Neuseeland ist heute ein überaus beliebtes Reiseziel für Rucksacktouristen und Extremsport-"Bogans" (neuseeländisches Schimpfwort, ähnlich Rednecks) aus aller Welt. Der Flug (zu empfehlen sind Air New Zealand und Quantas Air Australia) dorthin wird immer preiswerter, Übernachtungen in typischen Backpackers Hostels (pro Nacht zwischen 12 und 18 NZD) gibt´s flächendeckend genügend und auch in Sachen Kultur machen sich die eher traditionsarmen Eilande am Ende der Welt langsam.
Neuseeland - für viele fern, dank Mailorder und Labels wie Normal, Raffmond, Noiseworks & Co. dem Musikinteressierten doch etwas näher gerückt. Daß auch downunder im Noisyland Popkultur groß geschrieben wird, hat allerdings weniger mit den Finn-Brüdern und ihrem CROWDED HOUSE ("Weather with you", "Don´t dream it´s over", "Instinct") zu tun, deren Karriere-Orientierung von Anfang an über Australien nach England/Westeuropa ging. Noch Mitte der 90er Jahre überraschten uns Bands wie SUPERGROOVE ("Sitting inside my head", RCA), die zuckersüßen MUTTON BIRDS ("The heater", Virgin), MELON TWISTER (Strange Ways), SHIHAD ("You again", "La la land") oder HEAD LIKE A HOLE ("Fish across face", "Spanish goat dancer", beide Bands veröffentlich(t)en auf Noise) mit ihren immer etwas neben den internationalen Trends liegenden Sounds.
Die Spitze des kreativen Eisbergs aber kam bereits in den 80ern zu uns. Damals machte das Label-Flagschiff Flying Nun flott und nahm über London bzw. über die Bonner Normal-Crew als Label und Vertriebspartner Kurs auf Europa. Bands wie HEADLESS CHICKENS, TOY LOVE, THE CHILLS, BAILTER SPACE, JEAN-PAUL SARTRE EXPERIENCE, STRAITJACKET FITS, THE CLEAN, TALL DWARFS, THE BATS, Szene-Übervater Chris Knox und ABLE TASMANS waren in aller Insider-Munde mit ihrer cool-verschrobenen Pop-Philosophie. Für alle Geo-Skeptiker, die vorsichtig genug fürchteten, auf einen neuen Industrie-Hype hereinfallen zu können, veröffentlichte die Fliegende Nonne zum Teil via Normal und Rough Trade so bezaubernde Compilations wie "Pink Flying Saucers Over The Southern Alps", "Getting Older 1981-1991", "In Love With These Times", "Tuatara", "Somethings For The Weekend" oder "The Sound Is Out There". Es folgten Sampler wie die "Freak The Sheep"-Reihe, die gemeinsam mit der College-Radio-Station b95FM Auckland herausgegeben wurde. 1995 erschien auf Flying Nun zudem die witzig-komische "Abbasalutely"-CD, auf der neuere Acts wie GARAGELAND, 3DS, SUPERETTE, CHUG oder MAGICK HEADS ihre Versionen von ABBA-Hits zum besten geben.
Anfang 1981 veröffentlichte Roger Shepherd in der beschaulichen South-Island-Metropole Christchurch mit THE CLEAN seine erste Single "Tally Ho". Das war der Startschuß für das spätere Flying Nun-Imperium. Shepherd hatte zu diesem Zeitpunkt zwar keine konkrete Vorstellung davon, was eine Plattenfirma eigentlicht macht, geschweige denn, wie man neue Produktionen finanziert oder Vertrieb und Verkauf in einem Land mit gerade mal vier Millionen Einwohnern organisiert, doch es funktionierte. Die Kosten für "Tally Ho" (sagenhafte $50!) kamen schnell wieder rein. Mit der zweiten THE CLEAN-EP "Boodle Boodle Boodle" kam der Durchbruch für Flying Nun. Die Scheibe, auf Chris Knox´ legendärem Teac 4-Spur-Recorder aufgenommen, konnte sich sechs Monate lang in den Top 50 Neuseelands halten und schaffte es sogar zweimal bis in die Top 10. Später zog Shepherd mit Flying Nun von Christchurch in die eigentliche Landeshauptstadt, nach Auckland (Queen Street) um, wo das Label auch heute noch direkt an der Shopping- und Business-Meile sitzt, mit Blick auf Touristenströme, Banken und Wolkenkratzer. Mittlerweile wohnt Shepherd in London, worüber viele hart arbeitende Musikprofis nicht gerade traurig sind. Shepherd wird nach dem vierten Bier als zwar sehr netter und freundlicher, aber auch chaotischer und geschäftlich planloser Fan beschrieben. Die Plattengeschäfte des "Major-Indies" (Vertrieb in Neuseeland durch die Australier Festival) vor Ort führen neue Leute wie Paul McKessar weiter.
Dank Raffmond aus Landsberg wissen wir vom imd-Label (SANDRA BELL, THE BILDERS), den genialen CAKEKITCHEN um Graeme Jefferies (wohnt im Ruhrpott), TRINDER MUSIC (Fats Thompson, "Does It Float?"), den TERMINALS oder DEAD C. Raffmond übernahm kürzlich auch die Arbeit für Flying Nun in Deutschland (Soundtrack-CD "Topless Women Talk About Their Lives"). Der ganze Rest auf Vinyl, Compact Disc oder "supertrendiger" Geraldine-Scheibe (das sind fette LoFi-Schallplatten auf der Basis von CD-Plastik) erreicht(e) uns, wenn wir viel Glück und die richtigen Info-Dealer haben, über Spezial-Mailorder wie Raffmond, Pinnacle, Hausmusik & Co.
"Neuseeland ist nicht Flying Nun!" - das hört man immer wieder aus dem Underground, der nichts mit Intellektuellen-Pop aus Dunedin zu tun haben will. In den letzten Jahren sind interessante Labels und Fanzines entstanden, die leider sträflich von Musikwelt, Medien und potentiellen Fans in Übersee vernachlässig oder gar ignoriert werden. Neuseeland-Pop, und damit verbinden die meisten immer noch ausschließlich Flying Nun, kommt aus Dunedin oder Christchurch, wird in Auckland verwaltet und vermarktet - so das einschlägige Vorurteil, das oft genug wahr ist. Talentierte Bands aus der Provinz schnappen irgendwann ihre Sachen und ziehen nach Auckland um. Nur hier hat man eine Chance "groß" zu werden und das schicke Leben eines Pop-Bohemien zu führen.
Dabei hat das flache Land so viel zu bieten. In Napier, der schmucken Art-Deco-Stadt im Nordosten Neuseelands, gibt es HANGING TREE (als Band und als gleichnamiges Label) sowie das S.A.Y.-Magazin, hinten denen ein Kaffee und Zigaretten verschlingendes Monster namens Hannay steckt. In seiner umgebauten Rümpel-Garage hinter´m Haus nimmt Hannay asskicking Bands aus der Hawkes Bay auf. Aktueller Output auf Hanging Tree ist die Compilation "White Bread And Jam" (in Deutschland über Noiseworks), auf der unter anderem SOAP, DANCING AZIANS und ANTIRINGFINGER zu hören sind. Daneben haben sich etwa MELLO THUMB ("Boy With A Saw") oder BIG BLUE BLANKET ("Everytime You Smile") auf eigene Faust einen Namen erspielt. Die Napier-Macher haben ein Problem, das auch in Städten wie Rotorua, Palmerston North, Nelson oder Hamilton aktuell ist: ihnen fehlt die Presse. Das Rip It Up-Magazin verfügt zwar über eine Alibi-Seite mit "Nachrichten aus der Provinz", ignoriert aber den größten Teil dieser Veröffentlichungen im Rezensions- oder Special-Teil. "Ich habe den Eindruck, daß nur solche Platten das Herz des Rip It Up-Kritikers erweichen können, die aus Dunedin, Christchurch oder vielleicht aus Auckland stammen", ärgert sich Hannay. Dieser Umstand war auch in Napier der Auslöser dafür, eigene Fanzines (wie das S.A.Y.) zu betreiben und die Auckland-Press, die sich noch immer independent, frei, souverän und Underground-kompatibel gibt, zum Teufel zu jagen.
Wellington ist bekanntlich die Hauptstadt der Kiwis, doch ähnlich wie Bonn eher Verwaltungszentrum als Rock´n´Roll-Babylon. Einer der besten Clubs ist die Bodega Bar (286 Willis Street) von Michael Houlahan. Hier finden regelmäßige Konzerte mit Kapellen von nebenan statt. Und von der Bar Bodega gibt es die "Solid Pyrite Hits", wunderschöne Songs auf einem prima aufgemachte CD-Sampler (aufwendige Pappverpackung; mit NIXONS, CHRIS KNOX, NAKED LUNCH, MALCHICKS, BRAINCHILD, MUTTONBIRDS u.v.a.) mit all den Freaks und Sauf-Freunden drauf, die hier mal schon mal in die Saiten gegriffen haben. Bands wie LUSHBURGER, BREATHE, SONIC NOISE, BANANA REVOLUTION, SHORT oder HARRY DEATH haben ihr Glück auf eine Faust versucht und ihre CDs oder Geraldines auf den Markt geworfen. Und immerhin: Auch gänzlich ohne Anbindung an eine Plattenfirma, Labelcode, Vertrieb und Anzeigen-Werbung gelingt in Neuseeland ab und an auch den Kleinen ein großer Wurf. Aus Upper Hut bei Wellington kommen UPPER HUT POSSE ("Movement In Demand"; BMG), die amerikanischen HipHop mit Musik und Lebensart der neuseeländischen Ureinwohner (Maori) verknüpfen.
Die Nummer Zwei unter Neuseelands Indie-Labels heißt Wildside und kommt aus Auckland. Chef des für Kiwi-Verhältnisse ungewöhnlich harten Label-Repertoires ist Murray Cammick. Bei Wildside dominieren lange Haare und kräftige Bratzel-Gitarren à la SHIHAD und HEAD LIKE A HOLE. Murray Cammick ist zugleich der Mann hinter Neuseelands einzigem Musikmagazin Rip It Up und kontrolliert, wenn man so will, ein großes Stück Öffentlichkeit und Markt im Lande. Auf der ´95er Compilation "Raw 1" zog er erstmals Zwischenbilanz in Sachen Wildside-Labeltätigkeit. Veröffentlichungen von DEAD FLOWERS, THE BILGE FESTIVAL, PUMPKINHEAD, SECOND CHILD oder HEMI zeigten in den letzten Jahren, wo es künftig langgehen soll und kann, ohne allerdings auf größere internationale Resonanz wie im Fall von SHIHAD zu stoßen. Außerdem arbeitet Murray Cammick mit MUCKHOLE, HALLELUJAH PICASSOS, WARNERS und NOTHING AT ALL! zusammen - allesamt ein intensivere Hörprobe wert.
In Christchurch ist neben Flying Nun-Stuff oder Crossover à la SALMONELLA DUB das Mini-Label Krkrkrk Cassettes zuhause. Peter Wright (Zitat: "Der Hauptgrund, warum unsere Arbeit immer aus dem Schlafzimmer kommt, ist: In den meisten Fällen sind Studios für uns finanziell und kreativ nicht machbar. Wir müssen also entweder alles selbst machen oder ganz lassen.") macht mit Gleichgesinnten seit vielen Jahren "Musik", die mit Industrial, Minimal Music oder Homerecording Art nur unscharf zu definieren sein dürfte. Mit der uns scheinbar vertrauten Szene in Christchurch/Canterbury haben er und das Autorenlabel Krkrkrk Cassettes nichts am Hut. Sie veröffentlichen ihre Sachen stur neben allen Trends mit viel Gespür für außergewöhnliche und kranke Sounds.
Hinter Yellow Bike Records steht LUNG-Mastermind Dave White, der als Produzent im legendären Club "The Stomach" von Palmerston North für viele Platten im Manawatu-Distrikt verantwortlich zeichnet. Seit einigen Monaten lebt Dave in Nelson, arbeitet dort als Manager am Nelson Community Arts Centre und gibt von hier mit Freunden das renommierte Musikmagazine "Valve" heraus, schillernd und mit wunderbarer Vinyl- bzw. CD-Beilage. Hörbeispiele: Valve No.8 - V/A "Crank Hog Cluck", V/A "Dynamite Groove", Claires Un Natral Twin "Crackpot", V/A "The Hairy Armpit Sessions", The Ashvins/Shoeshine Split-Album "Wide Load, Heavy Load".
Gut, daß Dene Young als DJ bei der Radiostation Rock 99 FM Rotorua arbeitet. Hier kann er auch Songs seiner Band ECHOJAR (ex-CRAWLSPACE) spielen, im sendereigenen Tonstudio Bands aus der Maori-Hochburg Rotorua und der Region Bay Of Plenty produzieren und von langer Hand den Lauschangriff auf die College Radios in Australien und den USA vorbereiten. Mit Erfolg, auch für die Rotoruaner THE ALTAR, die Downunder als schlimme Metal-Finger gelten. Nach deutschen Maßstäben spielen sie in der Liga zwischen Alternative, Art Rock und Gothic Rock - von böse keine Spur.
Auch in Hamilton, einer Uni-Stadt südlich von Auckland, steppt der Bär - manchmal und nur bei genauem Hinsehen. Nachdem in den Räumen der Contact-Radiomacher ein Mini-Studio namens The Fridge (das ist wörtlich zu nehmen) eingerichtet wurde, erlebt die Szene einen Aufschwung. Nach der Produktion geht´s ab ins Sendestudio und mit etwas Glück on air. Beispiele für gelungene Veröffentlichungen aus dem Raum Hamilton sind V/A "Discordia Concors", THE NERVE "Gobby" und V/A "The Fridge".
Mit Pagan Records (Auckland; STRAWPEOPLE, GREG JOHNSON SET, PAUL UBANA JONES, TEX PISTOLES, SMOKESHOP), Failsafe Records (Christchurch; LOVES UGLY CHILDREN, FEAST OF STEVENS, SUPERTANKER, ATOMIC BLOSSOM, SQUIRM - Label-Sampler "Avalanche" & "Good Things") und dem großen Australischen Bruder Festival Records (Auckland; Label-Sampler "Aotearoa 91" & "A bFM Compilation" zusammen mit Radio b95FM) verfügt die Musikszene Neuseelands über weitere repräsentative Outputs, die sich der interessierte Rucksacktourist oder Sammler exotischer Sounds am besten im Second-Hand-Laden besorgen sollte. In der Regel ist für einheimische Platten auch aus dem Underground mehr Geld (bis 30 NZD) zu berappen als für Top 40-Ware oder Major-Material.
Wer die Mär vom Einsiedler-Dasein der Kiwis geprägt hat, ist nicht mehr nachvollziehbar. Vielleicht waren es ja trendverliebte Musikjournalisten aus England. Diese "Experten" gehen davon aus, daß sich der typische Kiwi-Pop-Sound (siehe Flying Nun) nur entwickeln konnte, weil Neuseeland in den 80er Jahren vom Rock´n´Roll-Weltgeschehen isoliert dahinvegetierte. "Totaler Quatsch", hält Murray Cammick dagegen. "Auch bei uns gab es damals schon Plattenläden. In die ging man ´rein und kaufte sich die aktuellen Scheiben von Bands aus Amerika oder England." Auch Paul McKessar von Flying Nun sieht das so: "Es gab nie eine Isolation Neuseelands." Allerdings lohnten sich Clubtouren für halbwegs bekannte Acts nicht, wenn sie nicht gerade aus Australien kamen. Man konnte und kann auch heute noch beinahe nur in Auckland, Wellington, Dunedin und Christchurch aufspielen, ohne ständig die zahlenden Gäste am Eingang zählen zu müssen. Es fehlen einfach die Leute, um einen Club in Palmerston North, Rotorua oder Napier vollzubekommen. Auch die ROLLING STONES bekamen schon den neuseeländischen Landei-Dickkopf zu spüren. Bei einem sagenumwobenen Konzert in Invercargill, der südlichsten Stadt des Landes, bejubelten die angereisten Schafhirten und Ackerbauern nur die Vorband. Die war zwar grottenschlecht, stammte aber aus der Gegend. Die Stones kamen mit lauten Buh-Rufen und einem Downunder-Schock davon. Allein der Name Invercargill soll bei ihnen heute noch mittelschwere Wutanfälle hervorrufen.
Auch die meisten Kiwi-Acts meiden mittlerweile das tröge Städtchen auf ihren Mini-Touren. Anders beim Big Day Out, dem größten Open Air-Festival im Südpazifik, das jährlich im Winter (Januar, Februar) nach den australischen Metropolen auch in Auckland Station macht. Neben internationalen Stars greift dann die einheimische Szene kräftig in die Seiten. Da funktioniert das mit- und nebeneinander noch leidlich. Andererseits bleibt den Aktivisten der nicht gerade vielfältigen Musiklandschaft oftmals nichts anderes übrig, als sich konstruktiv, geschmacklich offen, fair und partnerschaftlich durch die Musikgeschichte zu bewegen. Für Streit und Mißgunst fehlen bei vier Millionen Einwohnern die Leute, sprich Konsumenten.
Transmitter neuer neuseeländischer Popmusik sind neben aufgeweckten Kommerz-Format-Stationen und Stadtradios (kleine Anstalten mit öffentlichen Sendeauftrag) in erster Linie die College Radios nach US-Vorbild. In den größeren Uni-Städten sorgen sie für Airplay und Rotation, die in Deutschland so nicht möglich wären. Fast alle der Active (Wellington), b (Auckland), Contact (Hamilton) oder rdu (Christchurch) verfügen über eine spezielle Kiwi-Show, in der Selbstproduziertes und Kurioses, aber auch angehende Stars des Underground gefeiert werden. Profilierungsquote à la Kunze oder Maffay ist hier nicht. Underground hat im Land der großen weißen Wolke noch immer einen hohen Stellenwert.
Karsten Zinsik
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #31 II 1998 und