KARL NAGEL

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Überleben im Zeitalter der totalen Verwurstung

Es gibt wohl niemanden, der die Punk-Bewegung im Deutschland der Achtziger und Neunziger Jahre so stark geprägt hat wie Karl Nagel. Das ist zunächst mal eine gewagte These, aber natürlich schwer zu widerlegen. Und wenn man sich die medialen Wellen der Chaostage von Hannover (1982/83 und 1994/95) anschaut, die Nagel maßgeblich initiiert hat, so gibt es wenig aus dieser Szene, das bis heute dermaßen nachhallt, abgesehen von Dingen wie Mode oder Musik. Vielmehr ging es dort um Politik, Spaß, Widerstand, Rebellion, (Anti-)Haltung oder je nach Lesart sinnlose Gewalt, stumpfen Vollsuff und einen perversen Auswuchs der Degeneration einer Generation. Genau diese Widersprüchlichkeiten hat Punk einige Jahre spannend, gefährlich und unberechenbar gemacht. Auch die APPD, die Anarchistische Pogo-Partei, war in ihren besten Jahren weit mehr als ein Klamaukhaufen. Bei all diesen Aktivitäten Karl Nagels war das Peinliche, Bescheuerte und letztendlich auch das Scheitern mit eingebaut. Ende 2018 veröffentlichte er den autobiografischen Roman „Schlund“.

Karl, erzähl mal, wie es zu deinem Buch kam.


Schon vor rund 25 Jahren habe ich mich an einem Buch versucht, und tatsächlich stammen einige Zeilen in „Schlund“ aus diesen ersten Gehversuchen. Eine weitere Folge meiner frühen Buchpläne war das Online-Punk-Fotoarchiv punkfoto.de. Ich wollte ja zu Beginn ein eher dokumentarisches Buch über die deutsche Punk-Geschichte schreiben, angereichert mit Autobiografischem, dazu Texte über Leute, die bei mir und anderen Spuren hinterlassen haben, und so fing ich an, dafür Fotos zu sammeln. Diese erste Buchidee zerschlug sich irgendwann, meine eher historische Herangehensweise machte nicht mal mich selbst an. Aber ich hatte nun massig Fotos, die konnte ich weiterverwerten, das waren bis dahin ungefähr 800 Bilder. Anfang der 2000er Jahre habe ich dann noch mal sehr persönliches, autobiografisches, teilweise auch zusammengelogenes Zeug auf meiner Website veröffentlicht. Das machte mehr Spaß. Nach 35 Kapiteln war Schluss, mit Erreichen des Jahres 1974 konnte ich das nicht mehr weiterverfolgen. Ich hätte zu vielen Leuten auf die Füße getreten, und ich wusste auch nicht, wie ich meine Erinnerungen umlügen sollte. Stattdessen habe ich einige Jahre später eine Handvoll dieser Geschichten auf der Bühne erzählt, erweitert durch Unverfängliches aus den Jahren 1975 bis 1984 und einem Stapel Songs und Videos. Das nannte ich dann „Idiotenklavier“.

Wie ging es weiter?

Anschließend wollte ich das Ganze endgültig in einem Buch zusammenfassen, aber ich bin wieder daran gescheitert: Was konnte ich erzählen, in Sachen Drogen, Sex und Gewalt? Das betraf ja nicht nur mich selbst, sondern andere ebenso. Was also durfte ich über Leute auf den Tisch packen, von denen viele mittlerweile ein halbwegs bürgerliches Leben führen? Das ist aus juristischen, aber auch aus persönlichen Gründen schwierig. Da reichen nicht unbedingt simple Namensänderungen. Und wie weit konnte ich selbst die Hosen runterlassen? Ich habe ja eine Tochter, und da stellte sich schon die Frage, ob ich in meinem angedachten Buch gewisse exhibitionistische und suizidale Tendenzen ausleben durfte. Hinzu kam, dass zu diesem Zeitpunkt einiges ziemlich unkontrolliert und unsortiert in meinem Kopf herumpurzelte, weil ich mehr und mehr im tiefsten Internet-Sumpf absoff. Der ständige Junk verschaffte mir übelste Konzentrationsprobleme, ich kam mit dem Buch keinen Millimeter voran. Wenn ich mal wieder mit meinem Latein am Ende war, flüchtete ich ins Netz, Facebook rauf und runter, Nachrichten-Websites und was es sonst noch an Scheiße im Web gibt. Vor einem Jahr ist dann endlich der Knoten geplatzt, dank härtester drakonischer Maßnahmen – etwa, indem ich mich zeitweise aus dem Internet ausgesperrt habe und auch nicht so leicht wieder hineinkam.

Wie kam die Zusammenarbeit mit deinem Verlag Hirnkost zustande?

Klaus Farin, damals noch beim Archiv der Jugendkulturen, ist bereits 1996 auf mich zugekommen. Der wollte die beiden Ausgaben des Zap-Fanzines, die Moses und ich zu den Chaostagen und über Streetpunk gemacht haben, in einer ausführlicheren Version als Buch veröffentlichen. Seit damals hielt sich der Kontakt, und immer, wenn wir uns trafen, fragte er mich: Was ist denn mit deinem Buch? Damit er mich in Ruhe lässt, habe ich ihm versprochen: Wenn ich jemals ein Buch schreibe, mache ich das bei dir! Das war der Deal, und im Laufe der Zeit wurde ein Running-Gag daraus: Ja, ja, mein Buch kommt irgendwann, und das machen wir dann zusammen! Aber keiner von uns hat wohl noch daran geglaubt, dass aus dem Buch je was wird. Als es dann doch irgendwann soweit war, habe ich Klaus angerufen und ihm gesagt: So, jetzt gehe ich in die Zielgerade. Machst du das? Und er meinte: Klar, kein Ding! Das Gute bei ihm war, dass ich wirklich null inhaltliche Beeinflussung hatte, keine Zensur, nichts dergleichen. Ich bin mir sicher, dass einige Passagen im Buch bei anderen Verlagen nicht durchgelaufen wären. Mein Provokationslevel hätte denen wohl nicht gefallen, oder Bezeichnungen, die nicht gerade p.c. sind.

Du beschreibst in deinem Buch ja einen Medienjunkie, der dir in weiten Teilen entspricht. Wie hat sich der exzessive Medienkonsum bei dir geäußert?

Morgens als Erstes der Griff zum Handy: Facebook, Spiegel-Online, die volle Palette. Dann scheißen, Computer an und das Ganze von vorne. Dazu bei YouTube Metzelvideos aus Syrien oder was auch immer, und dann beginnt das große Nachdenken. Dauert aber nicht lange, denn ganz fix wird einem von irgendwo ein neues Thema vorgelegt, das die Birne beschäftigt. Und so springt man von einem Gedanken zum anderen. Und wenn’s nicht gelingt, auf die Bremse zu treten, steigt die Drehgeschwindigkeit im Kopf unaufhörlich. Die Zeit vergeht wie im Flug, du junkst dich von einer Scheiße zur nächsten, verschiebst das, was du tun wolltest, auf später, bis dann schließlich gar nichts mehr geht. Wenn es mir dann zu viel wurde, musste ich mich für eine Stunde aufs Sofa legen, schlafen, versuchen, das Tempo wieder runterzufahren. Danach ging es aber meist auf die gleiche Weise weiter, bis der Tag kaputt war. Am nächsten Morgen das Ganze von vorn. Mal ein Buch zwischendurch lesen? Ging nicht, nach fünf Minuten musste ich wieder aufs Handy schauen. Konnte ja sein, dass irgendwo auf der Welt was passiert war oder neue Nachrichten angekommen waren. An manchen Tagen lag ich nur da, völlig passiv, hatte das Gefühl, in Tweets zu denken. So ruck-ruck-ruck, einzelne kurze Gedanken, die sich in Schüben vorm inneren Auge bewegten. Schon lustig, was im Kopf für Dinge passieren können, wenn man nur feste genug drauf einschlägt, total schräg. Ich hatte bereits 2012 über meine Mediensucht geschrieben, in meinem Blog. Einfach, um das mal loszuwerden. Klappte aber nur kurzfristig, die Scheiße holte mich immer wieder ein. Mittlerweile habe ich es halbwegs im Griff, so wie ein gewöhnlicher Süchtiger, der meistens clean ist und dennoch geil auf den Kick ist. Ohne Rückfälle geht es also nicht. Ein Alkoholiker wird auch immer ein Alkoholiker bleiben, der kann nur versuchen, seine Sucht mit Tricks oder autosuggestiven Kniffen unter Kontrolle zu halten. Das ist bei mir ähnlich. Als ich in meinem Blog darüber schrieb, stieß ich auf superviele Leute, denen es ähnlich erging. Da wusste ich schon mal: Mein Junk von heute interessiert mich viel mehr, als irgendwelche alten Geschichten aufzubereiten.

Du hast dann beides miteinander verbunden.

Genau. Wenn ich über die Gegenwart schrieb, kam ich auch nicht umhin, auch von früheren Sackgassen zu erzählen – und wie ich sie damals überwunden habe. Zum Beispiel durch Punk. Da lag der Gedanke nahe, sich mit bewährten Punk-Methoden die Freiheit zurückzuerkämpfen. Aber diese Methoden funktionieren heute für mich nicht mehr. Keine Ahnung, wie ich mit 58 wieder auf der Straße mit irgendwelchen Leuten abhängen soll, um dabei die Sau rauszulassen. Klar, ich kann mich zu irgendwelchen schon ziemlich zerlegten Bauwagen-Punks an den Spritzenplatz setzen. Mache ich auch manchmal. Die Leute da sind ganz nett, sitzen da rum, trinken ihr Bier. Und das war’s. Da ist keine Energie, so was wie: Was machen wir heute mit dem Tag? Also gehe ich wieder nach Hause und starre an die Wand. Frage mich: Wie geht’s jetzt weiter, was machst du nicht nur mit dem Tag, sondern mit dem Rest deines Lebens? Trauere verpassten Chancen hinterher, dazu ein Schuss Selbstmitleid, der ganze Scheiß, der sich so im Kopf türmt. Diese komplette Palette gestern/heute, was ging damals, was heute, was brennt denn noch in mir, das alles wollte ich irgendwie im Buch verwursten. Mein Leben. Was schließlich zu einem Overkill an Themen im Buch geführt hat, das weiß ich selbst. Aber es ging anscheinend nicht anders. Mein Leben ist eben ein Overkill.

In den Sachen, die du über all die Jahre gemacht hast, geht es oft um Spielarten der Apokalypse, um den großen Crash. Glaubst du an die Apokalypse oder ist das lediglich ein Stilmittel, etwas, das dich fasziniert? Bewegen wir uns auf eine Apokalypse zu oder sind wir mittendrin?

Die Vorstellung, dass alles kaputtgeht, die Faszination, wenn es rummst und bummst, da fuhr ich schon als Kind drauf ab. Ist aber nichts Außergewöhnliches, wir mochten ja alle Godzilla-Filme, in denen ganze Städte in Schutt und Asche gelegt wurden – oder verbrannt vom Feuerstrahl der Monster. Und später dann Punk hatte ja sowieso dieses Apokalyptische. Denk nur an die Hannoveraner Chaostage und die Parolen, die es da gab! Was aber die aktuelle Situation angeht: Ich glaube nicht an das große „Bumm!“, und anschließend bricht alles zusammen, die Monster-Apokalypse eben. Ich erwarte eher eine Art „Salami-Crash“: Hier passiert was, dort gibt’s ein Problemchen, und im Laufe der Zeit summiert sich das und immer mehr Leute fallen den Rand hinunter. Jedes Jahr einige Schritte tiefer hinein in die Scheiße. Bis eines Tages eine Elite bei Schnittchen und guter Musik in abgesicherten Häusern oder Bunkern sitzt und draußen die Asi-Zombies dagegen anrennen. So wie in einigen Gegenden Südamerikas oder Afrikas jetzt schon. Bis es hier soweit ist, wird es aber noch eine Weile dauern. Es fällt aber schon auf, dass die Menschen bei uns nicht mehr auf die Straße gehen, um sich dagegen zu wehren. In den Achtzigern gab’s Riesendemos gegen Atomkraft, Nato, Umweltkram oder meinetwegen auch die Chaostage in den Achtzigern und Neunzigern und so weiter. Das gibt es ja alles nicht mehr. Außer den Arschgeigen – die bekommen in Form von PEGIDA und Konsorten noch eine Mobilisierung hin.

Warum ist das deiner Meinung nach so? Wird durch’s Netz viel gepuffert?

Zu Chaostagen würde schon deshalb heute kaum jemand kommen, weil an jedem Sommerwochenende irgendwo ein „obergeiles“ Festival ist, wo sich die Leute in einem geschützten Raum sinnlos besaufen und Spaß haben können. Da fährt doch keiner mehr nach Hannover, um sich dort die Birne einschlagen zu lassen, wofür denn? Na, vielleicht ein paar, aber damit erzeugt man ja kein Chaos, das kann man komplett vergessen. Und dann gibt es noch so etwas wie ein „historisch-politisches Gedächtnis“. Den ganzen Wirbel, den frühere Generationen veranstaltet haben und der sich zudem meist als erfolglos erwiesen hat, das alles wollen darauffolgende Generationen nicht unbedingt wiederholen. Und Chaostage, die sind eben ein Kampf, den man zum Schluss verliert. Das ist auf die Dauer nicht sehr attraktiv, das will doch kaum einer bis in alle Ewigkeit nachspielen. Abgesehen davon sollte man derartige Dinge nicht immer nur durch die Polit-Brille betrachten. Als wenn in den Achtzigern oder Neunzigern die Leute vor sich hingemurmelt hätten: Hm, die Welt entwickelt sich scheiße! Ich muss was machen! Muss Leute treffen, die so denken wie ich, auf der Straße! Und dann greifen wir die irre Welt an! Nee, so lief es damals nicht, ebenso wenig wie heute.

Wie lief das denn dann bei euch ab damals?

In Wahrheit war es bei uns eher so: Du bist eine arme Sau, sitzt zu Hause, weißt nicht, wohin mit dir, hast Angst vorm Ficken und gleichzeitig Bock darauf, dazu die Schrecken, die das Berufsleben für dich bereithält, oder dass du den Ansprüchen, die auf dich einstürmen, nicht genügen kannst. Obendrauf der Stress mit deinen Eltern. Und dann landete man eben beim Punk oder auch auf Demos. Hauptsache, es knallte. Diese eher naiven und zunächst meist unreflektierten Ausbrüche werden heutzutage durch Computer und Internet recht gut abgefedert. Du kannst dich von früh bis spät mit Facebook, Spielen und YouTube beschäftigen. Die Betten sind gemacht, man muss sich nur noch reinlegen und sich gelegentlich den Arsch abwischen lassen. Selbst wenn man sonst nichts hat, ein Smartphone haben sie alle. Oder sogar ’nen Computer. Und PEGIDA und Konsorten gelingt es tatsächlich, die Leute aus ihren Betten abzuholen. Leute, die zwar in ihrer virtuellen Blase leben, aber irgendwo darin verfolgen, wie Milliarden Flüchtlinge über die Grenze strömen und hier alles durcheinanderbringen. Weshalb nicht wenige echte Angst kriegen, die zudem keineswegs zu 100% unbegründet ist. Und so wie unsereiner früher bei den Chaostagen suchen und finden viele heute ihre Ventile, um Dampf abzulassen. Nur gefallen uns deren Präferenzen und Lösungen nicht. Der politischen Rechten gelingt es momentan besser, die Gestörten aus der Welt abzuholen, in der sie leben. Und viele Linke haben nichts Besseres zu tun, als diese Leute einfach abzuschreiben. Nach dem Motto: Die sind scheiße, die sind Nazis, weg mit denen! Dabei würden die meisten auch zu braven Bürgern taugen, genauso wie die meisten Punks von damals.

Kommen wir noch mal zu deinem Buch: Da ist ja vieles autobiografisch. Wie war das für dich, dich mit deinem früheren Selbst noch mal auseinanderzusetzen und das aufzuschreiben?

Unterm Strich eher langweilig, eine Pflichtübung. Wenn ich nach 25 Jahren zum x-ten Mal das Abkacken meines Vaters beschreibe, dann berührt mich das nicht mehr. Ist weggelutscht und vorbei, da will ich niemandem große Tränenfluten vormachen. Die Geschichten, die mir wirklich unter die Haut gehen, spielen in der Gegenwart und in einer drohenden Zukunft. Wenn ich über die Vergangenheit schreibe, kann ich oft nicht anders als lachen, so bizarr erscheint mir vieles heute. Was nicht heißt, dass ich über den aktuellen Irrsinn nicht lachen kann.

Du bist selbst Vater. Hat sich etwas in deinem politischen Verständnis oder deine Grundhaltung mit der Geburt deiner Tochter geändert? Ich finde, dass man sich dann nicht mehr mit Zynismus, Ironie und Übertreibung herauswinden kann, wenn man Kinder hat. Da man dann doch Farbe bekennen und klar machen muss, wofür man steht und wofür nicht.

Ich war eigentlich nie ein Zyniker, deswegen musste ich da wenig ändern. Ich habe sicher Sachen gemacht, die bösartiger Natur waren, aber im Herzen war ich nie Zyniker. Ich habe immer gelacht über den Scheiß, der sich um mich herum abgespielt hat, und zwar sehr befreit. Wie ein kleiner Naivling, der durch die Gegend stolpert, diese und jene Knöpfe drückt und guckt, was passiert. Sich tierisch darüber freut, wenn es irgendwo rappelt im Karton. Ich will aber weder Blut sehen noch will ich es irgendjemanden „heimzahlen“. Also musste ich auch nach der Geburt meiner Tochter mein Verhalten nicht ändern. Klar, wenn dein Kind wissen will, wer der brüllende Mann da im Fernseher ist, der mit Bärtchen und Seitenscheitel, ob das ein Guter oder ein Böser ist, dann sage ich schon „Das ist ein Böser!“, auch wenn das zu platt ist. Aber meine Aktivitäten sind immer auf der gleichen Spur geblieben. In ganz persönlichen Dingen blieb das Vatersein jedoch nicht ohne Folgen. Wenn du etwa unvermittelt den Eindruck bekommst, dein eigenes ich von vor vierzig Jahren im Arm zu halten, dann kommt man schon ins Grübeln.

Im Buch beschreibst du auch deine Kindheit mit deinem Vater, der alkoholkrank war. Später bist du in einer Szene gelandet, wo Alkohol ein großes Thema war. Im Punk und auch in den Slogans der APPD war das doch ein großes Ding, während du immer Abstinenzler warst.

Es ist ja bekannt, dass Kinder von Alkoholikern oft selbst Alkoholiker werden – oder Abstinenzler. Ein „normales“ Verhältnis zu Alkohol gibt es da selten. Mein erster Musikheld war Alice Cooper, der bekanntlich gesoffen hat wie ein Loch. Da musste ich mir ein paar Gedanken drüber machen. Und ich habe irgendwann verstanden, dass Alkohol überall ist, und wenn ich Bier, Schnaps und Co. aus dem Weg gehen will, dann kann ich mich auch gleich zu Hause einschließen. Ich habe also sehr früh akzeptiert, dass der Suff ein Teil des Lebens ist, auch wenn ich selbst dazu ein traumatisches Verhältnis habe. Du kannst akzeptieren, dass es Birken gibt, aber trotzdem dagegen allergisch sein. Ich habe deshalb nie ein Problem damit gehabt, wenn andere Leute Alkohol getrunken oder auch gesoffen haben. Wenn es unerträglich wurde, weil sie nur noch Mist geredet haben, bin ich eben gegangen. Deshalb war ich auch nie der Partykönig. Irgendwann habe ich gelernt, meine eigenen Sperren und Hemmungen zu lösen, ganz ohne Mittelchen. Es macht ja Spaß, sich wie ein Idiot zu benehmen, das wollte ich auch. Allerdings kann ich nie sagen: Tut mir leid, ich war ja besoffen. Mir wird jedes Wort und jeder Mist, den ich gesagt oder gemacht habe, auch nach zwanzig Jahren noch nachgetragen. Das ist etwas anstrengend, aber letzten Endes habe ich damit kein Problem.

War Saufen von Anfang an ein Thema in der Punkszene?

Als ich 1981 mit Punk angefangen habe, hat mich kaum jemand dafür angeschissen, dass ich nicht mitsaufe. Damals gab es nämlich noch keinen Saufkult in der Punk-Szene. Viele Punks haben eben gesoffen, Punkt. Diese ganze Karnevals- und „Hurra, wir saufen!“-Scheiße ist ja erst später entstanden. Stattdessen waren die Leute sehr verschieden, ein wirrer Haufen, der sich kaum einigen konnte, in welche Richtung es gehen sollte. Genau dieses Nicht-Funktionieren wollte ich! Eine Band wie COTZBROCKEN war ja nicht wegen ihrer Musik geil, sondern weil man wusste, diese Musik wird von unfähigen Typen gemacht, und sie wird niemals im Radio laufen. Niemals! Also höchstens mal im Rahmen einer Dokumentation. Aber nicht als Dudelkram, der einfach so durchtuckert. Damals lief ja auch schon der ganze NDW-Scheiß im Radio, und viele dieser Musiker hatten Punk-Roots. Deswegen fand ich Bands umso geiler, je grober und unfähiger sie rüberkamen. Mit denen waren keine Millionen zu machen, selbst wenn sie gewollt hätten. Wo außer im Punk wäre das möglich gewesen? Nirgendwo! Welche Szene hätte mir das geboten, diese Verherrlichung des Nicht-Funktionierens? Punk war eine einzige Ansammlung von Gestörten, Unfähigen und nicht funktionierenden Leuten, von denen viele kaputt waren oder sich in irgendeiner Form selbst zerlegt haben. Im Punk war für mich immer und automatisch die Granate mit eingebaut. Langwährende Karrieren konnte man darauf nicht aufbauen.

Es gibt aber Leute, die haben dann doch eine Art „Karriere“ gemacht: ein Mailorder, der immer größer wurde, eine Band oder was auch immer. Schaust du da manchmal etwas neidisch zu diesen Leuten rüber?

Na klar, ich bin auch bestechlich, so wie jeder. Und jetzt 58 Jahre alt, ohne Aussicht auf Rente, habe kaum was zurückgelegt und kann auch nicht von früheren Ruhmestaten profitieren. Da ist nichts. Nur ständige Selbstdemontage. Bevor irgendwas in Heldenverehrung oder ähnlichen Scheiß abgleiten konnte, habe ich den Kurs geändert und was anderes gemacht. In den Achtzigern etwa arbeitete ich bei Frontline – ein Punk/Hardcore-Mailorder, der später mit Streetwear-Klamotten groß wurde – und habe mich vorher prompt mit denen verkracht. Den Band- und Musikzirkus hatte ich irgendwann auch über. Durch die Gegend gurken, sich bei Labels und Medien einschleimen, einen Vertrag kriegen, die ganze Scheiße. Ich dachte: Da geh ich lieber arbeiten, da gibt’s mehr Geld und ich muss mich nicht zum Affen machen und Dinge kaputtwichsen, die ich eigentlich liebe. Auf Chaostage ließ sich natürlich auch nichts aufbauen, da ging’s ja schließlich ums Kaputtmachen. Die APPD dagegen hätte der Start in eine hübsche Satirikerkarriere sein können, also habe ich mich 1999 gleich wieder davon verabschiedet. Dann habe ich Comics produziert, bis zum Untergang, zur Pleite, auch gesundheitlich. Ab 2007 doch noch mal Musik, diesmal mit KEIN HASS DA. Eine Sache, die kommerziell keine Chance hatte, die ich aber machen musste, weil ich total Bock drauf hatte. Nicht zu vergessen die Geschichte, als ich bald nach der Jahrtausendwende verbreitete, ich würde mir ernsthaft überlegen, nach rechts überzulaufen. Tja ... Manche Leute glauben eben jeden Scheiß. Mir macht es anscheinend Spaß, zu zerstören, was ich mir zuvor aufgebaut habe, um dann wieder etwas anderes zu versuchen. Das ist anscheinend in mir drin. Keine Ahnung, wie es jetzt weitergeht. Gut, jetzt eben Schreiben, vollbrett, den gutbezahlten Job geschmissen, dafür Hartz IV. Mal sehen, was daraus wird. Auf keinen Fall aber tauge ich zum Punk-Beamten, der es sich in seiner Vergangenheit bequem macht und ewig so weiterjuckelt wie immer. Das kriege ich irgendwie nicht hin, selbst wenn ich wollte.

Viele haben ja auch Karriere damit machen können, dass Punk sich vom Rand zum Zentrum verschoben hat. Als es zuletzt in Chemnitz rechtsextreme Ausschreitungen gab, entstand diese „Wir sind mehr“-Bewegung, und die beiden Headliner waren DIE TOTEN HOSEN und FEINE SAHNE FISCHFILET. Und der Bundespräsident hat’s empfohlen.

Mit anderen Worten: Es gibt zur Zeit nichts Staatstragenderes als DIE TOTEN HOSEN und FEINE SAHNE FISCHFILET. Die repräsentieren nun die „guten Deutschen“. Es ist doch verrückt, dass so eine Gegen- und Randbewegung in den letzten vierzig Jahren offensichtlich ins Zentrum gerückt ist und dort als Manifest der westlichen Demokratie fungiert. Und Campino steht beim „Echo“ gegen Kollegah auf und macht den Elder Statesman des Punk, sinniert über Moral und darüber, was man tun darf und was nicht. Die Hosen und FSF treten auf als Vorkämpfer von Kultur und Zivilisation gegen die Barbarei. Davon halte ich mich lieber fern. In meinem Buch schreibe ich ja einiges über diese Themen. Dass viele Punks anscheinend nun zu den Guten gehören wollen. Dass es da keinen Zweifel dran geben darf, dass sie auf der richtigen Seite der Geschichte stehen. Eine Haltung, die wir in den Achtzigern nicht hatten. Der Zweifel und die Spielerei mit allem waren uns meist wichtiger. Viele Punks von heute sind hingegen so edel, die wollen zwar nicht unbedingt deutschen Rentnern über die Straße helfen, aber zumindest Flüchtlingen. Damit kann ich nichts anfangen. Ich habe vor ein paar Wochen bei Facebook mal ein paar Gedanken zu „Wir sind mehr“ gepostet – dass so eine Nummer früher im Punk nicht möglich gewesen wäre. Wir haben lieber am Rand gestanden und peinlichst darauf geachtet, nicht zur Masse zu gehören, weil die per se immer Unrecht hat – egal wogegen oder wofür sie gerade eintritt. Deshalb ist eine Parole wie „Wir sind mehr!“ scheiße. Damit kannst du dich noch nicht mal als Schwuler auf die Straße trauen, denn als Homo bist du nicht „mehr“, sondern „weniger“. Die Reaktionen bei Facebook waren interessant – 120 Kommentare in zwei Tagen! Da habe ich verbal ordentlich auf die Fresse bekommen. Ich sei undemokratisch, hieß es, ich mache mich lustig über die Leute, die gegen Nazis kämpfen, und so weiter. Das ist für mich völlig okay. Diese merkwürdige Heroenpose, die viele in ihrem „Kampf gegen Nazis“ einnehmen, so à la „Die Nazis mit allen Mitteln bekämpfen“, die schmeckt mir einfach nicht. Wenn du denen mal vor den Koffer scheißt, dann werfen sie dir vor, du seist auf der Seite der Nazis. Na gut, egal. Wenn sich ein Mob zusammenrottet, um irgendwem die Fresse zu polieren, dann bin ich erst mal dagegen. Aber ich weiß natürlich auch, dass man sich mit so einer Haltung, gerade aktuell, nicht sonderlich beliebt macht. Aber Beliebtheit war nie wirklich mein Hobby.

Aber das ist natürlich doch ein Dilemma, in dem man sich befindet, wenn man Menschen findet, mit denen man einen kleinsten gemeinsamen Nenner hat, nämlich dass die rechten Arschlöcher nicht größer werden sollen. Beteiligt man sich dann doch an einem „Wir sind mehr“, um denen erst mal Paroli zu bieten? Oder macht man das nicht, weil so ein „Wir sind mehr“ ja auch etwas Faschistoides hat?

Das ist ein Dilemma, klar! Und auch nicht auflösbar. Deswegen habe ich für mich selbst festgestellt, dass ich politikunfähig bin. Ich akzeptiere, wenn Leute Mehrheiten suchen, ich sage ja nicht, das sind deshalb Arschlöcher. So einfach ist es nicht. Ich fühle mich aber unwohl, mich an derartigen Prozessen zu beteiligen. Ich kann nicht mit 10.000 Leuten auf die Straße gehen und brüllen: „Wir sind mehr!“ Und: „Ihr seid nur ganz wenige, ihr Scheiß-Nazis!“ Irgendwo ist da der Wurm drin, da will ich nicht mitmachen. Aber ich kann bei kaum einer Demo noch mitlaufen. Es geht einfach nicht mehr. Ich kriege mittlerweile das Kotzen, wenn ich inmitten von solchen Massen stehe, die jegliche Grautöne mit billigen Parolen plattmachen. Leben ist grundsätzlich widersprüchlich und nicht in ein paar billigen Erkenntnissen aufzulösen. Es gehört anscheinend dazu, dass du Dinge gleichzeitig lieben und hassen kannst. Das ist übrigens ein Satz, den mir ein Rechter mal vor Jahren eingeschärft hat. Deshalb ist er wahrscheinlich falsch, die sind ja alle dumm, richtig? So eine Punk-im-Geiste-Bewegung muss ja eigentlich von neuen Leuten, von jungen Leuten kommen. Und sie wird sicher nicht im Punk entstehen, denke ich, die wird irgendwo anders aus dem Ei kriechen. Punk ist ja komplett durchritualisiert und ein Auslaufmodell, das jetzt noch so hochgehalten wird wie in unserer Jugend der Jazz oder so etwas. Der war ja in seinen Anfängen sicher auch wild und gefährlich, aber als wir jung waren, roch das nur noch nach alten Männern und Urin. Und das tut Punk heute eigentlich auch.

Siehst du heute Bewegungen, die lebendiger sind, die mehr sind, als Schwarz/Weiß?

Nein. Und bezogen auf die aktuelle Situation ist mir Punk scheißegal. Ist eben eine Sache, die mich beeinflusst hat, und das war gut so. Abgehakt. Ich spiele nur noch damit, weil’s ein Teil meiner Geschichte ist. Aber auf der anderen Seite: Gäbe es jetzt irgendwo etwas ganz Frisches und berauschend Neues, dann käme das eher klein und unauffällig daher, denn nur so kann es überleben im Zeitalter der totalen Verwurstung. Wie soll ich das entdecken? Irgendwelche Sechzigjährigen haben auch 1980 nicht gepeilt, was Punk ist. Die dachten: Das sind irgendwelche komischen Typen mit bunten Haaren, die viel saufen und die Fresse aufreißen. Wenn du keine Ahnung hast, dann läuft so was komplett an dir vorbei. Schon Mitte der Achtziger haben viele ältere Punks ja gesagt: Ja, früher war Punk noch geil! Aber heute gibt’s nur noch Penner mit bunten Haaren! In der Innenstadt sah man schon damals natürlich nur die Leute, die am Ende waren. Diejenigen, die agil waren und etwas unternahmen, die liefen dir da nicht über den Weg, auch nicht als Altpunk inmitten deiner Plattensammlung. Und so sind die alten Säcke heute wie damals der Meinung, dass in ihrer Zeit noch so richtig was los war, aber jetzt alles abkackt. Das ist schon seit ein paar tausend Jahren so. Das Einzige, das ich selbst in so einer Situation tun kann, und dazu trägt das Buch vielleicht bei, ist diese Geisteshaltung, diesen Wunsch nach Freiheit, Unberechenbarkeit und Lebendigkeit ein bisschen hochzuhalten. Ganz egal, ob jemand auf deiner Seite steht oder nicht. Akzeptieren, dass Menschen sehr, sehr unterschiedlich sein können. Die Punk-Szene Anfang der Achtziger war ja extrem heterogen.

Wie meinst du das?

Da waren auch Leute dabei, die zum Beispiel rechte Sprüche geklopft haben, oder sie haben die RAF abgefeiert, vielleicht auch ’ne morbide, menschenfeindliche Nummer abgezogen, aber das war kein Problem, weil sie nicht als politisch agierende Gruppe aufgetreten sind, sondern als Individuen. Sie waren eben Teil einer Szene mit verschiedenartigsten Meinungen, Neurosen und Traumata. Ob da einer mal sagt „Juden raus!“, das kratzte doch keinen. Das war dann einfach ein Teil der ganzen Scheiße, des Drecks. Das war Punk, so dachten wir. Es ging nur darum, dass wir es draufhatten, uns als gestörte und verdorbene Jugend gegenseitig auszuhalten und zusammen was zu machen, weil wir gemeinsam am Rand standen. Ohne Putzfimmel. Das war für mich der Kern von Punk. Doch diesen Punk gibt’s heute nur noch selten. Der Putzfimmel hat gewonnen: Lasst uns alle wegsäubern, die nicht zu uns gehören! Aber vielleicht gibt’s ja doch noch irgendwo Leute oder Gruppen, die dieses eher freiheitliche Konzept leben können. Oder eben nicht. Dann soll es eben nicht sein. Dann wird saubergemacht bis zum letzten Putzlappen.

 


– TIMELINE –

1960


Karl Nagel – bei Wikipedia als „Politiker und Künstler“ geführt – wird als Peter Altenburg in Wuppertal geboren.

1977

Als Herausgeber veröffentlicht Nagel selbstgemachte Sci-Fi-Fanzines und politisiert als Kommunist.

1982-1988

Herausgeber des Hackfleisch-Fanzines.

1983

Der Aufbau der APPD („Anarchistische Pogo Partei Deutschland“) findet statt. Karl Nagel wird zum Spitzenkandidaten der Partei.

1984

Ab 1984 singt Karl Nagel für die Bands ALTE KAMERADEN, PREUSSENS GLORIA und MORBID OUTBURST.

1988

Karl Nagel wird zum Frontmann der Band MILITANT MOTHERS.

1994/1995

Revival der Chaostage in Hannover mit jeweils über 2.000 Teilnehmenden und ca. 3.500 Polizisten.

1996

Der Film „Krieg der Welten – Chaostage Hannover 1995“ wird produziert und die APPD wiederbelebt.

1998

Karl Nagel tritt für die APPD-Partei als Kanzlerkandidat bei der Bundestagswahl 1998 an.

2001

Karl Nagel trifft sich mit dem Neonazi Christian Worch, es folgen Kontroversen und der „politische Selbstmord“ Nagels.

2005

Karl Nagel gründet den Comic-Verlag „Aligator Farm“.

2007

Nagel gründet punkfoto.de – das weltweit größte Archiv historischer Punkfotos mit etwa 30.000 Bildern.

2008

Karl Nagel singt nun für KEIN HASS DA, die deutschsprachige Interpretationen von BAD BRAINS-Songs spielen.

2009

Ermittlungen des Verfassungsschutzes wegen des Comics „Die! Oder wir“.

2010

Karl Nagel tourt mit der biografischen Live-Performance „Idiotenklavier“ mit Bildern, Texten und Musik.

2018

Der autobiografische Roman „Schlund“ wird veröffentlicht sowie der Ergänzungsband „Reflux“ und die Cover-LP „Hymnen aus dem Schlund“.