen dieser Parolen, das Herstellen der Zusammenhänge zwischen den Phrasen und einfach Antworten zu bieten, wenn sich jemand fragt: „Was wollen die damit sagen?“
Jan: Wer das von mir herausgegebene Fanzine Proud to be Punk kennt, weiß sicher auch, dass es mir eher schwerfällt, mich kurz zu fassen. Ich mag es einfach, ein Thema tiefgründig zu durchleuchten, möglichst viele Informationen zu vermitteln und meine damit verbundenen Gedanken bzw. Gefühle mitzuteilen.
Wie das Beiheft verrät, ist etwa „Death to the kings“ ein Song für das Piratentum – wie das? Und warum der Cello-Einsatz?
Nils: Warum ein Cello-Einsatz? Weil eine unserer Freundinnen Cello spielen kann, haha, und weil es geil klingt. Wie es zum Piratenthema kam? Inspiriert wurden wir vom Buch „Die vielköpfige Hydra, Die verborgene Geschichte des revolutionären Atlantiks“ von Peter Linebaugh und Marcus Rediker. Darauf wiederum hat mich Anette Schlemm aus Jena gebracht, nach einem von ihr gehaltenen Vortrag.
Jan: Das Cello schafft durch seinen tiefen, leicht bedrohlichen Klang eine düstere Atmosphäre, die gut zur Komposition und zum Text des Songs passt. Piraten faszinieren mich bereits seit meiner Kindheit, was damals natürlich vorrangig noch von naiver Romantisierung geprägt war. Sachlich habe ich mich erstmals mit dem Piratentum beschäftigt, als ich das Buch „Unter dem Jolly Roger – Piraten im Goldenen Zeitalter“ von Gabriel Kuhn gelesen und darüber auch einen Artikel für mein Fanzine geschrieben habe. Später habe ich mich diesem Thema dann sogar in meiner Abschlussarbeit im Rahmen meines Studiums gewidmet. Ohne etwas beschönigen zu wollen – auch Piraten haben sich beispielsweise zum Teil auch am Sklavenhandel beteiligt –, so haben Piraten aber zum Beispiel bereits eine Art Sozialversicherung eingeführt, als daran in Europa noch nicht einmal annähernd gedacht wurde. Abgesehen davon spielten die soziale oder geografische Herkunft bei Piratenmannschaften häufig keine nennenswerte Rolle, womit sie ein klares Gegenkonzept zur damaligen Ständegesellschaft gebildet haben, was sich natürlich auch mit unseren politischen Vorstellungen überschneidet.

„And if I made a stand“ – was hat euch zu diesem Song darüber, sich „gerade zu machen“, inspiriert?
Nils: Um Missverständnisse zu vermeiden, es geht im Song nicht um sich gerade machen oder stabil bleiben im Sinne einer Zurschaustellung und Huldigung körperlicher Wehrhaftigkeit oder furchtlosen Draufgängertums. Es geht darum, andere zu retten, anderen zu helfen, sich für andere einzusetzen, wenn es schwer oder gefährlich ist. Inspiriert hat mich eine Textzeile eines Tracks, der weit weg vom Genre Punk liegt, nämlich aus einem Rap-Song von Litefoot namens „Call me hostile“. Diese Zeile ist mir einfach nicht mehr aus dem Kopf gegangen ist und hat mich immer wieder an Schicksale von verfolgten Menschen im Nationalsozialismus erinnert. Ich fand die so berührend und aussagekräftig, dass sie irgendwann in einem unserer Lieder auftauchte ...
Jan: Als junger Punk habe ich mich in der sächsischen Provinz – ähnlich wie mein gesamter hiesiger Freundeskreis – mit sehr vielen Anfeindungen konfrontiert gesehen, die meist natürlich von Faschos, aber zum Teil auch von ganz normalen Disco-Typen oder sogar Rentner:innen ausgingen. Oftmals war ich in diesen Momenten allein und meine Kontrahent:innen in der Gruppe älter als ich und in einzelnen Situationen auch bewaffnet – so bin ich beispielsweise nach der Schule von Neonazis mal mit einem Butterflymesser, ein anderes Mal mit einer Gaspistole bedroht worden. Klar, dass ich mich in solchen Situationen oft sehr hilflos gefühlt und mir demzufolge gewünscht habe, dass jemand Zivilcourage zeigt und eingreift, was aber nur ein einziges Mal dank eines Freundes geschehen ist. Abgesehen von diesen persönlichen Erlebnissen beschäftige ich mich schon seit vielen Jahren mit dem Nationalsozialismus und den damit zusammenhängenden Verbrechen. Über unseren Verein Bon Courage e.V. bin ich seit 2008 an der Organisation von Bildungsreisen beteiligt, die uns zusammen mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen alljährlich nach Osteuropa an die Orte nationalsozialistischer Verbrechen führen. Seit 2015 arbeiten wir mit unserer Initiative „Gesicht zeigen“ zudem die Geschichte des KZ-Außenlagers Penig auf. Im Rahmen dieser geschichtlichen Auseinandersetzung stoße ich immer wieder auf Menschen, die Widerstand gegen den Nationalsozialismus geleistet haben, indem sie sich solidarisch gezeigt und anderen geholfen haben, auch wenn es sehr gefährlich für sie war. Diese Menschen haben für mich eine gewisse Vorbildfunktion. Die erwähnten persönlichen Erfahrungen auf der einen Seite und das Lernen aus den Verbrechen des Nationalsozialismus auf der anderen Seite stärken in mir das Streben danach, eigene Ängste zu überwinden und einzugreifen, wenn andere Menschen diskriminiert werden, auch wenn das natürlich keineswegs immer einfach ist.

„Don’t forget the chaos“ – eure Ode an Punk?
Jan: Wie viele andere Punkbands beschäftigen auch wir uns in unseren Texten mit verschiedenen Missständen. Um diese Tendenz zu durchbrechen, dass wir uns häufig nur mit negativen Dingen auseinandersetzen, kam uns der Gedanke, ein Stück über unsere langjährige Liebe zu Punk zu schreiben. Dabei sollte aber keineswegs ein stumpfes Sauf- und Partylied entstehen. Vielmehr war es uns wichtig, gerade unsere Erlebnisse als junge Punks aufzugreifen, da diese uns ja nachhaltig geprägt haben. Das ist auch der Grund, warum „Don’t forget the chaos“ inhaltlich ein Song ist, mit dem ich mich besonders verbunden fühle. Musikalisch ist es zudem mein Lieblingslied, weil der Komposition etwas leicht Hymnisches innewohnt und wir mit dem a cappella gesungenen Outro auch mal etwas eher Unkonventionelles ausprobiert haben.

„Trapped“ beginnt ihr mit einem Malcom X-Zitat ...
Jan: Zum besseren Verständnis sei hinzugefügt, dass Malcolm X in besagtem Zitat sagt, dass die schwarze Community in den USA immer in eine Falle tappt, egal, was die weiße Mehrheitsbevölkerung ihnen anbietet, um rassistische Strukturen zu minimieren oder zu beseitigen. Diese Aussage stammt von 1964 – sie ist also genau sechzig Jahre alt – und hat bis heute nichts von ihrer traurigen Gültigkeit verloren. Rassismus auf der Straße, Rassismus auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt oder Racial Profiling – bis hin zum Mord, wie es bei George Floyd und vielen anderen der Fall war – sind für viele Menschen auf der ganzen Welt keine Ausnahme, sondern Alltag. Von den mörderischen Außengrenzen der EU oder der zunehmenden Repression gegenüber Seenotrettungsinitiativen will ich an dieser Stelle gar nicht erst anfangen ... Diese ganze Scheiße macht mich unglaublich wütend, dass andere, häufig notleidende Menschen einzig und allein aufgrund ihrer Herkunft herabgestuft werden, und zwar für etwas, das man sich nicht aussuchen kann.
Nils: In dem Satz ist etwas sehr gut auf den Punkt gebracht, das wir mit unseren Gedanken zum Thema Herrschaft verbinden können. Ich mag auch Zitate und Referenzen, die aus einer ganz anderen Ecke als Punk kommen. Ich mochte das bei den 1980er-Jahre-Deutschpunk-Bands, wie zum Beispiel BLUT + EISEN oder ABWÄRTS und vermisse das heute fast ein wenig. Vielleicht erkenne ich die Zitate auch nicht mehr, weil ich zu wenig kulturelles Wissen habe, haha! Und die Wahl des Zitats hat sicher auch damit etwas zu tun, dass mich das Schicksal der Schwarzen in den USA – auch betrachtet im historischen Kontext – ziemlich berührt hat und ich mir dementsprechend aus Interesse immer mal Reden von Malcom X angehört habe.

„CSA“ habt ihr der Solidarischen Landwirtschaft gewidmet. Das ist für eine Punkband doch eher ein ungewöhnliches Thema.
Nils: Ja, eben, deshalb musste da mal ein Song her, haha! Punk-Texte sind schließlich auch Sozialisation und Informationsweitergabe. Und da ist noch einiges offen an Möglichkeiten der Vernetzung in die Linksradikal-Öko-Hippieszene. Wir dachten uns, das ist ein geiles Konzept, das müssen mehr Leute kennen lernen! Das Schöne ist, auf unseren Konzerten haben sich jetzt schon mehrfach Leute zu Wort gemeldet und zum Beispiel auf lokale CSA-Projekte hingewiesen – das sind Momente, die richtig geil sind. Wie wir darauf gekommen sind? Eine unserer Freundinnen arbeitet in einem solchen Projekt und hat zumindest mir da überhaupt erst mal diesen Horizont eröffnet.

„Discomfort Zone“ so habt ihr euren Teil der Split-LP benannt und der gleichnamige Song behandelt eure eigenen Erfahrungen während der sogenannten Baseballschläger-Jahre. Jan hat auch in seinem Fanzine Proud to be Punk schon zweimal über die seit der Wiedervereinigung ermordeten Punks berichtet. Was war der Grund, trotz all der durchaus auch lebensbedrohlichen Situationen nicht klein beizugeben?
Nils: Bei mir selbst ist das tatsächlich gar nicht so leicht zu beantworten, warum ich diese Dinge damals in Kauf genommen habe und Punk oder offen antifaschistisch geblieben bin. Es war bei uns allen ja die Zeit der Jugend, der Adoleszenz, in der wir diese Entscheidungen getroffen haben ... Ich erinnere mich daran, dass ich mit einer sehr sturen und realitätsverweigernden Haltung da herangegangen bin. Ich dachte, das darf es nicht geben, dass man terrorisiert wird, weil man so eine vernünftige und ethisch unbedingt gebotene Haltung hat, dass man Auschwitz und Naziterror ablehnt. Also mache ich weiter. Mir haben auch die moralischen Appelle auf meinen ersten Punk-Tapes regelrecht im Nacken gesessen. In dem Song „Eckensteher“ sangen NEUROTIC ARSEHOLES zum Beispiel „Und du hast zugesehen / Und du bliebst in der Ecke stehen / Und du hast nichts gemacht / Du bist noch nicht mal aufgewacht /. Riskier bloß nicht zu viel / Misch dich bloß nicht ein.“ Oder „Schweigen“ von EA80: „Es ist leicht, hinterher zu sagen / Ich habe schon immer anders gedacht! / Und du wirst wieder schweigen, wenn man dich fragt / Warum hast du es dann nicht gesagt?“ Von diesen Zeilen habe ich mich regelrecht persönlich angesprochen gefühlt und dadurch eine starke Verpflichtung diesem Ethos gegenüber empfunden.
Jan: Anknüpfend an die beiden von dir erwähnten Artikel arbeite ich seit sechs Jahren zusammen mit einigen Leuten der Gruppe „Chemnitz nazifrei“ den Mord an Patrick Thürmer auf. Patrick ist 1999 als Siebzehnjähriger auf dem Heimweg von einem Punk-Konzert in Hohenstein-Ernstthal von drei Neonazis überfallen und dabei so schwer verletzt worden, dass er am nächsten Vormittag im Krankenhaus verstorben ist. Um die Erinnerung an ihn wachzuhalten, halte ich Vorträge über die Geschehnisse in jener Tatnacht sowie die mit dem Mord an Patrick verbundenen Folgen. Darüber hinaus haben wir unsere Rechercheergebnisse in Form einer kostenlosen Broschüre veröffentlicht und organisieren anlässlich seines Todestages jedes Jahr Gedenkkundgebungen beziehungsweise Demonstrationen. Die Beschäftigung mit dem Mord an Patrick hat bei mir dazu geführt, dass ich mich auch noch einmal selbst mit meinen Erfahrungen mit rechter Gewalt auseinandergesetzt habe. Dabei ist mir rückblickend erstmals richtig bewusst geworden, wie gefährlich, aber auch wie mutig es war, dass ich mich damals als Jugendlicher so offensichtlich als Punk zu erkennen gegeben habe. Rechte Bedrohungen gehörten damals aber auch zu meinem Alltag, so dass ich so an sie gewöhnt war, dass ich sie gar nicht als etwas Außergewöhnliches wahrgenommen und mir nicht viele Gedanken darüber gemacht habe. Hinzu kam obendrein auch ein stark ausgeprägter Trotz, der einerseits in jugendlichem Leichtsinn, andererseits aber auch in meiner antifaschistischen Überzeugung verankert war. Wenn wieder einmal etwas passiert ist, ich die beschissenen Gefühle und Gedanken, die mit derartigen Erlebnissen verbunden sind, aber erst einmal überwunden hatte, war für mich immer klar: Jetzt erst recht, ihr Nazischweine! Ihr bekommt mich nicht klein! Wenn ich klein beigegeben hätte, hätte ich meine Liebe zu Punk, meine antifaschistische Attitüde, ja letztendlich mich selbst verleugnet und das kam zu keinem Zeitpunkt für mich infrage. Geholfen haben mir dabei natürlich unser Freundeskreis, aber auch die Musik. Songs wie „Stehaufmännchen“ von THE ANNOYED oder „Antinationale“ von KORRUPT liefen an solchen Tagen in Dauerschleife bei mir.

Gab es für euch die Möglichkeit der Aufarbeitung dieser massiven Bedrohungen und Gewalterfahrungen?
Nils: Die Möglichkeiten gab und gibt es, klar. Aber wir haben sie wohl nicht genutzt. Ich habe keine psychosoziale Beratung oder Psychotherapie diesbezüglich in Anspruch genommen. Wir als Band reden über das Thema auch eher beiläufig oder anekdotisch. Über Gefühle reden wir ehrlicherweise auch nicht wirklich tiefergehend miteinander. Unsere Proben und Treffen sind ein lockeres gemeinschaftliches Abhängen, einfach miteinander schnacken. Der Begriff „Aufarbeitung“ legt ja nahe, dass dabei irgendein konkretes Ergebnis herauskommen sollte, nämlich dass irgendetwas „aufgearbeitet“ ist. Leider lese ich sehr selten, was das heißen soll – das bleibt mitunter ziemlich diffus und unklar. Deshalb meine Gedanken dazu: Bei einer Aufarbeitung müsste man für sich wahrscheinlich erst einmal klären: Was hat diese Zeit mit mir gemacht? Und welche Belastungen entstehen daraus für mich, die heute noch wirksam sind? Und danach müsste ich mich wohl fragen, wie ich mit diesen Belastungen umgehen kann oder ob ich diese reduzieren kann. Und so strukturiert habe ich mich dem Thema nicht genähert. Ich merke aber die Folgen dieser Zeit bei mir. Ich habe im Schulbus Erfahrungen gemacht, die mich verängstigt haben, und hatte, nachdem ich Auto fahren konnte, fast nie wieder öffentliche Verkehrsmittel genutzt. 2006 habe ich damit begonnen, sie wieder zu nutzen, und hatte da erst ein beklemmendes Gefühl von Angst und Unsicherheit. Das ging dann ganz gut weg. Aber geblieben seit dieser Zeit sind auch viele Hassfantasien, eine niedrigschwellige Neigung zu Zorn und ein Aggressionsniveau, das ich für mein heutiges Leben nicht haben möchte. Ich bin Papa, mein Sohn ist noch keine drei Jahre alt und ich komme mir manchmal richtig kaputt vor, wenn ich reflektiere, welch gewalttätiger Mensch ich in Gedanken bin, während neben mir dieser kleine, fröhliche, offene Mensch ist, dem ich das bestmögliche Leben wünsche, was man haben kann. Vielleicht habe ich es nie richtig überwunden, dass ich mich damals in so vielen Lebenssituationen als wehrloses Opfer erlebt habe und so viel Kontrolle über mein eigenes Leben verloren hatte.
Jan: In unserem Freundeskreis reden wir häufiger über unsere Erfahrungen mit rechter Gewalt. Dabei handelt es sich meiner Ansicht nach allerdings nicht um eine Aufarbeitung, da wir das Erlebte ja nicht psychologisch analysieren, sondern lediglich wiedergeben, was uns damals passiert ist. Auf der Grundlage dieser Erzählungen hat mich vor einigen Jahren einmal eine Freundin nach Chemnitz in die Beratungsstelle für Betroffene rechter Gewalt eingeladen, wo sie arbeitet. Da sie selbst wie auch ihr Kollege aus der Punk-Szene stammen und rechte Gewalt demnach nicht nur aus der Theorie kennen, habe ich ihr Angebot schließlich angenommen. Ich fühle mich nämlich oftmals unverstanden, wenn ich meine Erfahrungen mit rechter Gewalt mit Menschen teile, die diese Erfahrungen nicht gemacht haben. Wir haben ein interessantes Gespräch geführt, in dem ich den beiden nicht nur von meinen Erlebnissen berichtet habe, sondern auch wie ich damit umgehe. Wenn ich mich in der Öffentlichkeit bewege, beobachte ich meine Umgebung sehr aufmerksam, checke die Kleidungsmarken der Menschen, die mir begegnen, präge mir Nummernschilder auffälliger Autos ein, die an mir vorbeifahren usw. All das sind Strategien, die ich mir aufgrund der Anfeindungen und Angriffe seit frühester Jugend angeeignet habe, um auf mögliche Konfliktsituationen vorbereitet zu sein und mich selbst zu schützen. Allerdings ist diese permanente Aufmerksamkeit natürlich auch anstrengend. Da abgesehen davon aber kein psychischer Leidensdruck bei mir vorhanden ist, habe ich dann in Absprache mit besagter Freundin und ihrem Kollegen von weiteren Treffen in der Beratungsstelle abgesehen. Da gibt es gerade in Chemnitz andere Menschen, die die Unterstützung der beiden dringender gebrauchen können als ich.

Gab es auch mal den Gedanken, in eine größere Stadt zu ziehen? Was sind die Gründe zu bleiben?
Nils: Ich bin auch weggezogen und wollte nicht zurück, ich empfand das Leben in Jena und Leipzig-Connewitz als eine Art Befreiung. In das Hinterland bin ich nicht aus Engagement gezogen, sondern aus anderen Gründen, aber ich vermisse es, dort zu leben, wo es keine Faschopräsenz gibt und das Feeling im öffentlichen Raum offener und toleranter ist.
Jan: Studiumsbedingt habe ich sieben Jahre in Leipzig gelebt, was eine sehr angenehme Abwechslung zu den manchmal bedrohlichen Bedingungen in der Provinz war. Dass ich vor etlichen Jahren zurück in die Provinz gezogen bin, hatte letztendlich ganz pragmatische Gründe, da ich damals zunächst in eine Stadt in der Nähe der Schule gezogen bin, in der ich seitdem arbeite. Mittlerweile wohne ich aber sehr gern in der Provinz, da ich die Nähe zur Natur sehr mag und es auch hier sehr engagierte Szenestrukturen gibt – man denke nur an die Doro in Limbach-Oberfrohna, das AZ Barrikade in Zwickau, die Unanbeatbar in Schwarzenberg, den Schuldenberg in Plauen oder unser Frostpunx-Festival in Lugau.

Es scheint eine ähnliche Tendenz wie in Wendezeiten zu geben. West-Neonazis, etwa aus dem selbst ernannten Nazi-Kiez Dortmund-Dorstfeld, ziehen nach Ostdeutschland. Überrascht?
Jan: Nein, das überrascht uns keineswegs, da es ja schon seit der Wendezeit eine gängige Praxis ist, rechte Strukturen in Ostdeutschland auf- beziehungsweise auszubauen. Dass Chemnitz hierbei in den Fokus von Neonazis gerät, ist natürlich kein Zufall, denn immerhin existieren hier bereits seit den Neunziger Jahren etablierte rechte Strukturen – angefangen bei „HooNaRa“ [„Hooligans, Nazis, Rassisten“ – ein rechter Schlägertrupp, der sich aus Türstehern und Kampfsportlern zusammengesetzt hat, Anm. d. Verf.] über die Nationalen Sozialisten Chemnitz bis hin zu Revolution Chemnitz, die sehr stümperhaft rechte Terroranschläge vorbereitet haben, oder das Rechte Plenum, das sich allein auf der Grundlage eines detaillierten Outings seiner Mitglieder selbst aufgelöst hat. Hinzu kommt die rechtsgerichtete Fanszene des stadteigenen Fußballvereins CFC und auch Strukturen wie PC Records, die in Chemnitz ansässig sind und unter anderem Alben von STAHLGEWITTER, DIE LUNIKOFF VERSCHWÖRUNG, BRUTAL ATTACK und Dutzenden anderen Rechtsrock-Bands produziert haben, sollten nicht unberücksichtigt bleiben. Kein Wunder also, dass auch das Kerntrio des NSU, des selbsternannten Nationalsozialistischen Untergrunds, nach der Flucht aus Jena zunächst in Chemnitz Unterschlupf gefunden hat. Erinnert sei auch an die krassen rassistischen Ausschreitungen im Anschluss an das Chemnitzer Stadtfest 2018, nachdem Daniel H. erstochen worden war. Aktuell ist die Identitäre Bewegung gerade dabei, ein eigenes Hausprojekt in Chemnitz aufzubauen. Für Neonazis gibt es also diverse Möglichkeiten, in Chemnitz aktiv zu werden. Dass Chemnitz aber kein Einzelfall ist und die beschriebene Taktik der Faschos nicht nur auf Großstädte beschränkt bleibt, zeigt beispielsweise der Versuch rechter Siedler:innen, in und um Leisnig eigene Strukturen aufzubauen.

Wie seht ihr angesichts der kommenden Landtagswahlen die weitere Entwicklung und wie die derzeitigen Demonstrationen gegen rechts?
Jan: Ich blicke ehrlich gesagt sehr pessimistisch in die Zukunft. Wenn die AfD die Landtagswahl in Sachsen gewinnen sollte, stehen uns hier noch finstere Zeiten als bislang bevor. Ich denke da beispielsweise an die Finanzierung vieler zivilgesellschaftlicher Initiativen oder Vereine, die in unserer Region seit vielen Jahren eine sehr gute und vor allem verdammt wichtige politische und soziale Arbeit leisten. Um diese Aktivitäten auch zukünftig stemmen zu können, benötigen sie aber Fördergelder, die eine von der AfD dominierte Landesregierung zweifelsohne nicht mehr bewilligen werden würde, womit sehr viele wichtige Strukturen wegbrechen würden. Auch die Frage hinsichtlich eines eventuell irgendwann drohenden Berufsverbotes treibt mich um, da ich als Lehrer tätig bin – zwar an einer privaten, also nichtstaatlichen Schule, aber vielleicht fallen mir meine politischen Überzeugungen und Aktivitäten auch dort irgendwann einmal auf die Füße. Was die Demonstrationen gegen rechts betrifft, habe ich sehr gemischte Gefühle. Einerseits freue ich mich riesig, dass so viele Menschen in so vielen Städten auf die Straße gehen. Bei der großen Demonstration in Chemnitz hatte ich zum Beispiel mit maximal 2.000 Teilnehmer:innen gerechnet – gekommen sind aber 12.000 Menschen! Das hat mich an dem Tag wirklich sehr glücklich gemacht und in gewisser Weise auch beruhigt, weil ich sonst oftmals dem Eindruck erliege, dass hier nur noch Bekloppte leben. Da war es schon toll, wie viele völlig unterschiedliche Menschen gemeinsam gegen rechts demonstriert haben. Auf der anderen Seite rufen diese Demonstrationen aber auch eine gewisse Wut in mir hervor, weil das politische Erwachen und das dazugehörige Engagement vieler dieser Menschen einfach verdammt spät, ja vielleicht sogar schon zu spät kommt. Wo waren all diese Leute in den letzten zehn, zwanzig Jahren, als wir mit wenigen Hundert Leuten versucht haben, Nazidemos zu behindern oder zu blockieren, und von den Cops durch die Straßen gejagt und geprügelt wurden? Auch damals hätten wir schon dringend 12.000 Unterstützer:innen gebraucht, wie es zumindest hin und wieder in Leipzig oder Dresden der Fall war. Darüber hinaus frustriert es mich aber auch, mit wem man sich da heutzutage die Straße teilt. Diese Demonstrationen beruhen ja letztendlich darauf, dass der kleinste gemeinsame Nenner die Ablehnung von Faschismus und der AfD ist. Andere politische Überzeugungen oder Ziele spielen hierbei keine Rolle, so dass auf der einen oder anderen dieser Veranstaltungen auch Vertreter: innen der CDU oder anderer Parteien Redebeiträge halten dürfen, in denen ich definitiv keine Bündnispartner:innen sehe.

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Der Mord an Patrick Thürmer
Der 17-jährige Patrick wurde gemeinsam mit einem Freund in der Nacht des 2. Oktober 1999 auf dem Heimweg von einem Punk-Festival in Hohenstein-Ernstthal (Sachsen) von drei einschlägig vorbestraften Neonazis überfallen, die mit ihrem Auto Jagd auf Punks machten. Mit einem Axtstiel und einem Billardqueue fügten sie dem schmächtigen, 1,56 m großen Patrick tödliche Kopfverletzungen zu, denen er wenige Stunden später erlag. Vorausgegangen war ein Angriff von drei Dutzend Naziskins auf das Punk-Festival und ein Gegenangriff von Punks auf eine Diskothek im Ort, in der sie die Nazi-Schläger vermuteten. Das Landgericht Chemnitz stellte im September 2000 fest, dass Patrick „stellvertretend für jene Linken“ sterben musste, die an dem Angriff auf die Diskothek beteiligt gewesen seien. Einen rechtsradikalen Hintergrund erkannte das Gericht dennoch nicht an. Der 23-jährige Haupttäter wurde wegen Totschlags zu elf Jahren Haft verurteilt. Erst 2012 ist Patrick offiziell als Opfer rechter Gewalt anerkannt worden.