„The Incessant“ klingt wie ein Schrei der Verzweiflung. In den zwölf Songs des aktuellen MEAT WAVE-Albums verarbeitet Frontmann Chris Sutter. eine schmerzhafte Trennung. Im zarten Alter von 22 Jahren ging eine Beziehung in die Brüche, die zehn Jahre lang gehalten hatte. Ein halbes Leben für Sutter. Das Ende so einer Sandkastenliebe kann sehr hart sein. Kein Wunder, dass jede Faser des Albums dieses Thema in sich trägt. Und Steve Albini (PIXIES, NIRVANA, HELMET) half im Studio dabei, die dunkle Wolke in Form zu gießen. Für Sutter ist „The Incessant“ der Abschluss einer echten Lebenskrise und ein sehr persönliches Album.
Chris, das Hauptthema von „The Incessant“ ist die Trennung von deiner langjährigen Freundin. Warum hat dich das so sehr beschäftigt?
Ich war ungefähr die Hälfte meines bisherigen Lebens in dieser Beziehung und das war irgendwann vorbei. Es war schrecklich und gut gleichzeitig. Wir haben diese Trennung einfach beide gebraucht. Aber in der Zeit danach war ich einfach orientierungslos. Ich war plötzlich zum ersten Mal in meinem Leben Single und musste damit klarkommen. Ich machte dann auch alle Fehler, die man überhaupt machen kann, und musste lernen, alleine durchs Leben zu gehen.
Warum hast du dich dafür entschieden, dein persönliches Leid öffentlich zu machen und mit deinem Publikum zu teilen?
Das war ein Prozess und irgendwie auch eine Art Therapie für mich. Ich musste einfach darüber schreiben. Wenn ich in dieser für mich sehr intensiven Zeit über ein anderes Thema geschrieben hätte, hätte ich das Gefühl gehabt, dass ich mich selbst belüge. Das wäre ein Bärendienst für meine Musik und meine Texte gewesen. Es war zu diesem Zeitpunkt das Einzige, was ich machen konnte.
Hat der kreative Prozess dir dann wirklich Linderung verschafft?
Das glaube ich schon. Wenn du da sitzt und mit dem Vergrößerungsglas auf ein Gefühl schaust und dann Empfindungen wie Scham oder Furcht beschreibst, dann findet man eine Menge darüber heraus. Und das ist auf eine gewisse Art ermutigend. Am Ende meiner Erfahrungen mit der Trennung hatte ich mehr Kontrolle über mich und meine Gefühle.
Im Song „Bad man“ geht es darum, wie du konkret an dir arbeitest und dich intensiv mit Schuldgefühlen auseinandersetzt.
Ich versuche, in diesem Song einfach so ehrlich wie möglich zu sein. Ich glaube, viele Leute denken, dass sie in bestimmten Momenten schlechte Menschen sind. Ich denke natürlich nicht die ganze Zeit, dass ich ein schlechter Mensch mit, aber wenn du gerade in diesem Gefühl sehr tief drin steckst, ist es sehr einfach, so zu empfinden. Dieser Song ist zu einem Zeitpunkt entstanden, in dem ich mich einfach sehr schuldig gefühlt und ziemlich geschämt habe. Aber das Leben besteht immer aus Wellenbewegungen. Manchmal ist man ganz tief unten und dann kommt irgendwann auch wieder ein Hoch.
Was sagt eigentlich deine Ex-Freundin zu „The Incessant“? Hat sie das Album gehört?
Sie hat es gehört, aber wir haben nicht allzu viel darüber gesprochen. Ich kann nicht genau sagen, ob es ihr gefällt oder nicht. Aber ich habe dieses Album für mich geschrieben und wollte sie nicht in einem besonders schlechten Licht darstellen. Es ging einzig und allein um mich und die Tatsache, dass ich mich wie ein Stück Scheiße fühlte. Ich bin mir also nicht so sicher, wie sie über die Platte denkt.
In einem Song auf dem Album geht es auch um den Verlust deiner Katze. Stimmt das?
Das ist richtig, das ist der Song „Tomosaki“. Genau genommen ist es die Katze meiner Ex-Freundin. Sie hatte Tomosaki schon, als wir zusammenkamen. Es war für mich die erste Erfahrung mit bedingungsloser Liebe für ein Tier. Ich habe diesen Song geschrieben, als klar war, dass wir uns trennen und die Katze immer noch da war. Deshalb ist „Tomosaki“ einfach eine Ode an diese Katze.
Was können deine Fans von diesem sehr persönlichen Album mitnehmen?
Ich hoffe, dass es allen hilft, die sich wie ich an einem falschen Ort zu einer falschen Zeit wähnen. Oder sie machen eine ähnliche Trennung durch wie ich. Mein Problem ist ja nicht völlig einzigartig und auch auf andere übertragbar. Ich hoffe, meine Fans finden einen Zugang. Ich denke, alle Menschen machen irgendwann eine emotionale Krise durch. Und dabei können ihnen meine Songs vielleicht helfen. Ich hoffe es zumindest.
Neben deiner persönlicher Situation haben dich beim Songwriting auch Bücher und Gedichte beeinflusst. Was genau?
Emily Dickinson war immer in meinem Kopf. Ich lese ihre Gedichte schon seit dem College. Die Art, wie sie über ihre Gefühle schreibt, war sehr inspirierend für mich. Denn sie traut sich, sich einfach in einer so schönen Weise zu öffnen. Der Roman „Middlesex“ von Jeffrey Eugenides hat mich auch in dieser Zeit begleitet. Die Hauptfigur beschreibt eine Situation, die sie sich nicht erklären kann und auch nicht, wie es dazu gekommen ist, und sieht sich plötzlich mit einem völlig anderen Leben konfrontiert. Und dann haben mich noch „The Screwtape Letters“ von C.S. Lewis sehr beschäftigt. Ein Dämon, der an seinen Neffen schreibt, um ihm beizubringen, wie man Menschen korrumpiert. Ich fand es toll, wie der Autor das ernste Thema Korruption auf eine lustige, aber auch schmerzvolle Art zu vermitteln vermag.
Aufgenommen habt ihr „The Incessant“ mit Steve Albini. Wie seid ihr mit ihm ins Geschäft gekommen? Er ist doch bestimmt sehr busy ...
Wir haben ihn einfach, lange bevor das Album überhaupt fertig war, in seinem Studio angerufen, um abzuklopfen, ob er Lust hat und zur Verfügung steht. Zum Glück war beides der Fall. Im November 2015 haben wir den Studiotermin gebucht und im Mai 2016 haben wir dann aufgenommen. Und in der Zeit dazwischen haben wir extrem hart an den Songs gearbeitet, um bereit zu sein für die Aufnahmen. Wir hatten nämlich nur vier Tage Zeit, um mit Steve daran zu arbeiten. Aber zum Glück hat alles perfekt funktioniert und es war ein großes Vergnügen mit ihm zu arbeiten.
Was macht Steve Albini anders als andere?
Er hat eine sehr beruhigende Präsenz. Er ist einfach nur da, um dir zu helfen. Er ist dazu da, alles zu unterstützen, was du selbst machen willst. Unsere Strategie war, unser ganzes Equipment in einem Raum aufzubauen und alle Songs am Stück nacheinander zu spielen. Und dann gab es noch Overdubbings von Gitarren und Gesang sowie ein paar zusätzliche Instrumente wie Orgel oder Klavier. Aber es war alles sehr direkt nach vorne. Und Steve war sehr konzentriert und sehr ruhig, aber auch sehr lustig. Und gleich nach den Aufnahmen hat er die Songs gemischt. Darin ist er ein wahrer Künstler. So etwas habe ich noch nie gesehen. Alles war komplett analog, was wir noch nie gemacht hatten. Für mich ist er ein echtes Genie.
Wie Steve stammt ihr aus der Punk-Szene in Chicago. Wie unterscheidet sie sich von größeren Städten wie New York oder Los Angeles?
In Chicago ist alles eng verbunden und es gibt ein Gefühl von Zusammenhalt und gegenseitiger Unterstützung unter Künstlern, die auf einer Wellenlänge sind. Es existiert eine Reihe von mikroskopisch kleinen Szenen, die über die gesamte Stadt verteilt sind. Und es gibt jede Menge Crossover, was den Support betrifft, aber auch was genreübergreifende Projekte betrifft. Chicago ist für mich ein künstlerischer Melting Pot. Es kommen Menschen von überall her, um in Chicago Musik zu machen. Wir stammen selbst aus einem Vorort und sind erst vor rund zehn Jahren in die Stadt gezogen. Im Unterschied zu den Metropolen an der Küste spürt man hier nicht den Einfluss der Industrie. Hier machen sich die Wenigsten Gedanken darüber, in der Musikindustrie erfolgreich zu sein. Sie vertrauen auf ihre eigene Stärke und bevorzugen den Weg der Unabhängigkeit.
Du hast noch eine zweite Band: TRUMAN & HIS TROPHY. Was ist das für ein Sound?
Ryan, der Schlagzeuger von MEAT WAVE, und ich spielen seit fast zehn Jahren in dieser Band. So habe ich ihn auch kennen gelernt. Wir haben TRUMAN & HIS TROPHY in der Highschool mit ein paar Freunden gegründet, es hat als sehr poppige, lustige Punkband angefangen und hat sich seitdem natürlich weiterentwickelt. Es ist aber immer noch sehr energiegeladen und lustig. Wir treffen uns immer noch ab und zu, erst kürzlich haben wir ein paar Songs aufgenommen. Es macht einfach nur Spaß. Es ist wie die heitere Kehrseite von MEAT WAVE.
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