Matthias Arfmann und Katrin Achinger gründeten KASTRIERTE PHILOSOPHEN Anfang der Achtziger Jahre und wurden mit ihrem mitunter „spröden“ und teilweise an THE VELVET UNDERGROUND erinnernden Sound schnell zu den Lieblingen der „Generation Spex“. Mit ihrem eindringlichen Gesang war Achinger teilweise nahe an der Tonlage von Patti Smith oder Nico. Mitte der Neunziger Jahr löste sich die Band auf und hat nun die Werkschau „Jahre – 1981-2021 (+1)“ über ihre gesamte Schaffensphase veröffentlicht, die beeindruckend aufzeigt, welche musikalische Ausnahmestellung die Band in ihrer Zeit hatte.
Ihr habt nun eure Werkschau veröffentlicht und könnt dabei auf einen Katalog von elf Alben und 168 Songs zurückgreifen. Unter welchen Gesichtspunkten habt ihr die 15 Tracks ausgesucht und wie schwer ist euch die Entscheidung gefallen?
Matthias: Es war eine Herausforderung, die 15 Songs aus diesem sehr großen Pool auszuwählen. Am Ende waren wir uns aber dann doch einig, da wir vermutlich ähnliche Lieblingslieder aus all den Jahren haben.
Katrin: Für mich war es eine spannende Angelegenheit, aus diesem Anlass das Gesamtwerk chronologisch durchzuhören. Das hatte ich in dieser Form noch nie gemacht und war begeistert und fasziniert, wie sich daraus für mich ein roter Faden ergab, der sich bis heute durch meine Musik zieht. Wir hatten uns geeinigt, von jedem Album ein oder zwei Titel zu nehmen, und tatsächlich waren die Hits vielleicht andere, als wir früher gedacht hatten, aber wir waren uns schnell einig. Dann ging es darum, die Reihenfolge zu finden, da gelten dann Kriterien wie Übergänge zwischen den Stücken.
Von meinem „All-time Fave“-Album der KASTRIERTE PHILOSOPHEN, „Nerves“ von 1988, ist „Toilet queen“ dabei. Von dem Song gibt es einem Remix von SISTERS OF MERCY-Mastermind Andrew Eldritch, der auch kurz im Video zum Song zu sehen ist. Wie ist der Kontakt zustande gekommen?
Matthias: Andrew Eldritch wohnte damals im gleichen Haus wie ich am Hamburger Berg Nummer 26 in St. Pauli.
Katrin: Und unser damaliger Manager Klaus Maeck war mit ihm befreundet. Maeck war auch Mitbegründer des Musikverlags Freibank Music Publishing war, wo er unter anderem für EINSTÜRZENDE NEUBAUTEN tätig war.
Katrin, du hast Ende der Siebziger Jahre vor KASTRIERTE PHILOSOPHEN als Bassistin in der Female-Punkband MONOTONER ABLAUF gespielt. Hierzu habe ich leider keine Veröffentlichungen gefunden. Wie hast du diese Zeit des musikalischen Aufbruchs wahrgenommen und wie wichtig war sie für dich in deiner Entwicklung als Musikerin?
Katrin: Meines Wissens gab es auch keine Veröffentlichungen von MONOTONER ABLAUF. Jene Zeit war insofern ein Befreiungsschlag, als dass man Drei-Akkorde-Songs schreiben und eine Band gründen konnte. Davor galt in meiner näheren Umgebung immer noch technische Virtuosität als Grundvoraussetzung, um sich auf eine Bühne zu stellen. Geliebt habe ich diese Atmosphäre von „alles ist erlaubt“. Hauptsache, spannend. Nicht immer hörbar, aber das war egal. Und ich vermute, ich hätte mich ohne Punk vielleicht gar nicht getraut, den Schritt zu gehen, mich ernsthaft als Musikerin zu sehen und damit rauszugehen.
Der Musik Express hatte in dieser Zeit eine pointierte Beschreibung dieser neuen Szene, die auch auf euch ausgelegt wurde: „3-Akkord-Dilettanten, die Hippie-Spießertum, verkrustete politische Debatten und Jazzrockgesülze mit Spaß und politischer Provokation torpedierten“. Habt ihr euch da tatsächlich wiedergefunden, denn letztlich waren doch eher THE VELVET UNDERGROUND, TELEVISION, Psychedelic oder Sixties Beat eure Einflüsse?
Matthias: Ich wollte immer virtuose und vielschichtige Popmusik machen, habe es allerdings nie für nötig befunden, viel zu üben oder zu proben.
Katrin: Das Geilste war, dass wir gar nicht gemerkt haben, dass es Pop war. Aber ehrlich gesagt war es für mich nie ein Beweggrund, Musik zu machen, irgendwen zu torpedieren oder meine Einflüsse umzusetzen. Wir konnten miteinander jammen und es kam immer Musik dabei raus. Das hat gereicht.
Der britische NME hat euer Album „Insomnia“ von 1986 als „The best LP 4AD never had“ bezeichnet. Ihr wart die ersten Jahre bei Alfred Hilsbergs Label What’s So Funny About und später bei Normal Records. Wie war die Zusammenarbeit mit den Labels, speziell mit Alfred Hilsberg? Der hat ja wie auch Jan Delay und Rocko Schamoni Grußworte zu eurer Werkschau geschrieben.
Matthias: Alfred war eine Art Mentor und Chefkritiker für uns. Wir haben sehr viel Zeit mit ihm verbracht, nebenbei haben wir auch für sein Label gearbeitet, Kurierfahrten für ihn erledigt und ihn zu Konzerten im In- und Ausland gefahren.
Katrin: Ich saß sogar anderthalb Jahre in seinem Büro und habe Labelarbeit für What’s So Funny About gemacht. Vor allem war Alfred ein Freund für uns.
Ihr habt beide mit Tobias Gruben von CYAN REVUE und DIE ERDE beim Projekt HEROINA zusammengearbeitet, wo ihr Songs von Patti Smith, R.E.M oder THE STRANGLERS gecovert habt. Gruben war für mich einer der beeindruckendsten deutschen Musiker seiner Zeit, der mich oft mit seiner Sprache an Rio Reiser erinnert hat, aber leider am Heroinkonsum verstorben ist. Wie sind eure Erinnerungen an ihn? Matthias, du hast bei diesem Projekt mit ihm gemeinsam „Dancing barefoot“ von Patti Smith gesungen.
Matthias: Meine Erinnerungen an Tobias sind sehr schön und intensiv. Beim Einsingen von „Dancing barefoot“ haben wir uns gegenseitig an den Händen gehalten.
Katrin: Dazu möchte ich nichts sagen, aber „Dancing barefoot“ ist eine großartige Version geworden.
Katrin, ihr habt im Herbst 1985 in Berlin für die VELVET UNDERGROUND-Ikone Nico im Vorprogramm gespielt. Nico war, denke ich, ein Einfluss für dich. Hattest du die Möglichkeit, mit ihr zu sprechen? Letztlich habt ihre euer Ausnahmealbum „Nerves“ Nico gewidmet.
Katrin: Es war auf alle Fälle aufregend, mit Nico auf Tour zu sein, aber nein, sie war kein wichtiger Einfluss für mich. Wenn jemand ein wichtiger Einfluss für mich war, außer den Fellow Ladies aus meiner näheren Umgebung wie etwa Krischa Weber, Bernadette La Hengst, Sandra und Kerstin Grether, Andrea Rothaug, Marie-Laure Timmich, Onejiru und viele andere, war es Patti Smith. Dieses Jahr habe ich meiner Tochter mein Lifetime Role Model vorgestellt. Ich habe Patti mit 14 Jahren gehört und mich zu ihrem Song „Pissing in a river“ auf dem Boden gewälzt und Patti zeigt mir, wie es gehen kann, als alte Frau weiterzumachen, völlig unberührt von idiotischen Limiting Concepts über Frauen und alte Frauen insbesondere. Meine Tochter war ordnungsgemäß beeindruckt und hat im Übrigen unser Artwork angefertigt: It is all about Rock’n’Roll!
Du hast mit KATRIN ACHINGER & THE FLIGHT CREW ein eigenes Bandprojekt und zuletzt mit „Simple song“ ein Liebeslied veröffentlicht, das mich eben gerade an Patti Smith erinnert hat. Was sind hier deine Einflüsse und Inspirationen und geht es mit diesem Projekt weiter?
Katrin: Wir haben dieses Jahr drei Singles beziehungsweise EPs veröffentlicht, und zwar „Promise of love“, „Simple song“ und „Claim your right“. Letzterer ist mein Schlüsselsong, der alles enthält, was mir all die Jahre wichtig war, und es gibt ihn in fünf verschiedenen Versionen von Reggae bis Electro sowie als eine Art „Lagerfeuer“-Version. Seit „Icaré“, meinem ersten Soloalbum von 1993, heißen alle meine Bands FLIGHT CREW und die aktuelle Formation ist bereits die fünfte Zusammensetzung. Wir spielen in dieser Form seit 2018 zusammen und planen zur Zeit ein neues Album.
Auf der Werkschau sind auch zwei neue Songs in Gestalt von „Jahre“ und „Time“. Kann man das so auslegen, dass ihr nun wieder weitermacht als Band und ein komplett neues Album möglich ist?
Matthias: „Time“ und „Jahre“ sind für mich der Antrieb gewesen, jetzt unsere ganze Werkschau ein erstes Mal auch digital zu zeigen und darüber hinaus ein „Best Of“ als Vinyl und CD zu veröffentlichen. Diese neuen Songs enthalten alles, was KASTRIERTE PHILOSOPHEN ausgemacht hat und offenbar immer noch ausmacht. Sie sind sozusagen eine Art Essenz all der Dekaden. Es hätte auch schiefgehen können, heute noch einmal neue Songs als KASTRIERTE PHILOSOPHEN aufzunehmen. Katrins Text zu „Jahre“ hat mich schwer beeindruckt. Da kann man nicht einfach zur Tagesordnung übergehen.
Katrin: „The future is uncertain“, daher würde ich nichts ausschließen. Danke für die Blumen, Matthias.
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KASTRIERTE PHILOSOPHEN „Nerves“ (LP, Normal, 1988)
„Nerves“ ist das vierte Album der 1983 von Matthias Arfmann und Katrin Achinger gegründeten Band KASTRIERTE PHILOSOPHEN. Matthias Arfmanns charakteristische Gitarre und Katrin Achingers wunderbar dunkler und melancholischer, oft im Erzählstil dargebotener Gesang, der bisweilen an Patti Smith oder Marianne Faithfull erinnert, begründeten ihre Ausnahmestellung, nicht nur in der deutschen Musiklandschaft. Gemeinsam mit den 39 CLOCKS, die auch musikalische Inspiration für das Duo waren und in deren Vorprogramm sie spielten, hatten sie damals ein neo-psychedelisches Sechziger-Revival eingeläutet, um sich später mehr elektronischen Sounds mit Dub-Elementen zu widmen. Ihr Opus Magnum schufen die beiden 1988 mit dem Album „Nerves“, bei dem ebenfalls Folke Jensen (LEDERNACKEN) und Gitarrist Andy Giorbino (auch bei der Hamburger Formation GEISTERFAHRER dabei) mitwirkten. Andrew Eldritch von THE SISTERS OF MERCY steuerte zudem einen Remix des Songs „Toilet queen“ bei. Bei den Aufnahmen zu „Nerves“ stieg auch Schlagzeuger Rüdiger Klose mit ein, der bereits bei MYTHEN IN TÜTEN und 39 CLOCKS aktiv war. Album-Highlights wie „Peeping all“, „Toilet queen“ – bei diesen Songs kommt der oft spröde genannte, zerbrechliche Gesang von Katrin Achinger sehr gut zur Geltung – oder „Dragon flies (Over Cyrenaika)“ versprühen einen dunklen Charme, der ihnen Mitte der Sechziger Jahre vielleicht die Tür zu Andy Warhols Factory in New York geöffnet hätte. Zwei Jahre zuvor hatte der NME ihr Album „Insomnia“, das noch bei Alfred Hilsbergs Label What’s So Funny About erschien, als „The best LP 4AD never had“ bezeichnet. Die offizielle Vorstellung von „Nerves“ fand im Oktober 1988 im Berliner Metropol gemeinsam mit CLOCK DVA im Rahmen der Independent Days statt, das Album erreichte fünfstellige Verkaufszahlen und wurde an ausländische Labels lizensiert. 1988 spielte die Band auf dem Festival in Roskilde und erhielt mit 1.000 DM erstmals so etwas wie eine richtige Gage. KASTRIERTE PHILOSOPHEN spielten auch im Vorprogramm von Nico, der sie „Nerves“ widmeten, die aber etwa zwei Monate vor der Albumveröffentlichung verstarb. 1997 trennten sich die Wege von Matthias Arfmann und Katrin Achinger. Achinger veröffentlichte 2002 noch das Soloalbum „Jump“ und Arfmann tat sich neben zahlreichen musikalischen Projekten, beispielsweise mit TURTLE BAY COUNTRY CLUB im Bereich Dub, vor allem als Produzent von ABSOLUTE BEGINNER und BLUMFELD hervor.
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #166 Februar/März 2023 und Markus Kolodziej
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