Im letzten Ox-Interview hatte Jens Rachut das Ende von RATTENGOLD angekündigt und sein nächstes Bandprojekt schon vorgestellt, sogar den Namen verraten – nach Fräulein Rottenmeier aus „Heidi“ sollte es benannt sein. Nun, der Name wurde verworfen, die Besetzung ist geblieben: neben Jens als Sänger sind das Markus Brengartner (Drums; TEN VOLT SHOCK) und Frank Otto (Gitarre; KURT, TEN VOLT SHOCK), die Rachuts genreprägenden Gesang auf ein faszinierendes, elektronisch-federndes Fundament stellen. Das Debüt-Album „Tiere in Tschernobyl“ ist soeben auf Major Label erschienen.
Warum MAULGRUPPE, warum nicht ROTTENMEIER?
Rottenmeier war uns zu nahe an Heidi dran – als Punkband wollten wir doch nicht nach der Lehrerin von Heidi benannt sein.
Na dann. Im Bandinfo steht „Joe – Gesang“. Warum Joe, nicht Jens?
Keine Ahnung, pure Langeweile oder ein Verschreiber, ich weiß nicht mehr. Manchmal ist einem eben langweilig und dann ändert man Namen und Orte. Das machst du doch auch gern.
Nee, ich bin Journalist und der Wahrheit verpflichtet ... Ich finde das Album super – es ist anders als deine Punk-Sachen, anders als deine elektronischen Sachen wie KOMMANDO SONNE-NMILCH oder NUCLEAR RAPED FUCK BOMB, nämlich erstaunlich eingängig und mit Groove.
Das war genau der Grund, weshalb ich da Bock drauf hatte, obwohl das so umständlich ist – die beiden in Freiburg, ich in Hamburg. Das sind so Nerds, die proben nur alle zwei Wochen, dann aber sechs Stunden – und das in einer Lautstärke, dass mir beim ersten Mal echt die Augäpfel rausgekommen sind. Die sagten noch, ich solle Gehörschutz-Kopfhörer aufsetzen, aber das hab ich noch nie gemacht. Und dann legten die los und danach bin ich sofort los und hab mir Gehörschutz besorgt. Das war echt beeindruckend.
Auf Platte klingt das recht elektronisch. Das ist aber schon auf der Bühne umsetzbar, oder?
Da läuft ein Computer mit und der ist gefüttert mit all diesen geilen Sounds, und die werden dann von Frankie mit seinen 21 Fußpedalen ausgelöst. Aufgenommen haben wir das in Hamburg bei Tobias Levin, da haben wir schon ein paar Sachen aufgenommen, „Jamaika“ und eine von ALTE SAU. Ist immer gut bei dem, guter Sound.
Ist MAULGRUPPE gerade deine einzige Band?
RATTENGOLD haben wir weg geparkt, das war okay, aber hatte eine begrenzte Laufzeit. Bei ALTE SAU haben wir aufgestockt, da spielt jetzt Thomas Wenzel mit, der auch bei NUCLEAR RAPED FUCK BOMB und DIE GOLDENEN ZITRONEN spielt und der auch bei meinen letzten sechs Hörspielen die Musik gemacht hat und bei der Lesetour. Der ist so ein Allround-Talent, der spielt Gitarre und Bass und Orgel. So, ich trink jetzt erst mal einen Schluck Cola-Rum.
Ich bleibe bei Wasser. Bei Ox30 hatte ich genug Gin Tonic.
Ey, komm mal von Gin Tonic runter, das wird total überbewertet! Wegen Gicht geht bei mir Gin nicht mehr, deshalb trinke ich jetzt Wodka, das ist total gut. Gin und Weißwein geht nicht, wegen der Harnsäure, aber Wodka und Rotwein, das geht. Man will ja so lang wie möglich leben, und da habe ich keinen Bock, so Fusel zu trinken, das mag ich nicht mehr. Da hole ich mir lieber einen Rotwein für ’nen Zehner, wenn ich mir das leisten kann, das ist bei Selbstständigen ja immer so ein Auf und Ab. Aber das muss drin sein.
Wenn man sich schon vergiftet, dann wenigstens mit gutem Gift. Wie hältst du es denn mit der kreativen Arbeit und Substanzen?
Eher nicht. Da hält man sich dann für genial und nachher ist es nicht gut. Mir fallen schon mal sturzbesoffen Sachen ein und dann schreib ich die auf einen Zettel. Am nächsten Morgen ist der Zettel zwar noch da, aber ich kann es nicht lesen. Ein Wort kann man dann entziffern, aber das ist dann doch nicht so gut, hahaha. Und dann schmeißt du die ganze Rotze weg. Notizen auf dem Smartphone, das ist auch keine Alternative, das bekommt man dann nicht mehr bedient. Deshalb nehme ich das abends nicht mehr mit. Da ist man doch ganz schön an der langen Leine. Ich fahr dann abends los, hab frei, treff mich mit Leuten, trink was, hab Spaß, rede Stuss, und dann ist da nichts in der Tasche, wo du aufpassen musst oder wo einer anruft wegen irgend so ’nem Kack.
Bist du eigentlich in Sachen Social Media irgendwie präsent oder hältst du dich da raus?
Nee, da halte ich mich völlig raus. Ich mach gar nichts. Festnetztelefon, SMS und Email reicht mir. Mein Hauptanliegen ist ja sowieso, nicht „präsent“ zu sein.
Andere sehen das anders, reichlich Musiker und Künstler sind online sehr präsent.
Ja, aber das sind meistens Leute, die kein Hobby haben. Ich habe Hobbys. Ich schreibe einen Text und dann gehe ich raus in den Garten und dann mache ich da irgendwas. Heute habe ich mir einfach so eine Wasserbahn aus Regenrinnen gebaut, so raus aus dem Fass aus dem Hahn in die Rinnen und dann in einen Eimer, hahaha. Alles im Matsch, aber es hat Spaß gemacht.
Andere würden das schon wieder Installation nennen.
Ja, und beleuchten und ein Event draus machen. Du musst echt mal vorbei kommen und dir das hier anschauen. Das einzige Problem hier ...
... sind die Schnecken, das hatten wir schon.
Nee, da ist so ein selbstbewusster Hase. Und die Rehe kommen nah ans Haus ran und fressen den ganzen Ginster weg. Das Allerschlimmste aber sind Wildschweine! Da kannst du kein Salz drauf streuen und die zertreten, nee, die haben keine Angst, da geh ich nicht ran. Ich hab mir eine Wildkamera gekauft um zu sehen, was da um mein Haus herum nachts los ist, und da sah ich dann die Wildschweine. Und im Garten war alles zerwühlt.
Und was machst du jetzt? Mit dem Gewehr auf die Lauer legen und abballern?
Ich hab einen Bauer aus der Nachbarschaft gefragt, und der hat mir Holz gebracht, damit ich mir da einen Zaun bauen kann. Der wohnt acht Kilometer von hier und meinte, er habe zwei Wölfe gehabt – „Der Wolf muss weg. Der reißt die Schafe.“, sagte der ganz trocken. Mir fielen nicht mal Gegenargumente ein, denn als ich sagte, er bekomme doch Geld für die toten Schafe, antwortete er, das reicht nicht. Wölfe sind mir egal, aber Wildschweine ... also wenn dir da ’ne Horde begegnet, dann weißt du, was Angst ist.
Mein Opa war passionierter Pilzsammler auf der Schwäbischen Alb und hatte da im Wald auch ein paar Begegnungen. Wenn der ein Wildschwein sah, ist der auf den nächsten Jägerstand, der wusste, dass man sich mit denen besser nicht anlegt.
Ja, Wildschweine haben keine Angst und wahnsinnige Power, die rennen dich einfach um und du kannst nichts machen. Also, wenn du zu Besuch kommst, dann trinken wir einen und dann gehen wir nachts zusammen mit der Taschenlampe raus und suchen die mal.
Wo am Arsch der Welt wohnst du denn? Ich dachte das ist bei Hamburg?
Das ist nur 40 Kilometer von Hamburg, der nächste Bahnhof ist eine halbe Stunde zu Fuß durch den Wald und dann bist du in 30 Minuten am Hauptbahnhof.
Warum nach so vielen Jahren aus der Stadt raus ins Nichts?
Mir reicht’s eigentlich, die Stadt, das kenn ich jetzt alles. Wenn du hier morgens leicht beschädelt aufwachst und die Fenster aufmachst, dann bist du mitten im Wald, dann ist das einfach ein geiles Gefühl – ganz ohne so Hippiescheiß. Hier mit dem Mountainbike rumzufahren, Lüneburger Heide und so, das ist der Hammer. Ich fühl mich hier total wohl, und ich bin ja auch auf Tour, und ein Zimmer in Hamburg hab ich ja auch noch. Klar, mit 28 machst du das nicht, erst mit 100, wie ich.
Hat „Jäger“ von der Platte was mit deinem Lebensumfeld zu tun?
Das hat damit nichts zu tun, auch wenn ich hier aus dem Fenster geschaut habe, als ich das geschrieben habe. Aber ... nö. Ich könnte dir das jetzt erzählen, aber das wäre Spinnerei.
Was hat es mit „Tiere in Tschernobyl“ auf sich? Ich lese und schaue ja gerne Berichte über die Region Tschernobyl, die nach dem AKW-Unglück von 1986 für Menschen gesperrt wurde und wo sich jetzt die Tier- und Pflanzenwelt ungehindert ausbreitet.
Ich habe dazu einen arte-Bericht gesehen, der ist total geil, da geht es um die Tiere in Tschernobyl. Die haben das alle recht gut überlebt, das heißt nicht alle, die Vögel sind ziemlich zweiköpfig und die Fische sind auch nicht so gut. Aber den Wölfen geht es gut, die fressen den kontaminierten Scheiß und haben trotzdem keine richtigen Schäden, die werden nur nicht so alt wie sonst. Die leben da wie im Paradies, da kommen jetzt die Wölfe aus den ganzen umliegenden Ländern hin, weil sie irgendwie instinktiv spüren, dass da nichts ist, was sie bedroht. Der Bericht ist affenarschgeil. Kuck dir das bitte an! Es gibt das noch einen zweiten Bericht über französische Helfer, die den Leuten, die da leben, beibringen, die Pilze nicht zu essen und das Gemüse so anzubauen, dass es sicher ist. Die Menschen wussten ja gar nicht, was passiert, deshalb heißt es im Text auch „Die Wahrheit stand im Stau“ – die Informationen kamen erst zehn Jahre später, die haben damals ja nur die Leute aus der näheren Umgebung evakuiert. Ich war schon nahe dran, da mal hinzufahren, aber ich würde das nur machen, wenn man da nicht mit 50 Idioten in einem Bus sitzt. Sondern mit einem Freak, der Geheimgänge kennt und so was.
Mit Geigerzähler um den Hals und es tickt die ganze Zeit.
Ja und? Wer 40 Jahre lang geraucht und acht Tonnen Bacardi getrunken hat, bei dem darf es auch ein bisschen ticken. Nein, das würde ich schon überleben.
Was hat es mit diesem Covermotiv auf sich mit den griechischen Buchstaben Alpha, Beta und Gamma?
Das ist ein Orden, und ich erzähle dir, wie ich darauf gekommen bin: Ich habe ein Theaterstück gemacht in Hamburg und das ging um Hospiz und Tod und so was. Und da war eine russische Regieassistentin, und man unterhielt sich dann so, und sie erzählte dann, dass ihr Vater Orden sammelt – der aus Tschernobyl sei sehr schön. Und dann habe ich mir den angeschaut: da sind Alpha-, Beta- und Gamma-Strahlen abgebildet, ein roter Blutstropfen, und sarkastischerweise haben das die Typen gekriegt, die da als erste rein sind in Tschernobyl und die da den ganzen strahlenden Müll runtergefegt haben. Die haben dafür den Orden bekommen und 100 oder 200 Rubel. Die wussten ja nicht, dass sie Leukämie kriegen. Wir haben für das Cover die Farbe etwas verändert, aber im Original sieht der noch geiler aus.
Was ist mit Konzerten mit der MAULGRUPPE?
Wir werden im Juni und im November touren! Ich hab da richtig Bock drauf, ist auch wieder mit verkleiden und so. Und vor allem ist diese Musik so geil, wenn man die live spielt.
Könnte sein, dass MAULGRUPPE Menschen, die lieber „richtigen“ Punk wollen, nicht so gefällt. Ich schätze, das ist dir egal.
Es geht doch um dich und Uschi und solche Leute. Aber was willst du machen? Man denkt ja nicht drüber nach beim Musikmachen, welches Publikum das anspricht. Das ist Wurscht.
Jens, besten Dank für das Interview.
Ja, aber komm mich bald mal besuchen. Dann hauen wir uns am einen Tag eine ordentliche Vergiftung rein und am nächsten laufen wir vor den Wildschweinen weg.
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