Eine der größeren Überraschungen in diesem Jahr ist wahrscheinlich die Ankündigung von „Unrest“, dem Debütalbum von LOVELINE aus Essen, die mit ihrer Version von Emocore beziehungsweise Screamo einige alte Wunden aufreißen könnten. Warum es seit dem ersten offiziellen Lebenszeichens, einem selbstbetitelten Tape, bis zur Veröffentlichung der neuen Platte fast vier Jahre gedauert hat, auf wen sie zu Recht wütend sind und welche Rolle „künstliche Intelligenz“ bei der Produktion gespielt hat, erzählten uns Sänger Lucas und die beiden Gitarristen Gerrit und Micha im Interview.
Ich habe mir mal den Spaß erlaubt und ChatGPT darum gebeten, mir die perfekten Screamo-Lyrics zu schreiben. Das Resultat möchte ich euch nicht vorenthalten: „Raging storms within my chest / A symphony of unrest / We scream to break the chains of night / On darkness, we find our light.“ Zufälligerweise taucht da auch euer Albumtitel „Unrest“ auf. Bin ich etwa einer heißen Sache auf der Spur?
Lucas: Tatsächlich sind Teile unseres Albums mit Hilfe von künstlicher Intelligenz entstanden. Die Texte, die Musik und der Titel gehören jedoch nicht dazu.
Micha: Wir haben das Album komplett selbst geschrieben, aufgenommen und gemixt. Den finalen Glanz haben wir den Aufnahmen von so einem KI-Master-Tool verpassen lassen. Ich war der Meinung, dass wir das ruhig mal ausprobieren könnten, da es unsere Musik ja nicht direkt verändert oder beeinflusst. Wir hatten die Wahl, das Mastering in irgendeinem Studio von XY machen zu lassen oder es einfach mal mit so einem Ding zu probieren. Das Wichtigste für uns war, dass wir zu 100% mit dem Ergebnis zufrieden sind. Wir sind und bleiben eine Band, die ihre Wurzeln in der DIY-Szene hat, aber gleichzeitig sind wir auch offen dafür, bestimmte Werkzeuge auszuprobieren. Dass das Ganze am Ende weniger als 50 Euro gekostet hat, spielt dabei eine eher untergeordnete Rolle.
Gerrit: Du musst bei solchen Tools immer Referenzbands und Musikstile angeben. Zum Glück hat uns die KI als Rockband erkannt.
Die Songs auf „Unrest“ sind zum Teil schon 2020 entstanden und damit viel älter als die Diskussion um die Nutzung von künstlicher Intelligenz in der Kultur. Dazu kommt, dass LOVELINE wie eine Mischung aus A WILHELM SCREAM, den alten FUNERAL FOR A FRIEND und PROPAGANDHI klingen. Ist es für euch denkbar, KI zukünftig auch in den Schreibprozess miteinzubeziehen?
Lucas: Ich würde das erst mal kategorisch ausschließen.
Micha: Die Frage ist ja, was will man machen? Ich habe keine prinzipiell ablehnende Haltung dem gegenüber, aber ich wüsste nicht, wie man die KI in irgendeiner Form gewinnbringend für die Musik oder speziell für LOVELINE einsetzen könnte. Für uns ist die Band ja etwas Besonderes und es geht nicht um das reine Abliefern von irgendwelchen Songs.
Gerrit: Im Zweifelsfall ist es ein super Tool, um neue Inspirationen zu bekommen. Nicht weil es irgendwie inspirierend ist, was die KI macht. Im Gegenteil, es kommt ja eher darauf an, was du damit machst. Manchmal ist es fast so, als würdest du mit einem Spiegel reden, nur dass dieser Spiegel dir öfter auch mal etwas anderes antwortet. Vor allem in dem Fall, dass ich mal Gedankenblockaden habe, benutze ich das, um diese aufzulösen. Aber wie du ja schon erwähnt hast, ist das Album im Prinzip noch vor dem KI-Hype entstanden. Klar, Chatbots und dergleichen gab es schon länger, nur wurden die nicht annähernd in dem Umfang eingesetzt, wie es jetzt zum Beispiel mit ChatGPT passiert. Das Ganze war gesellschaftlich und kulturell noch nicht so sehr verbreitet, wie es jetzt der Fall ist.
Micha: Das stimmt, einige der Songs, wie „Nameless cities“ und „The mountain of sadness“ hatten wir bereits im Rahmen eines Tapes oder einer Live-Session veröffentlicht. Wir haben sie aber noch mal neu aufgenommen und auch insgesamt haben die Tracks nichts an Relevanz verloren.
Das bringt mich zu der Frage, wo ich die acht Songs von „Unrest“ am besten einordnen sollte.
Micha: Es gibt jedenfalls kein übergeordnetes Thema auf diesem Album. Dennoch fließt das, was Lucas über seine Texte transportieren möchte, sehr gut in das ein, was wir auch musikalisch ausdrücken wollten. Verzweiflung, Ungewissheit, zumindest auf der musikalischen Seite. Oder auch durch die Struktur der jeweiligen Songs, die irgendwie immer aus einem Introteil bestehen, der den Auftakt zu einer Heldenreise wie in klassischen Filmen markiert, bei der ein vermeintliches Hindernis überwunden werden muss, bevor es zu einem Fast-Happy-End kommt, nur damit schlussendlich alles in sich zusammenfällt. Wir wollten aus den typischen Abläufen ausbrechen. Deswegen findet man auch eher Peaks und Täler bei uns, statt die übliche Strophe-Refrain-Strophe-Refrain-Struktur.
Lucas: Wir könnten unsere Songs auch als durchkomponierte Strophenlieder bezeichnen.
Micha: Ja, vielleicht. Hauptsache, es gibt kein Happy End. Am Ende kommt doch immer noch der Schlag ins Gesicht.
Ich mache mir es jetzt ein bisschen einfach und lasse euch einschätzen, was das Besondere an eurer Band ist. Was ist der Unique Selling Point der DIY-Emocore-Band LOVELINE?
Lucas: Ich denke, dass wir eine relativ einzigartige Verbindung aus diesem Zweitausender-Emocore und sehr thrashigem Punkrock spielen. Natürlich gibt es Bands, die uns in ihrer Komplexität und beim Tempo der Gitarren irgendwie ähnlich sind – A WILHELM SCREAM zum Beispiel. Aber ich kenne zumindest momentan keine, die das mit so einer starken Emocore-Kante versieht wie wir. Mir haben schon ein paar Leute gesagt, dass sie sich bei uns an alte deutsche Emo-Bands wie DAYS IN GRIEF oder so erinnert fühlen. Aber schlussendlich ist da einfach eine Lücke, die ansonsten nicht so wirklich bedient wird, aber wo die Leute immer noch ein bisschen Bock drauf haben.
Gerrit: Ich kann mich erinnern, dass wir mal in Bielefeld gespielt haben, und sowohl vor wie auch nach unserer Show Musik von FUNERAL FOR A FRIEND lief. Und da dachte ich so: Ey, warte mal, Ähnlichkeiten sind schon da.
Die Songtitel lassen erahnen, dass es in euren Stücken auch äußerst kritisch zur Sache geht. Könnt ihr beschreiben, um wen oder was es in „I’m sure the hooks are great but sexual abuse isn’t“ geht?
Lucas: Sollen wir den Titel oder den Text des Songs erklären? Das sind nämlich zwei unterschiedliche Menschen, auf die sich das bezieht. Bezüglich des Textes finde ich es relativ offensichtlich, um wen es geht, weil die erste Hälfte fast nur aus Zitaten dieser Person besteht, die ich irgendwie versuche einzuordnen. Immer im Wechsel zwischen Zitaten und meiner Meinung darüber, was in dem Kontext passiert ist. Dennoch können sich aber alle damit angesprochen fühlen. Ich habe dieses spezielle Beispiel ausgewählt, weil mich das persönlich extrem hart getroffen hat, weil eine der Platten, die diese Band veröffentlich hat, leider die beste ist, die jemals geschrieben wurde. Aber ich kann „The Devil And God Are Raging Inside Of Me“ seit Jahren einfach nicht mehr hören, weil ich nur daran denken muss, was für ein krasser Wichser dieser Typ ist. Und ich musste mir irgendwie mit diesem Text Luft machen und habe das direkt damit verbunden, dass ich mich generell über die linke Szene ausgekotzt habe. Hier ist eigentlich wenig verklausuliert und vor allem gegen Ende wird alles super direkt beim Namen genannt. Das war, zumindest für meine Texte, verhältnismäßig sehr explizit.
Micha: In dem Text geht es ja nicht nur um ein Phänomen, um einen Einzelfall. Der Songtitel bezieht sich auf eine bekanntere DIY-Band aus England, deren Sänger negativ aufgefallen ist – um das mal diplomatisch zu sagen. Diese Band hat im Anschluss ein Album rausgebracht, das in der Szene auch noch einigermaßen gefeiert wurde, obwohl sich ein halbes Jahr alle darüber aufgeregt haben, dass sein Verhalten absolut scheiße ist. Von dem Sänger einer befreundeten Band habe ich im Internet den Kommentar „I’m sure the hooks are great, but serial sexual abuse isn’t“ gefunden. Das beschreibt den Umgang mit der Problematik eigentlich perfekt und ist ein schöner Satz, der gut klingt und dabei die Ernsthaftigkeit des Ganzen noch mal unterstreicht.
Gerrit: Das ist eine Diskussion oder ein Thema, das seit Jahren leider immer wieder aufkommt und mit dem wir uns spätestens seit BRAND NEW auch alle beschäftigen müssen. Das war ja irgendwie nur der Anfang, wenn wir überlegen, was jetzt auch bei ANTI-FLAG passiert ist.
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