MENSCHABSTINENZ ist das während der Pandemie begonnene Deutschpunk-Projekt von Matze und vielen Gast-Musiker:innen. Ein Network of Friends, könnte man sagen. Eine prominent gefeaturete 6-Song-EP erschien im August. Ich erreiche Matze zum Video-Call auf einem Campingplatz an der norddeutschen Waterkant. Ein Gespräch über „Woke/Life Balance“ und die Suche nach dem richtigen Weg und der inneren Mitte.
Seit dem letzten Ox-Interview im Frühjahr 2022 hat sich einiges bei MENSCHABSTINENZ getan. Erzähl mal.
Bis auf ein paar Besetzungswechsel ist doch eigentlich gar nicht so viel passiert, oder? Alles wie immer, ständig im Wandel. Zum aktuellen Line-up gehört etwa Christian Schilgen, sonst unter anderem bei EGOTRONIC und TORSUN & THE STEREOTRONICS. Auch Olli Bockmist von BAND OHNE ANSPRUCH ist weiterhin ab und zu dabei und immer mal wieder Toifel von BERLINER WEISSE. Besonders Christian unterstützt mich seit einem Jahr krass bei der Produktion und nicht zuletzt instrumental. Er hat unseren Sound unglaublich weiterentwickelt.
Wie kam es zur Zusammenarbeit mit Christian?
Es war an einem Sonntag. Ich war zu Hause und wollte unbedingt einen Song aufnehmen, wusste aber nicht wie, und habe über Facebook nach spontaner Unterstützung gefragt. Darauf meldete sich Christian, der gerade im Studio war und Zeit für mich hatte. Christian kannte ich bis dato nicht. Noch am Abend hatten wir das Demo für den ersten Song zur gerade erschienenen „Woke/Life Balance“-12“ aufgenommen, und seitdem wird mich Christian nicht mehr los. Ich kann auf ihn und auch auf Olli heute mit viel konkreteren Angaben, wie ich mir einen Song vorstelle, zugehen als in der Anfangszeit. Christian entwickelt die Ideen weiter und setzt das musikalisch super um. Das Songwriting machen wir also inzwischen gemeinsam.
Dass die Arrangements deutlich komplexer geworden sind, fällt sofort auf. Wie hat sich denn euer Songwriting verändert?
Ein wichtiger Unterschied ist, dass Olli und ich in der Frühphase nur online gearbeitet haben. Jetzt entwickeln wir die Songs mit Christian live gemeinsam im Studio, ohne große Datenvolumen hin- und herschicken zu müssen. Wir setzen uns mit den Songs mehr auseinander und diskutieren, wie es werden soll. Aber ich empfinde es nach wie vor als absurd, dass ich Musik mache. Immerhin nenne ich es inzwischen Musik, auch das ist eine Entwicklung. Es ist schon geil, mit Leuten zusammenzuarbeiten, die wissen, was sie tun. Auch die Textarbeit ist inzwischen etwas aufwändiger. Ich haue die Texte nicht mehr sofort raus, weil sie häufig zu emotional sind. Ich betrachte die Texte jetzt immer noch mal aus einem anderen emotionalen Cockpit heraus, lass die Texte also sacken und überarbeite sie, wenn nötig, bevor sie veröffentlicht werden.
Und du hast mit noch einem Grundsatz gebrochen: MENSCHABSTINENZ spielen inzwischen auch mal live.
Wenn Toifel mich nicht ständig treten würde, wäre das wohl bis heute nicht passiert. Das hat sich durch die Freundschaft zu NORDWAND ergeben, live zu spielen. Die Jungs fragten mich, ob ich nicht bei einem ihrer Songs auf dem Resist to Exist-Festival mitwirken möchte. Wir haben dann auch gleich einen meiner Songs gespielt, das war der erste Auftritt. Es folgte noch ein gemeinsamer Auftritt mit NORDWAND. Schließlich wurde ich bei einer Podcast-Aufnahme für ein anderes Projekt überrumpelt. Eine Band, Toifel mittendrin, spielte „70 Jahre Bild“ an und ich wurde vom Gastgeber quasi gezwungen, meinen Song live zu singen. Das waren mal drei Auftritte, aber mit meinem Grundsatz gebrochen habe ich eigentlich nicht. Ich habe nach wie vor keine Ambitionen, eine Band zusammenzustellen. Ich nehme super gerne mit, was mir so zufliegt. Das macht auch total Spaß. Aber es macht auch nur deswegen Spaß, weil es eigentlich egal ist, weil ich mich um nichts kümmern muss, was Orga-Dinge mit einer Band betrifft. Ich habe keine Verpflichtungen anderen gegenüber. Wenn nun aber eine Konzertanfrage käme, zu der ich nicht nein sagen könnte, dann wüsste ich natürlich schon, wen ich anfragen könnte: die Leute, mit denen ich halt Musik mache. Die Frage ist aber, will ich das? Oder würde es MENSCHABSTINENZ seinen Charme nehmen, wenn ich live spielte?
Wie würdest du denn heute die Formel beschreiben, die für MENSCHABSTINENZ steht?
MENSCHABSTINEZ ist ein emotionaler Schwebezustand. Es ist nach wie vor zu 100% DIY, auf Distanz zu anderen Menschen und nur auf den Moment fokussiert.
Lass uns über eure EP sprechen. Welche Ereignisse oder Erlebnisse haben dich bei den Lyrics für „Woke/Life Balance“ beeinflusst? Und was hat es mit dem Titel auf sich?
Mit dem Schreiben an dieser EP habe ich letzten Jahr in Sommer begonnen. Ich befand mich in einer emotional anstrengenden Phase. Es war eine sehr prägende Zeit. Menschen haben mich enttäuscht, von der Punk-Szene bin ich es irgendwie bis heute. Mich enttäuscht, wenn vorgebliche Haltung und tatsächliches Verhalten nicht im Einklang sind. Vielleicht bin ich auch gar nicht enttäuscht, sondern einfach nur aufgewacht? Man könnte sagen, dass ich die Punk-Szene seither kritischer betrachte. Ich habe bei dieser EP alles aufgegriffen, was mich im letzten Jahr aufgewühlt, wütend und traurig gemacht hat. Also, die Platte handelt davon, ein guter Mensch sein zu wollen, aber es nicht immer zu können, und dafür wird man bestraft, so empfinde ich es – von sich selbst, vom Leben und von anderen Leuten.
Sorgst du dich nicht, dass der Titel als anti-woke missverstanden werden könnte?
Kann sein, dass es zu Missverständnissen kommt, das interessiert mich aber herzlich wenig. Gegenseitige Achtsamkeit ist auch in unserer Szene unglaublich wichtig, wie nicht zuletzt der Outcall bei ANTI-FLAG zeigt. Aber mir geht es auch um die Art, wie wir miteinander sprechen und das Verhalten anderer kritisieren. Es geht mir ganz stark um das Wie. Ich erlebe die Debatte manchmal als sehr zugespitzt. Wenn du meine Auffassung nicht voll teilst, bist du gegen mich, so fühlt sich das an. Es gibt oft nur Schwarz oder Weiß und keine Zwischentöne. Wir müssen achtsam sein gegenüber Machtverhältnissen und Diskriminierung, uns aber auch davor hüten, uns in bloße Identitätspolitik zu versteigen. Wer mich missverstehen will, dem wird es gelingen. Die Menschen können mich aber auch einfach fragen, sollten sie wegen meiner Texte irritiert sein. Ich antworte gerne und diskutiere mit allen.
Und Toifel steht MENSCHABSTINENZ jetzt noch etwas näher?
Toifel ist ein guter Freund, der zwei Songs auf der EP featuret und uns beim Songwriting unterstützt hat.
Wie kam es zur Zusammenarbeit mit dem Berliner Label Smith & Miller?
Auch hier hat mir Toifel geholfen mit seinen Kontakten. Mirko vom Label überraschte mich mit einem Angebot, das ich nur annehmen konnte. Ich sagte ja schon, es kommt mir zugeflogen. Vielleicht macht auch das MENSCHABSTINENZ aus?
Ich will deine Grundsätze nicht ins Wanken bringen, aber planst du Aktivitäten zum Release der EP?
Nein. Ich bin gerade im Urlaub, was sollte ich da planen? Ich werde an dem Abend wahrscheinlich in Berlin im Trinkteufel oder im Oberbaumeck sitzen mit ein paar Leuten und auf die Platte anstoßen. Das war es dann aber auch. Die EP spricht für sich.
Sind für die Zukunft bereits weitere Aktivitäten von MENSCHABSTINEZ geplant?
Nach der EP ist vor dem Album. Ich sammle immer Ideen für neue Veröffentlichungen. Aber ob in diesem Jahr noch etwas Neues kommt, das ist fraglich. Realistischerweise würde ich sagen, dass mit einer nächsten größeren Veröffentlichung im kommenden Frühjahr zu rechnen ist. Kleinere Sachen rauszuhauen, so wie in der Anfangszeit von MENSCHABSTINEZ, das kann auch weiterhin jederzeit passieren. Nachdem „Woke/Life Balance“ doch sehr von negativen Gefühlen getragen ist, möchte ich gerne eine Platte machen, die ohne schlechte Gefühle und verbale Aggression wirkt. Das ist eine Herausforderung, der ich mich stelle. Die Herausforderung besteht darin, dass ich mich viel mit mir selbst beschäftigen muss, um auch meine anderen positiv denkenden Seiten zum Vorschein zu bringen. Ich möchte noch ein paar Sachen machen, mit denen keiner rechnet. Die letzten Probeaufnahmen im Studio klingen wie ein Crossover von TRUCKSTOP und KORN beziehungsweise Schlager und Synthie-Pop. Kling eklig, oder? Aber es wird natürlich Punkrock bleiben.
Noch letzte Worte?
Ich bin gespannt, wie die EP aufgenommen wird, ob sich überhaupt irgendwer dafür interessiert. Lasst es mich wissen.
© by - Ausgabe # und 22. Mai 2021
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