Eine außergewöhnliche Band sind sie, diese Ex-MEN AS TREES, jetzt bekannt als LOCKTENDER aus dem mittleren Westen der USA, der Brutstätte so einiger interessanterer Post-Hardcore-Ansätze in den letzten Jahren. Dass dieser Genrebegriff LOCKTENDER nicht gerecht werden könnte, dürfte spätestens nach ihrem letzter Album „Kafka“ deutlich geworden sein, arbeiten sich die Herren doch nicht etwa an Altbekanntem ab, sondern suchen auch weiterhin nach der richtigen Mischung aus Post-Metal, Screamo und Post-Rock. Passend zur Europatour mit THE REPTILIAN erschien auf I.Corrupt.Records der neueste LOCKTENDER-Streich unter dem Namen „Rodin“. Wie man dazu kommt, knapp hundert Jahre nach dem Tod des französischen Bildhauers Auguste Rodin ein Album nach ihm benennen, habe ich mir von Gitarrist Andrew erklären lassen.
Es ist nicht unüblich, dass Literatur, als Ausgangspunkt für Musik genommen wird, wie auch bei eurem letzten Album „Kafka“. Eine Platte und ihre Songs nach einem Bildhauer und seinen Skulpturen zu benennen, ist jedoch etwas, das ich so noch nie gehört habe. Was hat euch dazu bewegt?
Wie bei „Kafka“ und unseren anderen Releases ist es auch bei „Rodin“ so, dass das eben das war, was uns dazu inspirierte, die Songs zu schreiben. Zu dem Zeitpunkt wohnte ich in der Nähe von Philadelphia und bin über das dortige Rodin-Museum gestolpert. Wie die meisten Leute wusste ich nur, dass er eine Skulptur namens „Der Denker“ gemacht hat, aber mir war nicht das Ausmaß seines Werkes bewusst. Als ich dann im Museum war, fühlte ich mich, als würde die Welt auf meinen Schultern lasten, so überwältigend war die Ausdrucksstärke seiner Skulpturen. Jedes Stück beinhaltete so eine großartige Story und du konntest Rodins Handschrift in jedem Detail seiner Arbeiten sehen. Insbesondere die Figurengruppe „Die Bürger von Calais“ hat zu dem gepasst, was wir machten, und wir wussten, dass Rodins Kunst ein großartiges Thema ist, auf das es sich beim Schreiben der Platte zu konzentrieren lohnt.
Wie stark ist die Verbindung zwischen der Musik und dem titelgebenden Kunstwerk? Wie habt ihr unbewegliche Skulpturen in Musik „übersetzt“?
Alle Songs beinhalten eine Verbindung, aber sie manifestiert sich auf verschiedene Arten auf der Platte. „Ewiger Frühling“ beispielsweise ist eine sehr schöne Plastik von zwei verschlungenen Liebenden. Unser Versuch war es, das mit einem Duett aus Gitarre und Violine nachzubilden. „The burghers of Calais“ wiederum hat eine viel historischere Seite und wird von den Worten bestimmt, die versuchen dem Hörer die Sichtweise eines Beobachters zu vermitteln, der dem Geschehen beiwohnt, während die Musik die Stimmung und die ansteigenden und abschwellenden Emotionen beschreibt, die die Charaktere durchleben. Rodin ist im Besonderen bekannt dafür, seine Figuren so zu gestalten, dass sie das Gefühl vermitteln, sie seien in Bewegung. Muskeln, die nicht in Pose sind, sondern angespannt, Gesichter, die denken und nicht an Gedanken festhalten, das machte die Umsetzung einfacher. Wir haben aber wirklich hart daran gearbeitet, dass unser kreativer Output auch dem Original würdig ist.
Ich glaube, nahezu jeder hat von Franz Kafka gehört. Auguste Rodin ist jemand, der vielleicht nicht so vielen Menschen bekannt ist – also warum Rodin?
Ich glaube viele der Englisch- oder Literaturlehrpläne beinhalten, dass die Kinder „Die Verwandlung“ lesen müssen, also ist Kafka ein wenig präsenter. Jeder erkennt den „Denker“, aber nicht jeder würde zwangsläufig wissen, dass er von Rodin ist, oder dass er Teil einer Plastik namens „Höllentor“ ist und den Dichter Dante Alighieri darstellen soll, der hinunter ins „Inferno“ blickt. Rodin würde nur in einem Kurs in Kunstgeschichte Sinn machen, der wohl nirgendwo verpflichtend ist, sondern nur an Universitäten besucht wird, wo man ihn dann ja aus eigenem Interesse wählt. Wir sind auf Rodin zur richtigen Zeit, in der richtigen Situation aufmerksam geworden. Wir würden nie vorgeben, Kunsthistoriker zu sein, aber so, wie wir erzogen wurden, wurden wir alle viel mehr mit Kafka konfrontiert als mit einem Künstler wie Rodin. Ich glaube, das ist auch Teil des Reizes daran, mit weniger bekannten Künstlern zu arbeiten ... Vielleicht in der Hoffnung, dass wir sie Leuten nahebringen können, die anders nie darauf gekommen wären.
Wo ist die Verbindung oder die Entwicklung von „Kafka“ zu „Rodin“?
Wir haben in den letzten paar Jahren an „Kafka“ und „Rodin“ parallel gearbeitet und sehen sie irgendwie auch als eine Einheit. Wir bringen das Album zwar erst jetzt raus, aber haben Songs von beiden Platten auf unserer ersten Show gespielt, schon bevor die „Collected“-Platte erschienen ist. Es gibt Themen, die sich bei beiden Platten wiederholten und verschiedene Herangehensweisen an ein und dasselbe Subjekt darstellen. Musikalisch fällt es mir leicht zu sagen, dass „Kafka“ von Licht erfüllt ist, wohingegen „Rodin“ düster ist, aber es gibt definitiv Ausnahmen auf beiden Platten. Ein verbindendes Element zwischen beiden Künstlern ist die augenscheinliche Einfachheit ihrer Werke, die etwas viel Tiefgründigeres verdeckt. Kurze Aphorismen, die mehr sagen als das, was auf den ersten Blick erkannt wird, und Skulpturen, die lebendig werden, wenn ihre verschiedenen Bedeutungsebenen enthüllt werden. Das ist etwas, das gute Kunst und Musik immer tut, und etwas, auf das wir auch abzielen.
Wenn Rodin heute leben würde, würde er sich eine eurer Shows ansehen, was denkst du? Würdet ihr ihm eure Songs vorspielen wollen?
Hahaha, das kann ich mir gut vorstellen. Billigbier trinkend, mit abgeschnittenen Jeans steht Rodin irgendwo in einem Keller und sieht sich uns an. Wer weiß, vielleicht wäre es seine Szene gewesen, ideologisch gibt es Schnittpunkte zwischen der Gegenkultur seiner Zeit und der heutigen. Und wenn jemand ein Album aufnehmen würde, das sich um mich dreht, würde ich es hören wollen, also schätze ich, wären wir verpflichtet, ihm die Platte vorzuspielen. Ob er das mögen würde, ist eine ganz andere Sache. Könnte ja sein, dass er ein Hardcore-Barock-Fan ist und wir einfach nicht seine Baustelle sind.
Abschließend gefragt, was ist euer Anliegen als Band?
Wir wollen aussagefähige und ehrliche Musik auf unsere eigene Art und Weise machen. Wir sind sehr leidenschaftlich in unserem Tun und dankbar für die Möglichkeit, es mit offenen Menschen zu teilen. Es gibt so vielen trivialen Scheiß in der Musikindustrie heutzutage. Songs, die mit beschissenen Texten zugemüllt sind, die von Gier, Hass und Sex besessen sind, gesungen zu lachhafter Musik. Wir als Gesellschaft sollten besser als das sein. Wir werden ständig mit solchem Schmutz beworfen, weil wir uns mit dem Mittelmäßigen zufrieden gegeben haben. Als Band versuchen wir, etwas herauszubringen, das vielleicht eine Diskussion begründet, und das unsere Mitmenschen dazu anregt, Ideen auszutauschen. Vielleicht bekommen wir auch Leute dazu, sich eine Pause von all der Technologie zu gönnen und etwas außerhalb ihres Social-Media-Newsfeeds zu erleben. Es gibt so viel mehr im Leben als das, was die Mehrheit der Leute zu ihrer Priorität macht. Unser Anliegen ist es anzuregen und herauszufordern – uns selbst und unsere Hörerschaft.
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