(LP, Corpus Christi, 1983)
Nach Punkrock-Scheiben aus den frühen 1980er-Jahren gefragt, die in meiner Biografie eine tief eingravierte, gut sichtbare Markierung hinterlassen haben, fallen mir sofort einige von gleichwertigem Rang ein. Und doch nehmen einige wenige Releases, die damals zufällig oder geplant in meinen Besitz beziehungsweise alleinverfügenden Nutzungsbereich gelangt waren, eine deutlich exponiertere Stellung ein; vor allem dann, wenn sie selbst nach fast vier Jahrzehnten noch mit Plots verknüpft werden können, deren Gerüst ihre Bedeutung zu stabilisieren im Stande ist. Und so etwas liegt bei mir bei folgender, in CRASS-Style-Faltcover gehüllter LP vor, die ich bis heute abkulte: CRUCIFIX „Dehumanization“!
Ich weiß es noch ganz genau: Ein – mit Punkrock-Musik und Hardcore zumindest stark kokettierender – „Mitschüler“, Leidensgenosse, Kumpel, Gefährte auf dem Heidenheimer Hellenstein-Gymnasium (nein, nicht Joachim, ein anderer), der aus einem etwas betuchteren Elternhaus stammte und dementsprechend immer gut ausgestattet war mit dem coolsten Stuff vom Szenemarkt, nutzte die Möglichkeit, eine Woche in London verweilen zu dürfen, um mir und Roger, meinem allerengsten Dude, den neuesten, krassesten Shit auf Vinyl „von der Insel“ mitzubringen. Da stand er nun eines retrospektiv nicht mehr präzise fixierbaren Tages im Jahre 1983 vor uns, mit zwei LPs in der Hand und folgenden Sätzen auf den Lippen: „Hier sind – ‚Frisch aus England‘ [genialer Song von BLITZKRIEG aus Hannover, von 1982!] – die zwei geilsten Platten des Jahres, und ich schenke eine davon Roger und eine dir, Dandl.“
Ich würde heute behaupten, dass die BAD BRAINS-LP „Rock For Light“, sein zweites Mitbringsel, musik- und gegenkulturhistorisch und vom Setting, vom Einfluss auf „nachfolgende“ Generationen her höher anzusiedeln sei als das anarcho-pazifistische D-Beat-Spikepunk-Geknüppel von der US-Westküste; wir haben uns aber damals nach langem Abwägen für „Dehumanization“ entschieden, die dann für immer bei mir gelandet ist. „Rock For Light“ musste mir der Londontourist auf Kassette ziehen; ohne das Reggae-Zeugs, was ob der nahezu nichtexistenten Pausen zwischen den Tracks ein diffiziles Unterfangen war ...
„Dehumanization“ also! Wow. Ein absolutes Brett. Und mittlerweile im globalen Hardcore-Punk-Diskurs in den erlauchten Kanon der ersten, rezeptionsräumlich ausgebreitetsten D-Beat-Bands aufgenommen. CRUCIFIX werden vollkommen zu Recht immer in einer Reihe genannt mit DOOM, ANTI CIMEX, DISCLOSE, FINAL CONFLICT und RATOS DE PORÃO. Das wussten wir damals als 15- oder 16-jährige Provinz-Punx natürlich noch nicht; und ich bin mir noch nicht einmal sicher, ob wir die Beiträge, die CRUCIFIX für zwei legendäre Compilations abgeliefert hatten, auf der Rille hatten – die „Not So Quiet On The Western Front“-Doppel-LP (Alternative Tentacles, 1982), zu der es ein wunderschönes Booklet gibt, und „Rat Music For Rat People Vol. 1“ (Go!, 1982). Dort befanden sie sich mit „Annihilation“ und „Steel case enclosure“ in bestmöglicher, nicht mehr zu toppender Nachbar:innenschaft mit D.O.A., FLIPPER, CIRCLE JERKS, BAD BRAINS, DEAD KENNEDYS, BLACK FLAG, T.S.O.L., AVENGERS, SOCIAL UNREST, FANG, CAPITOL PUNISHMENT, 7 SECONDS, MDC und ANGST.
Jedenfalls packte uns diese „Dehumanization“ und ließ uns nimmermehr los. Das lag an vielen Komponenten. Ein unvergessliches Konzeptalbum; Themen: Krieg/Frieden, potenzielle Selbstauslöschung/Auslöschbarkeit der gesamten Menschheit, in die Gesellschaft eingeschriebene Gewaltneigung, Folter, Nationalstaatsüberwindung. Eingeleitet werden die 14 brachial heruntergewüteten Hardcore-Smasher, die nicht einmal 24 Minuten in Anspruch nehmen, von einem der intensivsten Intros aller Zeiten, das ich immer noch ex tempore auswendig aufsagen/aufschreien kann und an dem Roger und ich uns verständniserheischend lange abgearbeitet haben: Sothira Phengs hasserfüllte Stimme überschlägt sich, im Schlussakkord kumulierend, der den revolutionären Weg weist. Sollte das tatkräftig abzulehnende, zurückzuweisende, zu verwerfende, zu missachtende Herrschaftssystem, das die Normen diktiert („which dictates the norms“) und irrsinnige Rüstungsproduktion („arms production“) betreibt, nicht überwunden werden können, dann kommt es unweigerlich zu Zerstörung und Annihilation; Frieden werden wir dann nicht mehr finden können. Bei der ungefähr zur gleichen Zeit aktiven, etwas plumper und bierseliger argumentierenden Kreuzberger Combo VKJ wurden wir alle in milieuspezifischer Zuschreibung und szenischer Selbstverortung sogar zu: VORkriegspunx, die per kollektivierender Sauf-Tauf-Weihe initiationsrituell auf die nicht mehr abwendbare Apokalypse eingeschworen werden, auf jenen Tag eben, an dem „die Bombe fällt“ und alles auslöscht/annihiliert (aus „Die Bombe!“).
Die Tracks sind unglaublich druckvoll und wuchtig, mit düsteren, schweren, auch mal metallischen Riffs angereichert, von einem sehr kräftigen Schlagzeugspiel vorangetrieben. Und im elften Lied auf der vom Crass-Records-Labelsidekick Corpus Christi aufgelegten Platte, „Death toll“ („Blutzoll“), dann ein Part, der fast schon ins Poetische geht, in dem die beinahe militärisch performten, stakkatoartigen Drums mit einer sehr melodiösen Gitarrenlinie zu einer Symbiose verschmelzen; dazu Sothiras gänsehauterzeugende Intonation. So wie Shouter Sothira und CRUCIFIX fühlten wir uns Anfang der Achtziger. Ihre Entmenschlichungs-LP reflektierte in unnachahmlicher, äußerst aggressiver Weise unsere finstersten Zukunftsprognosen, ließ uns aber im Gegensatz zum alternativlosen „Saufen bis zum Untergang“ von VKJ immerhin einen Ausweg: „Reject the system!“ Und diese Aufhebungsperspektive hat bis heute ihre Gültigkeit.
Die aus einer Umstrukturierung innerhalb der frühen Berkeleyer Punkband SUBSIDIZE MESS hervorgegangenen CRUCIFIX existierten leider nur von etwa 1980 bis 1984; die nach der „Crucifix“-12“ (Universal, 1981) und der „Nineteen Eighty-Four“-7“ (Freak, 1982) auf den Markt geworfene, auch aufnahmetechnisch auf höchstem Level liegende einzige LP „Dehumanization“ (1983) „is widely regarded to be their definitive work as well as a cornerstone of American political punk“ (Wikipedia). Ja, wahrhaftig, ein Meilenstein!
Sothira Pheng, der nach dem Split wieder – wie vor CRUCIFIX – seinen Bass in die Hände nahm und nun sozusagen „in Doppelfunktion“ agierte, und Francis Schmidt („Jimmy Crucifix“) spielten dann zusammen im San Francisco-Punk/Hardrock-Trio PROUDFLESH, dem auch mal Mario von UPRIGHT CITIZENS und Erik Lannon von AMERICAN HEARTBREAK schlagzeugend angehörten und die auf Wired Gnome Records veröffentlichten (siehe auch das PROUDFLESH-Interview in #74). Matt Borruso und Christopher Douglas landeten bei der Industrial-Noiserock-Band LOUDSPEAKER. Traurige Info am Ende: Drew Bernstein, einstmals Gitarrist bei CRUCIFIX, beging am 18. August 2014 im Alter von 51 Jahren Suizid; er war nach der Band mit seiner Lip Service Clothing Company ein bekannter „American punk, goth, fetish fashion designer“ geworden.
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #166 Februar/März 2023 und Michael Dandl