Die Australier LO! servieren keine leichte Kost – weder musikalisch noch inhaltlich. Sänger Sam legt Wert darauf, mit seinen kryptischen Texten nicht in eine gewisse Ecke gestellt zu werden. Außerdem erkennt er erschreckende Parallelen zwischen finsteren Vorzeiten und unserer Gegenwart.
Das Erste, was mir im PR-Text zu „The Gleaners“ auffiel, war, dass ihr Verschwörungserzählungen eine klare Absage erteilt – warum war es wichtig, dies zu betonen? Hattet ihr das Gefühl, dass eure Texte missverstanden werden könnten?
Meine Texte sind reich an Bildern und Wortspielen, die sich aus biblischen, literarischen und wissenschaftlichen Quellen speisen. Es gibt keinen Grund, Verschwörungsvorstellungen über die Grausamkeit des Menschen gegenüber dem Menschen zu bemühen, es ist die allgegenwärtige hässliche Wahrheit. Die Monster, die in den einzelnen Tracks beschrieben werden, können in jedem von uns wohnen. Jeder Hörer wird zu seinen eigenen Schlussfolgerungen kommen, wir lassen immer Raum für eigene Interpretationen.
Habt ihr bereits die Erfahrung gemacht, dass eure Musik oder euer Standpunkt falsch verstanden wurde? Wie reagierst du auf solche Leute?
Ich stürze mich für unsere Texte immer tief in die Recherche. Ich bin stolz darauf, wie ich meine Hauptcharaktere in die Tracks einwebe. Man sagt mir nach, dass ich sehr bildhaft und kryptisch formuliere, daher ist es nicht neu für mich, dass meine Worte missverstanden werden oder auf Widerstand stoßen. Mit LO! kann ich mich über Themen auslassen, die mich interessieren, inspirieren, verfolgen oder wütend machen. Die Musik ist zugleich bösartig, hymnisch und theatralisch. Ich denke, dass meine Ansichten zu Umweltzerstörung, exzessivem Konsum, weißen Privilegien und den toxischen Einfluss von Religion in dieser Energie so zum Ausdruck kommen. Ich erwarte nicht, dass jeder meine Überzeugungen zu hundert Prozent teilt, aber ich hoffe, dass die Authentizität von „The Gleaners“ spürbar wird. Wenn wir live spielen, tauche in diese Charaktere ein, bin eine physische Verkörperung der Texte, und meine Reaktion auf das Publikum ist immer alles zu geben.
„Salting the earth“ und „The Gleaners“ sind beides historische Begriffe für Praktiken, die die Menschen unterdrücken und ihnen schaden. Inwiefern sind das Metaphern für unsere heutige Zeit?
Das Einsalzen der Erde war ein Ritual, das von einfallenden Armeen in neu eroberten Dörfern angewandt wurde, die Feldfrüchte und fruchtbares Land einzusalzen, um jeden Versuch der Überlebenden, sich zu ernähren, zu vereiteln. Wir setzen diese Vorgehen in der heutigen Zeit fort, sowohl im wörtlichen Sinne durch massenhafte Landrodung und nicht nachhaltige Landwirtschaft als auch im übertragenen Sinne, indem wir uns mit unserem ungebetenen Fachwissen und unserer Dominanz in Themen einmischen, die uns nichts angehen. „Gleaning“ – das Ährenlesen – war eine übliche Praxis, bei der ein Herr oder Adeliger seinen niedrigsten Untertanen erlaubte, frisch abgeerntete Felder nach Resten abzusuchen, um nicht zu verhungern. Es ist nicht mehr als eine vorgetäuschte Barmherzigkeit der Herrschenden. Ersetze Ähre durch Wahrheit, und wir selbst stoppeln uns täglich durch Medien, Beziehungen und unsere eigenen Narrative, in der Hoffnung, einen Sinn aus dem ganzen Dreck und Sumpf zu ziehen. Kapitalismus, Kolonialismus, Privilegien, allgemeine Apathie und die Zerstörung unserer natürlichen Welt bekommen alle ihren Anteil. Während wir sammeln, müssen wir unsere eigenen Wahrheiten aus den Ruinen des modernen Lebens zusammensetzen.
Inwieweit sind Praktiken aus finsteren Zeitaltern immer noch präsent – wenn auch in einer anderen Form? Wo siehst du Parallelen zum Verhalten der Menschen heute?
Obwohl wir in der kurzen Geschichte der Menschheit auf diesem Planeten unglaubliche Fortschritte zum Wohle der Gesellschaft gemacht haben, sind wir in der jüngeren Vergangenheit in das dunkle Zeitalter zurückgefallen und haben zugelassen, dass die Furcht vor dem Unbekannten um sich greift. Unter dem Deckmantel des Glaubens, des Profits und der kollektiven Angst können auch in dieser modernen Welt viele Gräueltaten begangen werden. Folter, Armut, Klassenspaltung und Gewalt und Unterdrückung haben neue Gesichter, aber dieselben Zähne. Der Zugang zu grenzenlosen Informationen bringt das Individuum nicht voran, wenn immer nur nach der gleichen Predigt ohne Widerspruch gesucht wird. Es werden Sündenböcke konstruiert, Wissenschaftler zum Schweigen gebracht und brutale Wahrheiten ignoriert, um unsere Mythen und überkommenen Erzählungen um jeden Preis aufrechtzuerhalten.
Eure vorherigen Alben hatten ebenfalls eine übergreifende Storyline – was denkst du, wie profitiert ein Album von dieser Art des Erzählens? Ist es für euch einfacher, etwas auf diese Weise zu vermitteln?
Schon früh sprachen unser Gitarrist Carl und ich darüber, dass wir das zentrale Thema und die Schlüsselmotive des Albums umreißen und festlegen sollten, bevor wir mit dem Schreiben beginnen. Das gab den Takt vor für ausgereifte Singles und das Konzept für eines der Videos, bevor die Platte fertig war. Anstatt die Kreativität zu ersticken, beschleunigte es stattdessen die Themen und erzeugte filmische Atmosphären, Schichten von Charakteren, Stimmen, Samples und Chaos, die auf diesen definierten Ideen aufbauen. Das Artwork des Albums konzentriert sich auf jeden der Hauptcharaktere und unterstreicht die Bildsprache jedes einzelnen Tracks mit atemberaubender Wirkung. Für die aufmerksamen Hörer kann unsere Diskografie von „The Tongueless“ aus dem Jahr 2015, als ich zum ersten Mal mit der Band aufnahm, bis zu „The Gleaners“ 2023 als eine einzige Geschichte betrachtet werden, mit Introtracks und Endings, Themen und Charakteren, die ihre Spuren hinterlassen und auch wieder in die nächste Geschichte einfließen. Wir haben eine Welt erschaffen, ein Triptychon von Alben, die man als Kollektiv wieder aufgreifen und erforschen kann. Ich liebe ihre Symbolik und die Aggression, die wir uns erhalten haben.
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