LA INQUISICIÓN

Foto© by Jelena Aćin

Die Macht der kleinen Veränderungen

Seit 2015 bereichern LA INQUISICIÓN die spanische Szene mit Streetpunk der düsteren Sorte und schauen auch immer häufiger im europäischen Ausland vorbei, zuletzt etwa auf dem Rebellion Fest in Blackpool. Dies und das Erscheinen des neuen Albums „Mundo Invisible“ sind Anlass genug, uns ein genaueres Bild von den Katalanen zu machen. Wir sprachen mit Sänger Ruben und Drummer Will über linkes Politikversagen, Kapitalismus und kleine Wege heraus aus den Dilemmata des Alltags.

Euer Artwork wirkt insgesamt sehr düster und morbide, so auch bei eurem neuen Album. Ungewöhnlich für eine Streetpunk-Band ...

Ruben: Stimmt, musikalisch bewegen wir uns hauptsächlich im Streetpunk, obwohl unsere Einflüsse viel weiter reichen, bis hin zu Death Metal. Wir mögen einfach diese düstere Schwarzweiß-Optik, atmosphärische Orte und das Spielen mit Motiven aus dem Katholizismus, obwohl wir selber nicht religiös sind. Wir kritisieren diese Symbole durch die Brechung ihrer gewohnten Darstellung. Auf dem letzten Album haben wir auch traditionelle Masken aus unserer Region ins Artwork integriert. Das ist schon bewusst unser Stil.

Man stößt bei der Recherche zu euch immer wieder auf die HFMN Crew, ein Label, Booking-Agentur und Konzertveranstalter, die schon über zwanzig Jahre aktiv ist. Inwiefern seid ihr dort involviert?
Ruben: Wir kennen David, der HFMN gegründet hat, seit Ewigkeiten und sind eng befreundet und unterstützen ihn auch bei Veranstaltungen. Jetzt gerade organisieren wir ein kleines Festival und mehrere Shows zusammen. Mit der Zeit ist HFMN immer weiter gewachsen. Heute hat David Leute in Vollzeit angestellt, um die Arbeit zu bewältigen.
Will: Anfangs haben wir nur ein paar Shows zusammen gebucht und heute ist es eine richtige kleine Firma geworden. David tut sehr viel für die Szene rund um Barcelona. Irgendwann fragte er uns, ob wir nicht auch mit LA INQUISICIÓN Teil der Crew werden wollen.
Ruben: Wir hatten auch schon vorher andere Bands, bei denen er nicht gefragt hat, haha.

Dann lasst uns über das neue Album sprechen! Kritisiert der Song „Las fotos mienten“ [„Die Fotos lügen“] soziale Medien im Speziellen oder seht ihr die Digitalisierung der Gesellschaft generell kritisch?
Ruben: Es geht nicht nur um Social Media. Ich habe den Eindruck, dass unser Zusammenleben insgesamt oberflächlicher wird. Wir konzentrieren uns mehr auf unsere kleinen Bildschirme als auf das reale Leben um uns herum. Wir vergessen das Grundlegende: zu lieben, zu leben, gut zu essen, uns in der Natur aufzuhalten. Unser Leben in kleinen Bildschirmen mit Serien und Timelines ist doch eigentlich ein Albtraum. Darum geht es in dem Song. Wir als Band sind weder bessere Menschen noch Lehrmeister. Es geht nur ums Aufzeigen unserer Wahrnehmung.

„Cien colores“ [„100 Farben“] thematisiert die Gentrifizierung Barcelonas. In Barcelona geht der Massentourismus zu Lasten der Einheimischen. Man hört, dass die Mieten hoch sind und viele Jobs im prekären Dienstleistungssektor sind. Wie erlebt ihr das?
Ruben: Hauptsächlich geht es um die Geschichte der Migration in Barcelona. Unsere Familien haben einen Migrationshintergrund und wir nehmen Barcelona als eine bunte Stadt wahr. Menschen kommen hierher und bauen sich etwas auf. Die Stadt wurde von Migrant:innen gebaut und geprägt. Sowohl von Binnenmigrant:innen als auch von Migrant:innen aus Afrika. Die Gentrifizierung spielt dabei eine Rolle, weil sich viele Menschen ein Leben in der Stadt nicht mehr leisten können. Ich selber lebe auch nicht mehr dort. Der Massentourismus tut sein übriges. Von offizieller Seite heißt es immer, er sei ökonomisch wichtig und bringe Geld in die Kassen. Aber der normale Durchschnittsbürger hat nichts davon. Wer zur Arbeit von außerhalb pendeln muss, legt täglich problemlos vierzig, fünfzig Kilometer zurück und verdient kaum genug, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten.

Es ist ein Dilemma: Tourismus ist ein kapitalistischer Markt – allerdings erweitert Reisen den eigenen Horizont, hilft, die Welt zu verstehen.
Ruben: Der Kapitalismus absorbiert leider alles. Auch das Reisen wurde vom Kapitalismus vereinnahmt. Unsere Eltern zum Beispiel konnten sich ein Haus leisten, haben aber zu Lebzeiten Spanien oder sogar Katalonien nicht verlassen. Ich kann heute in jedes Land auf dem Globus reisen, aber werde mir niemals ein Haus leisten können. Das ist verrückt! Das kapitalistische System ist darauf angelegt, dass Geld sich über den Globus bewegt. Sieh dir an, wie wir heutzutage reisen. Wir benutzen Flugzeuge so wie Busse. Wenn Menschen in den 1980er Jahren geflogen sind, war das ein absolutes Highlight für sie. Wir als Band reisen auch viel, um Konzerte zu spielen. Damit sind wir natürlich Teil des Problems. Es ist wirklich ein Dilemma.
Will: Für meine Eltern war es völlig normal, den Urlaub zu Hause oder bei Freunden und Verwandten zu verbringen. Der Kapitalismus heute suggeriert uns, dass unsere Freizeit zum Reisen da ist. Deine Zeit und dein Geld sollen kapitalisiert werden.
Ruben: Richtig, deine Freizeit ist zum Konsumieren da, nicht für deine Liebsten und die Natur.
Will: Wir werden in Bewegung gehalten. 100% unserer Zeit sollen wir uns mit irgendetwas beschäftigen, womit man Geld verdienen kann. Trotz mehr Freizeit heutzutage haben wir weniger Ruhezeit. Man kommt sich schon komisch vor, wenn man einfach nur auf dem Sofa liegt und nichts macht. Das sollten wir aber häufiger tun.

In „Aplasta a la bestia“ [„Zerquetsche die Bestiue“] sehe ich einen profunden Pessimismus, in „La flor“ [„Die Blume“] wiederum eher eine hoffnungsvolle Zukunft. Was überwiegt bei euch momentan? Gab es konkrete Anlässe zu den Songs?
Ruben: So hoffnungslos pessimistisch empfinde ich „Aplasta a la bestia“ gar nicht. Es geht einerseits um eine derzeit schreckliche Welt, in der wir im Begriff sind, unsere Lebensgrundlagen zu zerstören. Andererseits aber auch um die Möglichkeit und Notwendigkeit, uns zu verändern und etwas Neues zu schaffen. Dazu gehört auch die Liebe zu deiner Familie. Darin besteht auch, wenn du so willst, die Verbindung zwischen den Songs. „La flor“ handelt von unseren Töchtern und der jüngeren Generation, der Hoffnung, die wir in sie setzen, und der Liebe, die wir für sie empfinden.

Hat sich euer Optimismus verstärkt, seitdem ihr selber Kinder habt?
Ruben: Ja. Allerdings sind wir von unserer Grundhaltung her keine pessimistische Band. Wir beschreiben das Dunkle um uns herum immer auch in Kombination mit dem Licht am Ende des Tunnels. Hoffnung gibt es immer.
Will: Wir sind nicht hoffnungslos, nur hoffnungslose Romantiker, haha. Meine Motivation speist sich aus dem Wunsch, für meine Kinder an einer kaputten Welt zumindest kleine Reparaturen vorzunehmen. Sie sind für mich das eben angesprochene Licht am Ende des Tunnels.
Ruben: Und da sind wir auch wieder beim vorherigen Thema. Kleine Veränderungen schaffst du im familiären Umfeld und gerade das leidet immer mehr durch prekäre Arbeitssituationen, weniger Zeit und weniger Geld. Kinder zu haben ist zu einem Privileg geworden. Das ist furchtbar! In meinem Umfeld gibt es Leute, die es sich einfach nicht leisten können, Kinder zu haben. Und ich finde es absurd, die Begriffe „Kinder“ und „Bezahlbarkeit“ überhaupt in einem Satz gegeneinander abwägen zu müssen. Es spiegelt diesen Kreislauf wider von Arbeit, Geld ausgeben, beschäftigt sein und dann doch keine Ressourcen für die wichtigen Dinge im Leben zu haben.

Die Aussage des Songs „Mundo invisible“ [„Unsichtbare Welt“] ]habe ich nicht ganz verstanden, er klingt ein wenig mystisch. Worum geht es?
Ruben: Es geht darum, dass wir heute in einer Welt leben, in der wir Dinge oft visuell wahrnehmen, sie aber nicht fühlen können. Ein Gegenpol dazu ist zum Beispiel die Musik, sie ist visuell und haptisch gar nicht wahrnehmbar. Sie ist unsichtbar, du kannst sie nur hören und empfinden. In den Lyrics sind viele Bezüge auf typisch katalanische Rituale, Feste und Traditionen, die für die Menschen hier eine Bedeutung haben, weil sie einen positiven Einfluss auf deine Stimmung haben und eine positive friedliche Art von Gemeinschaft stiften. Wenn du einen Bezug zu dieser Kultur hast, entdeckst du in jeder Zeile eine Anspielung darauf. Ich mag es generell, Texte zu schreiben, die keine eindeutige Message haben und die man sich inhaltlich erschließen muss.

Ihr bezeichnet euch in den Linernotes zu „Nadie“ als Band der Arbeiterklasse. In den letzten Jahren zeichnet sich immer mehr ab, dass Menschen in unteren Einkommensschichten zunehmend rechtspopulistische bis rechtsextreme Gruppierungen wählen und weniger die linken Parteien. Woran kann das eurer Meinung nach liegen?
Ruben: In diesem Punkt würde ich mehr differenzieren, zumindest was Spanien betrifft. Es gibt Studien darüber, dass die Rechten seit zwanzig Jahren in der Arbeiterklasse einen gleichbleibend hohen Zuspruch haben. Das Problem besteht eher darin, dass die links orientierten Arbeiter:innen nicht mehr wählen gehen und die linken Parteien dadurch schwächer werden. Meiner Meinung nach besteht das Problem darin, dass viele Politiker:innen der linken Parteien in Spanien aus akademischen Haushalten kommen und sich nicht in die Probleme der einkommensschwachen Arbeiter:innen hineinversetzen können. Die kulturelle Distanz ist einfach zu groß. Das hält die Leute vom Wählen ab. Hinzu kommen Hate Speech und die ganzen Halbwahrheiten auf irgendwelchen News-Plattformen im Internet, die die Leute zusätzlich frustrieren und verunsichern. Es ist ein innerlinkes Problem.
Will: In Spanien wird das linke Spektrum größtenteils durch die Sozialdemokratie vertreten und die betrachtet den Kapitalismus auch nicht wirklich als ein Problem. Von ihnen ist kein Wille zu einer Systemveränderung zu erwarten. Wirtschaftspolitisch ist sie vergleichbar mit den liberalen Parteien.
Ruben: Die Debattenkultur in Spanien ist mittlerweile auch völlig vergiftet. Wir diskutieren als Band häufig über Politik und haben auch unterschiedliche Sichtweisen darauf, wie links die Sozialdemokratie überhaupt noch ist. Ich zum Beispiel bezeichne mich eher als Anarchisten. Liberale verspotten Sozialdemokraten teilweise als Kommunisten und Stalinisten, diese wiederum bezeichnen die Liberalen als Nazis. Das macht die politische Kultur zu einem verdammten Witz.

Seit 1978 besitzt Katalonien den Status einer autonomen Gemeinschaft innerhalb des spanischen Staates. So wie das Baskenland, Galicien und Navarra. Es gab immer wieder Bestrebungen Kataloniens, ein eigener unabhängiger souveräner Staat zu werden. Die letzte Unabhängigkeitserklärung bekam jedoch bei niedriger Wahlbeteiligung keine Mehrheit und scheiterte mit knapp 48% der Abstimmenden. Wie bewertet ihr den derzeitigen Status Kataloniens?
Ruben: Darüber gibt es in der Band unterschiedliche Meinungen. Meiner Ansicht nach haben die Politiker:innen, die sich für die Unabhängigkeit ausgesprochen haben, die Menschen nicht richtig mitgenommen und ihnen zu große Versprechungen gemacht, die nicht erfüllt werden konnten. Daher habe ich die Unabhängigkeitserklärung als Witz empfunden, weil sie politisch unfassbar schlecht vorbereitet war. Heute bekommen die Pro-Unabhängigkeit-Parteien auch nicht mehr viele Stimmen. Ich habe Respekt vor dem Engagement der einfachen Leute, die für die Unabhängigkeit auf die Straße gegangen sind. Sie wurden aber von der Politik im Stich gelassen.
Will: Das war übrigens auch eine Ursache dafür, dass die Menschen sich politisch von der Linken abgewendet haben und heute nicht mehr wählen gehen. 2017 hat noch circa ein Drittel der Menschen die Pro-Unabhängigkeit-Parteien gewählt. Als sich dann aber herausstellte, dass einige von ihnen den Wunsch nach Unabhängigkeit als Mittel zum Zweck missbrauchten, um die Stimmen der Wähler:innen zu bekommen, waren viele Menschen frustriert. Wer will auch auf leere Versprechungen setzen? Das führte im Endeffekt dazu, dass Katalonien heute wieder viel konservativer regiert wird. Besonders an Katalonien war, dass der Wunsch nach Unabhängigkeit sich meiner Meinung nach nicht aus einem nationalistischen Grundgefühl ergeben hat, sondern einfach aus dem Wunsch, in einer wirtschaftlichen und politischen Krise ein neues Modell auszuprobieren. Heute geben sich die linken Parteien gegenseitig die Schuld am Scheitern der Unabhängigkeit, was das Vertrauen der Menschen in die Politik nicht stärkt.