MISS CHAIN & THE BROKEN HEELS haben es geschafft, sich in einem ausgelutschten und überholten Genre Gehör zu verschaffen. Während andere zeitgenössische Powerpop-Bands lediglich mittelprächtige Releases abliefern und es nicht fertig bringen, aus dem Schatten ihrer musikalischen Ahnen zu treten , konnten sie Fans weltweit für sich gewinnen – mit Integrität, Ehrlichkeit und einem musikalischen Traditionsbewusstsein, ohne dabei die revisionistischen Fehler ihrer Genrekollegen zu begehen. Stattdessen bringen die italienischen (Power-)Pop-Beat-Aficionados Altbewährtes auf eine neue (und in diesem Sinne zeitgemäße) Ebene, setzen auf D.I.Y.-Ethos und mit dem fulminanten Garage-Pop mit Punk-Anstrich ihres 2010er Debütalbums „On A Bittersweet Ride“ heimsten sie mit gutem Grund eine Menge Anerkennung ein. Das ist schon eine Weile her, ein Bericht von ihrer US-Tour und wohlwollende Besprechungen sind in dieser Postille vorangegangen und nun ist es höchste Zeit, MISS CHAIN & THE BROKEN HEELS erneut in den Fokus zu rücken.
2007 veröffentlichte Sonic Jett Records aus Portland in Kooperation mit dem italienischen Label Rijapov eine Single namens „Common Shell“ der jungen Singer/Songwriterin Astrid Dante. Was ursprünglich als Sideproject angedacht war, nahm schnell festere Züge an, so dass Astrid und Diasaster Silva (Leadgitarre) sowie die Brüder Franz und Bruno Barcella (Bass/Drums) unter dem Namen MISS CHAIN & THE BROKEN HEELS zusammenblieben. 2008 folgten zwei weitere Singles, „Lie“ auf Shake Your Ass und „Boys & Girls“ auf Dream On, eine ausgedehnte Tour an der US-Ostküste (beachte: ohne eigenes Album) und zahlreiche Shows in ganz Europa. 2010 erschien dann ihr Debüt-Longplayer „On A Bittersweet Ride“ auf Screaming Apple, seines Zeichens Brutstätte und Garant für erstklassige Powerpop- und Pop-Punk-Platten mit Sixties-Anleihen. In den USA wurde das Album dann von Sonic Jett auf CD und dem damals noch verhältnismäßig unbekannten Label Burger Records auf MC veröffentlicht, so dass MISS CHAIN & THE BROKEN HEELS im selben Jahr noch einmal den Atlantik überquerten und die Westküste bis hinunter ins mexikanische Mexicalo betourten.
Die Kritiken ihrer LP sind sich einig: ihr breite Stilmixtur sorgt für einen eigenständigen Sound, der sich von anderen Bands desselben Spektrums abhebt. „Wir sind Rock’n’Roll-wahnsinnig – jeder von uns sammelt Zeug aus allen möglichen Ecken und Nischen. So werden wir vielseitig beeinflusst: von Folk bis British Invasion, von Proto-Punk bis R&B – MARKED MEN, REIGNING SOUND, Townes Van Zandt haben uns gleichermaßen geprägt wie die BEACH BOYS und Neil Young“, erklärt Franz die stilistische Vielfalt der Band. Astrid fügt hinzu, dass sie wohl die Jahre des schmutzigen Garage hinter sich hätten, sich aber nichtsdestoweniger aus diesen Spielweisen nährten – Sam Cooke und Otis Reding seien ihr heutzutage jedoch näher als KBD-Punk-Obskuritäten. Sixties-Girlgroups, Bubblegum, Sunshine-Pop – und Reviewer reden sich um Kopf und Kragen, wenn es darum geht, Referenzen für den Sound von MISS CHAIN & THE BROKEN HEELS zu bemühen. Einfach machen sie es ihnen nicht: „Wir sehen uns nicht per se als Powerpop- oder Bubblegum-Band, zu vielseitig sind unsere persönlichen Vorlieben, zu ernsthaft bisweilen die Texte und“, so übt Franz sich in Bescheidenheit, „zu beschränkt unser musikalisches Können. Das klingt dann eben, wie es klingt: Sixties-Folk, gepaart mit Punk-Spirit und unserem Garage-Background.“
Dabei ist es gerade die Einheit zwischen Text und Musik, die Klassifizierungen wie „Bubblegum“ im Sinne des genreprägenden Produzentenduos Kasenetz/Jatz verwehrt – MISS CHAIN & THE BROKEN HEELS machen vor, dass unter der Zuckerglasur ihres (Power-)Pop-Beat-Sounds mehr steckt, als vertonte zwischenmenschliche Querelen und die ewigen alten Leiern ihrer musikalischen Wegbereiter. Zugegeben: „Boys & girls“ greift beispielsweise auf solch überholte Thematiken zurück, erzählt jedoch „eine klassische Liebesgeschichte mit Fokus auf den Subtext, von Erwartungen an junge Mädchen, die sich diesen dann angleichen – auf eine ungesunde Art und Weise“, wie es Astrid zusammenfasst. Darin, passende Worte zu finden, sieht sie die Schwierigkeit; darin, Kontraste zwischen Melodie und textlichen Gehalt zu schaffen, ihren Anspruch. Dazu sei es für sie nötig, sich in andere Perspektiven zu versetzen, in Rollen zu schlüpfen und mit tradierten Song-Konzepten zu brechen.
Seit dem Release ihrer LP sind sie regelmäßig live unterwegs, was wohl in Zeiten sinkender Verkaufszahlen und musikalischer Übersättigung der potenziellen Fangemeinde auch der einzig richtige Weg ist, seine Musik an die Frau und den Mann zu bringen. „MISS CHAIN & THE BROKEN HEELS ist das Produkt aus dem Maximum an Schweiß und Arbeit und einem Minimum an Hype – keine Anzeigenschaltung, keine Vorschusslorbeeren der Presse. Unterwegs zu sein, ist dementsprechend die einzige Möglichkeit für eine Band, den Kontakt zur Basis bekommen und aufrechtzuerhalten.“ Schlechte Momente gebe es dabei zur Genüge und so gilt es, daraus das Beste zu ziehen und aus dem wachsenden Zusammengehörigkeitsgefühl innerhalb der Band Profit zu schlagen.
„Wir leben in drei unterschiedlichen Städten“, berichtet Astrid „so dass wir keinen gemeinsamen Alltag haben, nur selten zum Proben kommen. So entstehen die meisten unserer Songs auf Tour, das Unterwegssein sorgt dafür, dass wir uns in unserem jeweiligen Verständnis, wie die Band zu klingen habe, so nah wie möglich sind. Einige unserer Songs sind beim Soundcheck entstanden, geteilte Emotionen der vorangegangenen Tour schlagen sich in darin nieder.“
MISS CHAIN & THE BROKEN HEELS begreifen sich also definitiv als Live-Band, was zumeist als ernsthafte Arbeit an der Karriere aufgefasst wird. „Wir haben Probleme damit, das Wort ,ernsthaft‘ zu benutzen, da es sich mit unserem Anspruch, Musik alleine des Spaßes und des Musikmachens wegen zu machen. So haben wir es bisher eigentlich vermieden, wirklich bekannt oder im klassischen Sinne erfolgreich zu werden. Wir haben alle anderweitige Jobs und müssen auch aufpassen, dass die Balance zwischen Alltag und Bandleben im Gleichgewicht bleiben. Klar träume ich von einem arbeitsfreien Leben und davon, auf Tour in 5-Sterne-Hotels zu wohnen und ausschließlich erstklassiges Catering in den Clubs vorzufinden – aber das ist natürlich nicht unbedingt Punkrock“, wendet Astrid ein. Franz betrachtet das gleichermaßen realistisch: „Mehr als das, was wir bisher erreicht haben, können wir wohl kaum realisieren. Sollten also Möglichkeiten auftauchen, uns vor einer größeren Zahl von Leuten zu präsentieren, würden wir dies von Fall zu Fall je nach moralischer Wertelage entscheiden.“
Also ein ganz klarer Fall von subkultureller Angst vor dem Ausverkauf der eigenen Kunst. „Wir nehmen uns nicht ernst, aber unsere Musik – in einer angenehmen Weise. Wären wir professionelle Musiker und von der Band abhängig, würde das unser Selbstverständnis und unsere Arbeitsweise so sehr verändern, dass wir sicherlich nicht mal mehr unsere Musik für voll nehmen könnten. Wir versuchen also bei allem, was wir machen, unverdorben und unabhängig zu bleiben, weswegen man uns wohl immer wieder in den kleinen Kellerclubs und auf D.I.Y.-Shows und nicht auf großen Festivalbühnen sehen wird.“
So sind es weder die Zahl ihrer Facebook-Fans noch die Meinungen der großen Musikmagazine und erst recht nicht ihre Absatzzahlen, sondern Erlebnisse wie die letztjährige Tour mit Paul Collins, von denen MISS CHAIN & THE BROKEN HEELS zehren. „Was könnten wir mehr erwarten, als mit unserem großen NERVES-Idol auf Tour zu gehen?“, fragt Astrid und auch Franz zeigt sich nachhaltig beeindruckt: „Vor Pauls unerschütterlichem Enthusiasmus und seiner konsistent-qualitativen Arbeit können wir nur den Hut ziehen. Er ist einer der wenigen Künstler, die am Anfang vor einem sehr professionellen Background gearbeitet haben, aber jetzt auf Independent-Basis sogar noch besser geworden sind. Er war die ganze Zeit über hilfsbereit und unterstützte uns, wo er nur konnte. Seine Hinweise und sein Input werden sich sicherlich in unserer zukünftigen Arbeit niederschlagen.“
Das ist es es also, was MISS CHAIN & THE BROKEN HEELS ausmacht. Keine lebenserschütternden Weisheiten, kein szeneinterner Dünkel, kein Gesülze über die Bedeutung der eigenen Kunst – stattdessen die kindliche Freude über gemeinsame Bühnenerfahrungen mit ihren einstigen Idolen, die Bereitschaft, sich jederzeit und allerorts live zu präsentieren, und ein hoher Anspruch an das bandinterne Miteinander. Den nächsten Hype findet man woanders, fraglich ist nur, ob dieser auch wie der italienische Pop-Rohdiamant auf ganzer Linie Sympathiepunkte sammeln kann.
Über die Zeit hat sich eine Menge Material angesammelt und wenn sie planmäßig im Sommer 2012 ihr zweites Album aufnehmen, kann man davon ausgehen, dass dies wieder etwas wunderbar Extravagantes wird, das in Nikki Corvettes und Suzi Quatros Fußstapfen tritt, jedoch einen Scheiß auf nostalgische Augenwischerei gibt. Natürlich folgt dann auch wieder eine ausgedehnte Serie von Live-Performances: Europa, die USA und auch Japan sind dieses Mal anvisiert. Und wer sie bisher noch nicht in seinem oder ihrem Aufmerksamkeitsradius hatte, sollte diesem Zustand schleunigst Abhilfe schaffen. Zu vielseitig ist ihre musikalische Spannbreite, zu schön sind ihre Songs und zu unkonventionell ist ihr Zugang zu Popmusik, als dass man sich das entgehen lassen sollte. Und die Gelegenheit ist günstig: gerade dieser Tage veröffentlichte Screaming Apple die Zweitpressung ihres Albums und es gilt sich ranzuhalten, denn – so raunen es sich die Leute auf der Straße zu – den ersten verkauften Platten ist zusätzlich die längst vergriffene „Boys & Girls“-7“ beigelegt.
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