Man muss nicht erst einen der vielen schäbigen Comic-Shops hierzulande betreten haben, um eine gut sortierte Handlung wie Modern Graphics in Berlin schätzen zu lernen. Denn viele Geschäfte, die schlimmstenfalls noch als „Comic- und Romangeschäft“ firmieren, gleichen Junggesellenwohnungen, die zu unterschiedlichen Anteilen unaufgeräumt und unübersichtlich, oder auch bis in die letzte Ecke mit Secondhand-Ware zugestellt sind und so den Uneingeweihten eher abstoßen. Plastikfiguren und Sammelkarten-Spiele dominieren da oft die Auslagen, oder die berüchtigten Kisten, in denen in Klarsichtfolie aufbewahrte Superheldenhefte als Sammlerware ihr Dasein fristen. Der in der Kreuzberger Oranienstraße schräg gegenüber dem SO36 ansässige Laden (nicht mit dem Vertrieb gleichen Namens zu verwechseln, der vor einigen Jahren pleite ging) ist nun ein angenehmes Gegenbeispiel dafür: Breit sortiert bietet er für Freunde frankobelgischer Alben, Superhelden- und Manga-Fans genau so viel wie für Gelegenheits- und Graphic Novel-Leser. Bei aller Rummeligkeit ist das Geschäft einladend und freundlich, ebenso wie die Beratung. Ein Fachgeschäft, nicht nur für Fachbesucher. Eine Filiale im Europacenter gibt es auch, das Hauptgeschäft ist aber der lohnendere Besuch. Für ein Gespräch über die Geschichte des Ladens, Trends und Marktzwänge und über tolle Comics zog ich mich mit Inhaber Micha Wiessler in die hinteren Räumlichkeiten des Hauptquartiers zurück.
Wie kommt man als Freiburger dazu, in Berlin einen Comicladen aufzumachen?
Indem man sich dafür interessiert und zwar von tiefster Seele her. Und indem man zusammen mit einem alten Freund, der eine Händlernatur ist, in Pforzheim studiert, sein Studium abbricht, zum Comic-Importeur wird, und das ziemlich schnell ziemlich groß, und indem man sich dann sagt, dass man nicht dort in der Ecke wohnen bleiben mag, sondern lieber nach Berlin geht. Kai kannte ich schon aus der Schule und zusammen sind wir nach Pforzheim und später nach Berlin gezogen. Dazu kam, dass ich damals hier eine Freundin hatte, so kam eins zum anderen und wir dachten: Das mit dem Laden wird „the next big thing“. Eröffnet haben wir dann 1991.
War es immer auch schon so groß oder ist das im Laufe der Zeit gewachsen?
Wir waren von Anfang an in diesen Räumen, von daher ja. Aber wir haben im Laufe der Zeit verschiedene Konzepte ausprobiert. Da gab es noch andere Vorstellungen und es wehte der Comic-Geist der Achtziger. Da gab es noch viel mehr Alben und war auf edler und schicker gemacht. Es gab noch viel mehr Portfolios und Originale zu kaufen. Im hinteren Raum gab es dann sogar noch zwei bis drei Ausstellungen: Eine kleine mit Will Eisner und eine mit Daan Jippes, einem holländischen Disney-Zeichner. Das hat mein damaliger Partner Michael Beck organisiert, aber wir haben das dann bald wieder sein lassen.
Du erwähntest gerade den Comic-Geist der 80er. Kannst du kurz erzählen, was man darunter versteht?
Zu der Zeit gab es eine wahnsinnige Fixierung auf Alben, also das Albenformat. Da wurden selbst Ami-Superheldencomics auf die Größe aufgeblasen. Für damalige Verhältnisse waren diese Comics teuer, im Vergleich zu dem, was es heute gibt, aber wieder lächerlich preiswert. Tonangebend waren damals Swaarte und die ganze Ligne Claire und Loustal, Bilal. Teure Portfolios waren auch in Mode. Und weder die Künstler noch solche Exklusivprodukte sind heute für die Verlage interessant.
Und dein Konzept war anders, du hast dich für andere Sachen interessiert ...
Wir haben hier sehr schnell gemerkt, dass man nicht beide Schienen fahren kann: eine anspruchsvolle, recht noble eben mit den franko-belgischen Alben zum Beispiel, und auf der anderen Seite eine mit den amerikanischen Mainstream-Comics. Das funktioniert einfach nicht, das Publikum ist dafür zu unterschiedlich. Man muss sich nicht nur für eins entscheiden, aber es ist ganz wichtig, einen Schwerpunkt zu setzen. Gleichzeitig mit unserem Beginn hier hat sich mein Geschmack auch verlagert in die etwas alternativere Ecke. Anfang der 90er gab es die Welle mit vielen autobiografischen Comics, also Leute wie Dan Clowes, und Verlage wie Drawn & Quartely oder hier in Berlin Reprodukt, der zu der Zeit auch anfing. Dadurch lernte ich zum Beispiel „Love and Rockets“ kennen, das gab es hier vorher gar nicht. Das war für uns im Laden eine wichtige Entwicklung und eben auch für mich persönlich als Leser. Wir hatten hier im Gegensatz zu vielen Händlerkollegen von Anfang an die glückliche Situation, dass dafür auch das Publikum da war. Die Lage ist für uns schon immer sehr wichtig gewesen. Die Leute waren dafür offen und es war damals sehr ungewöhnlich, dass so viele Frauen in einen Comicladen gegangen sind.
Was heute noch immer nicht unbedingt normal ist ...
Hier schon. Wie gesagt liegt das an der Lage, aber auch daran, dass unser Programm immer Frauen angesprochen hat. Über die Jahre hat sich da auch sonst viel getan: Das Feuilleton bespricht viele Comics, insgesamt sind sie viel mehr akzeptiert und die Einsicht ist bei vielen angekommen, dass es Comics für jeden Geschmack gibt. Eben auch für gebildete Frauen. Bei uns hat dafür damals allein Julie Doucet mit ihren Heften und Büchern eine Menge getan.
Ich habe vor einigen Jahren längere Zeit in Bremen gewohnt und mein Comic-Händler war ein wenig resigniert. Laut eigener Angabe machte er rund 80% seines Umsatzes mit Sammelkarten, erotischen Comics und Plastikfiguren. Anders herum waren 80% der Fläche des Ladens nur Dekoration. Ganz so arg wird es bei dir nicht sein, aber kannst du das nachvollziehen?
Natürlich besteht ein Ungleichgewicht zwischen dem, was viel Raum einnimmt und dem, was viel Umsatz macht. Würde man unseren Laden rein professionell organisieren, würde man hier sicher einiges umgestalten. Aber das hier ist ein Fachhandel, der nicht immer sein Fähnchen nach dem Wind hängt. Natürlich ist man ein Stück weit Trends unterworfen, das lässt sich gar nicht verhindern. Auch wir haben einige Jahre gut von Basketball-, Magic- oder sonstigen Karten gelebt. Aber unser Schwerpunkt liegt ganz klar bei den Comics, sonst wird es einfach zu beliebig. Wenn es Bereiche gibt, die mehr Umsatz oder Ertrag bringen, dann freut man sich und nimmt das mit, aber ich habe mir schon immer gesagt, dass Modern Graphics eben seine Ausrichtung hat und die hat Priorität. Das wird wiederum auch so wahrgenommen und kommt uns zugute. Man kann ja sein Programm nicht ausschliesslich nach dem momentanen Trend ausrichten. Es gibt Händlernaturen, die machen das, aber die könnten auch Obst verkaufen. Für das Geld, was man mit so einem Laden verdient, muss ich mich nicht noch verstellen müssen, der Spaß an der Arbeit ist mir dafür doch zu wichtig.
Was macht deiner Meinung nach einen guten Comic aus?
Erst mal muss es eine gute Geschichte sein, was leider zu oft vernachlässigt wird. Es ist ein Problem, dass es viele gute Zeichner gibt, aber nicht so viele gute Autoren. Anders herum ist die beste Geschichte dröge, wenn die Zeichnungen nicht dazu passen. Für mich müssen es eben nicht atemberaubende Zeichungen sein, aber sie müssen die Geschichte gut transportieren.
Und was macht einen Comic aus, der sich gut verkauft?
Das wissen nur die Götter, haha. Qualität zahlt sich natürlich aus, aber nicht ausschliesslich. Da spielen solche Dinge wie Trends oder Hype mit rein. Manche Comics verkaufen sich gut, nur weil Obama auf dem Titelbild ist. Über den Inhalt reden wir da mal lieber nicht. Es gibt auch Comics, die sich gut verkaufen, weil das Thema interessant und neu ist und das ein Publikum interessiert, das sich in das Metier noch nicht so sehr eingelesen hat. Marjane Satrapis „Persepolis“ ist so ein Beispiel, das ist unser Bestseller. Wichtig ist manchmal auch der lokale Bezug, wie hier in Berlin mit „Didi & Stulle“, das läuft immer gut. Aber: Hinterher kann man das gut beurteilen, vorher kann keiner sagen, was gut laufen wird.
Was die meisten auch außerhalb der Comicszene mitbekommen haben, war der riesige Erfolg der japanischen Comics. Das verliert nur gerade auf hohem Niveau an Zugkraft. Gibt es denn schon Anzeichen für etwas, was ein neuer Trend werden könnte?
Manga war schon sehr groß und ist bei uns auch immer noch ein fester Programmbestandteil. Das Besondere daran war oder ist, dass sie nicht nur speziell in Comic-Läden erhältlich waren. Da haben die Verlage massiv in den Buchhandel gedrängt und der hat es anscheinend gut angenommen. Den echten Stand der Dinge kann ich bei Manga also gar nicht kommentieren, da müsst man schon die Verlage fragen. Mir kommt es in unserem Fall kaum weniger vor, nur dass es sich auf mehr Titel verteilt. Die Leser scheinen sich zu spezialisieren und es wird nicht wenige geben, die die Sachen direkt im Internet verfolgen.
Jetzt reden derzeit alle von „Graphic Novels“. Macht sich das auch bei Modern Graphics bemerkbar?
Wie ich schon meinte, war das bei uns schon immer wichtiger Teil des Programms. Anders als bei vielen anderen Comic-Läden haben wir hier schon immer die klassischen Buchleser angezogen. Derzeit läuft das noch besser als früher, die Bücher gehen zum Teil sehr gut. Ich freue mich sehr über diesen Trend, weil es auch ein nicht comicspezifisches Publikum anspricht. Um diese Bücher zu verstehen, muss man nicht fünfzig Jahre Batman-Geschichte kennen. Da steige ich teilweise auch kaum noch durch, wie soll das ein Normalsterblicher dann noch machen? Man muss eben nicht sein Leben lang in Comic-Läden gelatscht sein, um einen Titel zu finden, der einem doch mal gut gefällt.
Nun verfolgst du auch seit vielen Jahren, was sich in Deutschland in Sachen Comics tut. Kannst du das kurz aus deiner Sicht beschreiben?
Heute gibt es definitiv bessere Zeichner als damals, weil heute viele junge Zeichner auch als Illustratoren arbeiten. Die schlechteren deutschen Kopien internationaler Vorbilder haben mich noch nie interessiert und die haben sich hier auch nicht verkauft. Geld lässt sich immer noch kaum mit dem Zeichnen von Comics verdienen, das können nur ganz wenige. Die meisten verdienen anders ihren Lebensunterhalt und sei es durch solche Entertainer-Shows, wie Fil sie macht.
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #84 Juni/Juli 2009 und Christian Maiwald