KING LY CHEE

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Hongkong Hardcore

Hardcore in China? So was gibt’s? Klar, denn bei allen Unterschieden, die zwischen der westlichen und östlichen Kultur vielleicht existieren, ist Hardcore ein weltweites Phänomen. Riz Farooqi wohnt schon sein ganzes Leben in Hongkong. Eigentlich ist er Pakistani, hat teilweise in den USA studiert und spricht Englisch, Kantonesisch, Mandarin und Urdu. Der sympathische Kosmopolit war maßgeblich daran beteiligt, Hardcore nach China zu bringen. Wir sprachen mit ihm über die Entstehung einer Szene, deren Gegenwart und Zukunft.

Riz, seit wann bist du in Hardcore involviert?


Ich denke „involviert“ ist das Schlüsselwort in dieser Frage. Denn wenn du mich fragen würdest, wann ich angefangen habe, mich für Hardcore zu interessieren, wäre das eine ganz andere Frage. Ich bin 38 Jahre alt und in Hongkong aufgewachsen. In meiner Jugend hatten wir überhaupt keinen Zugang zu irgendwelchen „Underground-Bands“ aus Europa oder den USA. Es war schon schwierig genug, überhaupt irgendwelche Musik in Hongkong zu bekommen, also habe ich die ganzen Kassetten, die meine amerikanischen Freunde mitbrachten, ausgecheckt. Die ersten Bands, die ich dann gut fand, waren VAN HALEN, RUN DMC, IRON MAIDEN und AC/DC. Die kannte in Hongkong niemand, also waren sie für mich „Underground“. Nach einer kurzen Metal-Phase landete ich durch Skateboarding dann bei BAD RELIGION und SICK OF IT ALL. Ich konnte nicht fassen, was ich da hörte, und besonders, wie sehr ich mich mit den Texten identifizieren konnte! SICK OF IT ALL sangen über Dinge, die ich mein ganzes Leben lang schon erlebt habe – wie Rassismus und die generellen Ungerechtigkeiten, die uns tagtäglich widerfahren. Das waren also die ersten Bands, die ich so hörte, aber hier gab es keine „Szene“. Die erste „richtige“ Hardcore-Erfahrung habe ich dann 1994 während meines Studiums in den USA gemacht. Dort sah ich dann eben SICK OF IT ALL zum ersten Mal live in einem kleinen Club in Northampton und dieses Erlebnis stellte meine ganze Welt auf den Kopf. Keine Absperrungen, keine riesige Bühne, das Publikum drehte völlig durch, es flogen Menschen durch die Luft, alle versuchten, in das Mikrofon des Sängers zu schreien und machten komische Tanzbewegungen im Pit. Das war alles total neu für mich, ich hatte noch nie zuvor so eine Form von intuitiver, kathartischer Reaktion auf eine Band gesehen. Ich liebte es! Es endete damit, dass ich auf der Bühne die Worte zu „My life“ in Lous Mikrofon brüllte. Es hatte klick gemacht. Fast schon über Nacht fing ich an, Fanzines zu lesen, in Plattenläden abzuhängen und alles zu verschlingen, was mit Hardcore zu tun hatte. Ich lernte andere Hardcore-Kids auf dem Campus kennen, veranstaltete Shows, veröffentlichte Platten , designte Cover und Flyer und ging mit meiner eigenen Band auf kleinere Touren. Hardcore hat mir viel beigebracht. Es hat mir definitiv den Mut gegeben, Dinge einfach auszuprobieren, und der D.I.Y.-Ethos spielte eine große Rolle dabei, warum ich mich so sehr in diese Welt verliebt habe.

Und dann hast du mit KING LY CHEE in Hongkong deine eigene Band gegründet?

Ja, das war 1999. Dieses Jahr feiern wir unser 15-jähriges Jubiläum.

Ich weiß, dass es bei euch einige Veränderungen im Line-up gab, wie kommt das und seit wann seid ihr in der aktuellen Besetzung?

In Hongkong rennen alle den Trends hinterher, das ist leider in der Musikszene nicht anders. Ich will damit nicht sagen, dass all unsere früheren Mitglieder Trendhopper waren, aber es war immer schwierig, Leute zu finden, die wirklich Bock auf Hardcore haben. Früher musste ich den Mitgliedern oft Nachhilfe in Sachen Hardcore geben, besonders bezüglich D.I.Y. – dass du eben für deinen eigenen Kram zahlst, war oft nicht selbstverständlich. Ich mache niemandem einen Vorwurf, der nach jahrelangem Draufzahlen keine Lust mehr hat. Das warf uns dann zwar immer wieder ein bisschen zurück, aber ich bin eigentlich sowieso der Typ, der nach vorne blickt, anstatt sich auf vergangenen Erfolgen auszuruhen. Wir haben schon viel erreicht, was die meisten asiatischen Bands nicht geschafft haben, also sollte ich unglaublich stolz sein, aber alles, was ich will, ist den nächsten Schritt zu machen. Seit vier oder fünf Jahren haben wir eine ziemlich feste Besetzung, auch wenn es teilweise kompliziert ist. Unser Bassist kommt aus Guangzhou und unser Drummer wohnt in Macao, also haben sie sehr weite Anfahrtswege.

Was bedeutet der Name KING LY CHEE? Du hast mir mal zwei Versionen erzählt: eine offizielle und eine inoffizielle, die aber näher an der Wahrheit dran ist ...

Ja, es gibt zwei verschiedene Versionen. Die offizielle Bedeutung leitet sich von etwas ab, das Chinesen über Litschis, Ly Chee, sagen: „Wenn du sie noch nie probiert hast, verpasst du wirklich was!“ Es ist die beste Frucht überhaupt, supersüß und einfach lecker. Außerdem sagen die Chinesen, dass drei Litschis das Äquivalent zu Feuer, also einer Explosion ist. Das passt für uns super zu dem, worum es uns mit der Band geht, nämlich Hardcore in China und Hongkong dort voranzubringen, wo es vor uns noch nie Hardcore gab.Und wir legen sehr viel Wert auf eine explosive Live-Show. Auf die inoffizielle Version musst du mich mal bei einer Show ansprechen, sie hat aber was damit zu tun, wonach Litschis auch oft aussehen können, haha.

Welche Bands haben Hardcore in China begründet? Gib uns bitte eine kleine Geschichtsstunde in „chinesischem Hardcore“.

Wir gelten als Chinas erste Hardcore-Band, also kann ich mich vor uns an keine andere Band erinnern. Punkrock gibt es schon seit den Neunzigern, also gab es seitdem dafür ein gutes Verständnis in Städten wie Peking und Wuhan. In Hongkong war Punkrock immer ein Ding der ausländischen Kids, von denen hier viele an internationalen Schulen zu finden waren. Es gab sicher großartige Punkrock-Bands in den frühen Tagen, wie PREGNANT MEN und THAT GUY’S BELLY, deren Publikum bestand aber leider zum Großteil nur aus ausländischen Kids, die wiederum, genauso wie die Mitglieder der Bands selber, sehr oft wechselten. Alle zwei Jahre brach das Publikum weg und die Szene implodierte. Immer wenn wir dachten, dass die Szene einen guten Lauf hat, mussten wir wieder von null anfangen. Aber das war auch das, was KING LY CHEE in den Anfangstagen angetrieben hat. Ich wollte mit der Band raus aus der „ausländischen Kids-Szene“ und hin zu den chinesischen Kids, weil die diejenigen sind, die hier für immer leben werden, die die Zukunft dieser Gesellschaft sind und das Leben hier irgendwann maßgeblich mit den tollen Idealen von Punk und Hardcore beeinflussen können. Die Geschichte von chinesischem Hardcore liest sich also wie folgt: Wir haben 1999 damit angefangen, aber der Style und der Sound der Musik, die wir machten, war zu neu und ungewohnt für die Leute hier. Wir kämpften mit Händen und Füßen gegen die großen Medienunternehmen an, die den Leuten LIMP BIZKIT und KORN als „Hardcore“ verkaufen wollten. Kids kamen zu unseren Shows und erwarteten Rapper und DJs und wurden bitter enttäuscht. Ich versuchte sogar eine Zeit lang, mit meinem bilingualen D.I.Y.-Zine Start from the Scratch das Verständnis von Hardcore und Punk zu verbessern. Wir sind aber trotz allem dabeigeblieben und in den letzten zwei Jahren hat in China eine Art Explosion von Hardcore stattgefunden. Leider nicht in Hongkong, aber in Peking, Wuhan, Shanghai und Changsha kannst du gerade die Geburtsstunde einer echten Hardcore-Szene miterleben. China ist im Moment sehr aufregend!

Ihr seid nicht wirklich eine „chinesische“ Band, ihr seid aus Hongkong – die Leute hier kennen den Unterschied oft nicht oder kennen sich mit der aktuellen politischen Situation nicht aus.

Hongkong ist eine Stadt in China, also sind wir eine chinesische Band. Der einzige Unterschied ist, dass Hongkong durch die britische Kolonialisierung eine einzigartige Kultur, eine andere Sprache und eine sehr unterschiedliche Lebensweise entwickelt hat. Als Hongkong 1997 an China zurückgegeben wurde, war die Vereinbarung, dass Hongkong seine Freiheiten und Lebensweisen für mindestens fünfzig Jahre behalten darf. Anders als im Rest von China haben wir hier also noch unzensiertes Fernsehen und Zugang zu Websites wie Facebook und YouTube, aber sobald du vierzig Minuten mit dem Zug nach Norden fährst, ist das alles weg. Es ist verrückt: Alles, was du im Internet postest und der chinesischen Regierung nicht gefallen könnte, wird sofort zensiert und du wirst geblockt. Wenn du auf großen Musikfestivals spielst, was wir oft tun, musst du sehr vorsichtig sein, was du auf der Bühne sagst. Wenn du eine Platte über ein Label veröffentlichen willst, musst du deine Texte erst zum Absegnen ans Kulturministerium schicken. Unsere Band wurde schon 2004 auf eine schwarze Liste gesetzt, wir haben weder eine Ahnung wieso, noch wie wir da wieder gestrichen werden können. Wir sind total auf die Gnade des Kulturministeriums angewiesen, ob wir bestimmte Festivals spielen können. Manchmal klappt es, manchmal werden wir aber, teilweise auch sehr kurzfristig, vom Line-up geschmissen.

Wie haben diese Veränderungen sowohl in Hongkong als auch in China die Hardcore/Punk-Szene beeinflusst? Denkst du, dass die aktuellen Proteste in Hongkong eine neue Generation von Punks und Hardcore-Kids hervorbringen werden?

Diese Art von Musik ist eine Form von Rebellion gegen die Unterdrückungsmechanismen der Gesellschaft, also macht es absolut Sinn, dass die Kids in China sich schon damit identifizieren können. In Hongkong spürst du diese Unterdrückungsmechanismen noch nicht so heftig, deshalb dauert es hier vielleicht auch länger, bis sich was tut. Allerdings hat sich das politische Klima in den letzten zwei Jahren schon sehr gewandelt. Die Regierung aus China schaltet sich immer mehr ein und versucht, die Freiheiten hier weiter einzuschränken. Die Realität für die Jugend hier ist die, dass Hongkong eine der teuersten Städte überhaupt ist und du zwölf Stunden am Tag arbeiten musst, um überhaupt über die Runden zu kommen. Dazu kommt die riesige Unsicherheit, ob es nach dem Abschluss überhaupt genug Arbeit für alle gibt. All das mindert die Lebensqualität, denn es ist kein Leben, wenn es immer nur um die Sicherung deiner Existenz geht.

Hardcore ist eine amerikanische, also eher liberale Bewegung. Gibt es etwas, das Chinesen daran nicht verstehen können?

Das ist eine gute Frage. Wenn du in China zu direkt und aufdringlich bist, wirst du dir dadurch keine Unterstützung erhoffen können. Du musst respektvoll und geduldig sein, damit du deine Ziele erreichst. Das mussten wir auf die harte Tour lernen, weil ich mir am Anfang mit meiner direkten Art hier in Hongkong absolut keine Freunde gemacht habe. Außerdem muss jede Idee oder jedes Konzept in eine eigene chinesische Version verwandelt werden, damit es den Menschen hier auch zugänglich ist. Und China ist riesig, Norden und Süden sind kulturell sehr unterschiedlich. Aber so langsam fängt China an, sich der Außenwelt mehr zu öffnen. Das lässt sich ohnehin nicht mehr aufhalten, denn es gibt das Internet, und immer mehr Chinesen haben genug Geld, um ins Ausland zu reisen und das Leben dort kennen zu lernen.

Sorgst du dich manchmal, dass die chinesische Hardcore-Szene einfach alles von den westlichen, schon etablierten Szenen übernehmen und deshalb nicht ihre eigene stilistische und musikalische Identität entwickeln wird?

Nein, noch mache ich mir keine Sorgen. Wie gesagt, das ist alles noch so neu in China, und wenn ich Kids in GORILLA BISCUITS-Shirts sehe oder wie letztens auf dem CNHC, dem China Hardcore Fest, eine Band „Break down the walls“ von YOUTH OF TODAY covert, ist das für mich immer noch furchtbar aufregend! Vielleicht entwickelt sich in fünf bis sechs Jahren ja mal etwas wie ein einzigartiger chinesischer Sound im Hardcore. Das wäre wirklich toll.

Ihr nehmt eure Platten immer in Englisch und Chinesisch auf. Macht ihr das, weil die chinesischen Kids dich sonst nicht verstehen würden? Oder gibt es andere phonetische Vorteile an der chinesischen Sprache?

Für mich wird es beim Hardcore immer um die Message gehen. In einer Sprache zu singen, die die meisten Kids dann nicht richtig verstehen können, hindert die Message also daran, bei ihnen anzukommen. Deshalb singe ich beides ein, was im Studio echt beschissen ist. Aber das ist es wert, wenn ich sehe, dass alle schnell einen Zugang zu meinen Texten kriegen, anstatt erst mal Google Translate anschmeißen zu müssen.

Da ich selber schon in China getourt bin, weiß ich, dass die Club-Betreiber eine gewisse Gebühr für alle an dem Tag auftretenden Bandmitglieder ohne chinesische Staatsbürgerschaft an die Polizei zahlen müssen. Hindert das die Szene daran zu wachsen oder ist das eine gute Sache, um lokale Bands zu unterstützen und Promoter davon abzuhalten, nur Shows mit bekannten ausländischen Bands zu machen?

Nein, es ist Blödsinn, dass das verlangt wird. Aber in China hast du keine Rechte und du kannst deine Unzufriedenheit kaum äußern, weil du dafür im Gefängnis landen kannst. Und was kannst du dagegen machen? Nichts. Deshalb ist den Menschen in Hongkong ihre Freiheit auch so wichtig und die Vereinnahmung durch China so bedenklich, denn noch ist es hier möglich, sich zu beschweren, ohne Angst vor Strafverfolgung haben zu müssen.

Wie sieht’s mit der Infrastruktur aus, was Promoter, Clubs, Proberäume und Plattenlabels angeht?

Ich denke, es kann nur besser werden. Es ist immer noch von Leuten abhängig, die es wegen der Liebe zur Sache machen, niemand verdient Geld damit und deshalb kann es auch nicht auf das nächste Level an Professionalität aufsteigen, da alles nur nach Feierabend oder an den Wochenenden passiert. Du musst dir vor Augen halten, dass ausländische Bands gerade so eben angefangen haben, in China zu touren. Diese Art von Industrie entsteht hier erst, das lässt sich nicht mit den Verhältnissen in Europa oder den USA vergleichen.

Wie geht es weiter? Wie kann sich Hardcore in China entwickeln und in welche Richtung sollte es gehen?

Wir brauchen vor allem mehr Bands in verschiedenen Städten. Wenn Bands aus dem Ausland kommen, ist das cool, aber es ist jetzt schon so, dass zu viele kommen und der Besucherzahl der Shows schaden. Am Anfang war es so, dass alle Shows mit ausländischen Bands ausverkauft waren, heutzutage kannst du froh sein, wenn du fünfzig Zahlende hast. Ich habe keine Lust mehr, Shows für unbekannte Bands zu machen und am Ende immer noch draufzuzahlen. Niemand außer mir ist hier doof genug, das zu tun. Ich wäre mehr als froh, wenn ich diese Verantwortung irgendwann abgeben könnte. Was also passieren muss, ist, dass sich die Leute hier zu eigenen Bands zusammenfinden und sich in die Musik, die Bands und die Shows einbringen und wiederum andere dazu ermutigen, dasselbe zu tun.

Lass uns zum Abschluss noch mal zu KING LY CHEE zurückkommen. Ihr habt ein neues Album aufgenommen, das im Dezember veröffentlicht wird. Kommt das auch in Europa oder woanders auf der Welt raus?

Ja, in Europa ist Clenched Fist Records sehr interessiert daran, es zu veröffentlichen. Irgendwas in Europa zu machen, ist für uns sehr aufregend, weil wir in den 15 Jahren nie irgendwas Richtiges dort gemacht haben. Wir sind 2006 mal ein bisschen dort getourt, aber es gab nie wirkliches Interesse von Promotern oder Labels, uns noch mal rüberzuholen. Ich verstehe das total, auch bei euch ist der Markt total übersättigt mit den ganzen US-Bands. Also wir versuchen das jetzt schon seit Jahren und hoffen, dass es mit dieser Platte endlich klappen wird, ganz besonders, weil sie „CNHC“ heißen wird, das steht für „China Hardcore“.

Was sind die Themen, die du auf dem Album ansprichst, und wie wird die Platte klingen?

Einer der Songs handelt von Malala Yousafzai. Ich habe den Song vor einem Jahr geschrieben und jetzt hat sie überraschenderweise den Friedensnobelpreis gewonnen. Den hat sie sich wirklich verdient und der Song hat das perfekte Timing. Außerdem geht es in einem anderen Song um das, was dieses Jahr in Gaza passiert ist. Er ist weder anti-isrealisch, noch antisemitisch. Er ist aus der Sicht eines Kindes geschrieben, das sich mit seiner Mutter vor den Bomben versteckt und nicht verstehen kann, wieso diese Welt so voller Hass ist. In einem anderen Song geht es zum Beispiel um meine Tochter. Als ich den geschrieben habe, konnte sie noch nicht mal sprechen, und jetzt, als wir ihn aufgenommen haben, kann sie das schon. Deswegen hört man sie auch etwas am Anfang des Songs sagen. Vater zu werden ist eine so schöne und tiefschürfende Erfahrung. Musikalisch mögen wir es vielfältig, wir haben sowohl harte Parts als auch ein bisschen mehr Punkrock. Wenn du also auf diese Art von Mash-up-Hardcore stehst, wirst du mit der neuen Platte auf jeden Fall deinen Spaß haben.

 


Hardcore in China

„Der Deutsche an sich hat keinen Sinn für Humor, ist pünktlich und legt großen Wert auf Ordnung.“ Ich finde es immer schwierig, solche absoluten Aussagen zu treffen, aber auf der anderen Seite ist diese Aussage schon typisch. Was deutsch ist, habe ich von meinen chinesischen Freunden gelernt: Wenn ein Deutscher gefragt wird, wie tief der Rhein in Düsseldorf ist, dann würde der nie eine direkte Antwort darauf geben: Das hängt davon ab, wie viel es geregnet hat, welche Jahreszeit gerade ist, an welcher Stelle wir genau stehen und so fort ... Ein Chinese würde auf die Frage einfach antworten: „Ungefähr zwanzig Meter.“

Das lässt sich ganz gut auf die Szene hier übertragen. Chinesen sind da sehr pragmatisch und machen erst mal, auch wenn es dann nachher nicht hundertprozentig passt. Das kann man auf Hardcore-Shows dann auch erleben – die fangen eigentlich grundsätzlich zwei Stunden zu spät an, das Line-up wird noch wenige Minuten vor Beginn komplett über den Haufen geworfen, manchmal wissen die Bands erst wenige Stunden vor Konzertbeginn, dass sie überhaupt spielen sollen. Klar, es gibt auch viele Shows in Deutschland, die chaotisch ablaufen, aber in China ist es gerade bei kleineren Konzerten eigentlich immer so. Ein großer Unterschied zwischen China und Deutschland ist auch die Bedeutung des Individuums versus die des Kollektivs. In China hat das Kollektiv mehr Wert als das Individuum, in den meisten westlichen Staaten ist das umgekehrt. Gerade bei Hardcore-Shows geht es aber per se um ein „Wir“-Gefühl, denke ich, egal, ob im Westen oder im Osten.

Chinesische Hardcore-Bands sind zwar nicht unpolitisch, aber wenn man sich die Texte anschaut, geht es hier selten um konkrete politische Forderungen. Ist ja auch logisch, ein Lied über das Ende der KP ins Internet zu stellen, ist in China ziemlich riskant. Die Texte handeln häufig davon, dass die Leute die Augen aufmachen sollen, sich klarmachen sollen, dass es starke Ungerechtigkeit und Ungleichheit in der Bevölkerung gibt und sie nicht einfach der Masse hinterherlaufen, sondern ein selbst bestimmtes Leben führen sollen. Es gibt in der Hardcore-Szene aber auch viele patriotische Texte. Kompliziert wird es außerdem dadurch, dass viele Hardcore Bands auf Englisch singen und die wenigsten Menschen im Publikum Englisch verstehen.

Die Infrastruktur, was Clubs und Läden in China angeht, entwickelt sich zwar auch immer weiter, aber so etwas wie alternative Jugendzentren gibt es in China nicht. Wenn hier eine „große“ Band aus dem Ausland kommt, sind die Leute schon bereit, mehr zu zahlen, und die Shows sind normalerweise auch voll. Die lokalen Bands haben die meisten schon gesehen, die sind nun mal ständig auf Tour in China. Europäische oder US-Bands kommen nur selten nach China, weil es relativ kompliziert und aufwändig ist und nicht zuletzt auch weniger Kohle gibt. Die Hardcore-Szene in China ist noch sehr jung, obwohl es Bands wie KING LY CHEE schon seit 15 Jahren gibt. Es ist ja inzwischen offensichtlich, dass vieles in China schiefläuft, aber viel zu viele Chinesen nehmen das einfach hin. Ich hoffe, dass es hier in Zukunft mehr Menschen gibt, die etwas verändern wollen, und ich glaube, dass Hardcore da einen Beitrag leisten kann.

Sebastian Fritsche ist 34 Jahre alt, kommt eigentlich aus Oberhausen. Nachdem er schon 2004 für ein Jahr in Shanghai war, um dort zu studieren, lebt er nun mit seiner chinesischen Frau seit fünf Jahren in Peking. Er bezeichnet sich selbst aber nicht als Auswanderer, den Rest seines Lebens möchte er nämlich nicht in China verbringen. Er spricht von einer „gewissen Freiheit“, welche ihn dort immer irgendwie gereizt habe, denn trotz autoritärem Einparteiensystem, nicht vorhandener Meinungsfreiheit und Internetzensur, gebe es immer eine ganz bestimmte Dynamik. In China passiere unglaublich viel in sehr kurzer Zeit, sagt er.