Wer bei dem Namen und dem Anblick von Gesichtstattoos gleich abwinkt, tut Lil Lotus wohlmöglich Unrecht, denn mit Emo-Rap hat sein erster Langspieler „Errør Bøy“ herzlich wenig zu tun. Außerdem hat der Texaner Lotus, dem sein bürgerlicher Name zuwider ist, mehr Rock’n’Roll im Blut als die meisten Rock’n’Roller.
Lil Lotus grüßt perfekt gestylet in die Kamera seines Smartphones. Ein kühles Bier hat er in der anderen Hand, denn in L.A. ist es schließlich auch schon Mittag. Erst als ihm versichert wird, dass es sich nicht um ein Videointerview handelt, nimmt er die Sonnenbrille ab und erzählt, warum das Label Emo-Rap auf ihn nicht zutrifft und wie er seine Kunst beschreibt: „Ich male schwarzweiße Bilder, denn damit scheint fast jeder etwas anfangen zu können“, erklärt Lotus. „Es liegt etwas Schönes in diesem harten Kontrast, denn es gibt nicht eine graue Stelle, die alles aufweicht. Ich bezeichne meine Kunst gerne als dynamischen Kontrast. Selbst ein Song wie ‚Over and over again‘, der durchweg fröhlich klingt, handelt davon, einen beschissenen Freund zu haben.“ Zudem ist „Errør Bøy“ in großen Teilen ein waschechtes Pop-Punk-Album geworden, was sich auch schon auf dem Papier ablesen lässt. Nicht nur, dass Travis Barker bei gleich zwei Tracks zu hören ist, das Album wurde auch von John Feldmann produziert, der in der Vergangenheit schon mit BLINK-182, THE USED und ALL TIME LOW im Studio war.
Lil Lotus entspringt einer Szene, in der es völlig normal ist, fast wöchentlich neue Tracks herauszubringen. Widerspricht das Signing bei einem Label wie Epitaph da nicht dem üblichen Workflow und akzeptiert die Szene das überhaupt? „Tatsächlich haben wir mein erstes Album für Epitaph noch in eine Serie von EPs unterteilt, die zwar im Zusammenhang zueinander standen, aber in zeitlichem Abstand erschienen sind. Die Aufmerksamkeitsspanne wird immer kürzer, deshalb habe ich mit ‚Errør Bøy‘ ein Album gemacht, das ausschließlich aus Hits besteht und so vielseitig wie möglich ist.“
Dass Lotus härtere Klänge nicht fern sind, konnte man kürzlich auf der Split-EP seiner Band IF I DIE FIRST hören, die sie zusammen mit SEEYOUSPACECOWBOY veröffentlicht haben und die quasi das Beste der Generation Screamo wieder auf die Karte bringt. Bei Lil Lotus klingt das musikalisch nicht so extrem, denn das Konzept von „Errør Bøy“ ist es in erster Linie, Ohrwürmer zu erschaffen. „Wenn meine Songs entstehen, schreibe ich nichts auf. Ich freestlye und wenn etwas hängenbleibt, ist es gut, und wenn nicht, dann war es auch nichts. Wenn ich mich schon nicht daran erinnern kann, wie soll das dann später bei jemand anderem funktionieren?“
Berührungspunkte mit Rap und HipHop gibt es bei dem vermeintlichen Rapper Lil Lotus tatsächlich nur aus ideologischer Sicht. Da ist neben der unverhohlenen Liebe zum Geld, das ihm alle Freiheiten gibt, das zu tun, was er will, auch ein turmhohes Selbstbewusstsein: „Ich bin so vielseitig, wie es nur irgendwie geht. Sag mir etwas, das ich nicht kann.“ Sagt es und lässt sich das nächste Bier bringen.
© by Fuze - Ausgabe #89 August/September 2021 und Christian Biehl
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