Der Meister ist zurück: Pünktlich zur US-Präsidentenwahl hat Jello Biafra zusammen mit den MELVINS ein komplettes neues Album aufgenommen, welches das Zeug dazu hat, an die legendäre „Last Scream Of The Missing Neighbors“-Scheibe zusammen mit D.O.A. anzuknüpfen. Die MELVINS spielen Punkrock, darüber Jellos einzigartiger Gesang – wer braucht da bitteschön die „Fake Kennedys“, die es zudem in drei Jahren nicht zu einem einzigen neuen Song gebracht haben? Eben! „Never Breathe What You Can‘t See“ heißt das spontan begeisternde Album, anlässlich dessen ich es mir nicht nehmen ließ, mit Biafra mal wieder ein Interview zu führen.
Hello, lass uns so tun, als sei heute der 8. November. Die Präsidentenwahl ist eine Woche her, und Bush ist wieder gewählt worden. Wie konnte das passieren?
„Wie beim letzten Mal gab es in Florida einen Betrug mit den elektronischen Wahlmaschinen und bei der Auszählung der darüber abgegebenen Stimmen. Diesmal haben 30% der Amerikaner an solchen Maschinen ihre Stimme abgegeben – und das Problem ist, dass die Herstellerfirmen dieser Geräte sehr loyal gegenüber George Bush und seiner Partei sind. Und bereits in der Vergangenheit hat sich erwiesen, dass es bei Wahlen mit diesen Maschinen zu seltsamen Vorfällen kommt. Zum Beispiel bei den Gouverneurswahlen 2002: Der einzige Grund, weshalb Jeb Bush, der Bruder von George W., dort noch Gouverneur ist, dürfte bei den manipulierten Wahlmaschinen zu suchen sein. Die lassen sich manipulieren, hacken, und wer sich damit auskennt, kann auch 500 mal wählen. Oder in Georgia, wo demokratische Kandidaten, die in Umfragen 16 oder 18% Vorsprung hatten, plötzlich deutlich verloren – und immer waren in solchen Fällen Republikaner die Nutznießer. Oder Nebraska, 1996: Da wurde ein rechter Republikaner in den Senat gewählt, der sogar in schwarzen Stimmbezirken die Mehrheit bekam, wo noch nie für einen Republikaner gestimmt wurde. Die Leute waren geschockt! Die Lösung war um so einfacher: Es wurde elektronisch abgestimmt, und diesem Typen, Hagel heißt er, gehört die Firma, die die Wahlautomaten herstellt ... Oder Florida, 2000: Da hat Al Gore in einem Bezirk minus 16.000 Stimmen bekommen. Ganz zu schweigen davon, dass systematisch Afro-Amerikaner aus den Wählerverzeichnissen gestrichen wurden, meist mit der Begründung, sie seien vorbestraft und hätten deshalb kein Wahlrecht. Greg Palast, ein Journalist, von dem wir auf A.T. auch Spoken Word-CDs veröffentlicht haben, hat da sehr viel recherchiert, und der stieß auf Wähler, die im Jahr 2000 für eine Straftat im Jahr 2004 vorbestraft worden waren – seltsam, oder? Und man muss auch erwähnen, dass Al Gore über solches Vorgehen informiert war, aber nie protestiert hat. Und wenn du dich an Michael Moores Film ‚Fahrenheit 9/11‘ erinnerst, so ist die schockierendste Szene für mich, als die Bilder aus dem US-Senat gezeigt werden, als über den Wahlbetrug in Florida debattiert wurde. Da kamen also die schwarzen Kongressabgeordneten, die über den Wahlbetrug in Florida reden sollten – es aber nicht taten! Auch nicht Al Gore, der damals noch Vizepräsident war! Und Kerry hatte dazu übrigens auch nichts zu sagen.”
Da wundert einen nichts mehr ...
„Nein, und ich bin mir sicher: Sobald Bush das nächste Mal in ernsthaften Schwierigkeiten steckt, wird auch Ossama Bin-Laden wieder auftauchen. Als ob die nicht genau wüssten, wo der steckt. Der ‚Guardian‘ aus England hat im August 2003 berichtet, dass der pakistanische Dikator Musharraf und Bush einen Deal geschlossen hätten, Bin-Laden weder zu finden noch zu töten – weil das auch das Ende der Herrschaft von Musharraf wäre, mit der Perspektive, dass stattdessen fundamentalistische Irre wie die Taliban an die Macht kämen. Ich bin überzeugt, dass Bin-Laden nur deshalb noch nicht gefasst wurde, weil er der US-Regierung noch mal nützlich sein könnte. Und das gleiche Spiel wie mit Bin-Laden ziehen sie im Irak jetzt mit dem Jordanier Sarkawi ab, der für fast alle Anschläge und Entführungen verantwortlich gemacht hat. So als ob die Iraker selbst nicht genug Grund hätten, auf die Amerikaner wütend zu sein. Und dann liest man in einer Zeitung ein Zitat von Sarkawis Mutter, wo sie bezweifelt, dass ihr Sohn dieser gesuchte Terrorist ist – weil er ihrer Meinung nach dafür nicht schlau genug ist.”
Aber das wiederum spricht ja auch gegen George W. Bush, und der ist trotzdem Präsident der USA.
„Okay, stimmt. Aber er wurde ja auch nicht gewählt. Und wenn man ihm mal seine Zettel wegnimmt, auf denen steht, was er sagen soll, lässt er ja ganz seltsame Dinge los.”
Jello, du hast ein neues Album raus, zusammen mit den MELVINS. Wie kam‘s dazu?
„Also die MELVINS sind wirklich sehr lange fast völlig an mir vorbeigegangen, obwohl es sie schon zwanzig Jahre gibt. Sie sprachen mich dann vor einer Weile darauf an, mit ihnen auf Tour zu gehen und nur die ganzen DEAD KENNEDYS-Songs zu spielen, einfach weil sie so wütend waren über diese Fake-Reunion der drei anderen DK-Leute. Ich sagte dann, dass ich viel lieber neue Songs spielen würde, und so kam eines zum anderen. Ich habe zugegebenermaßen eine Weile gebraucht, um einen Zugang zu ihrer Musik zu finden, sie zu verstehen, aber als ich sie dann mal live sah und sie ‚Halo of flies‘ von Alice Cooper spielten, war das der ausschlaggebende Punkt, denn sie machten das sehr gut.”
Alice Cooper, der sich heute als christlicher Rocker gibt ...
„Ja, mag ja sein, aber in den Siebzigern, man mag das kaum glauben, hatten die Leute vor ihm richtig Angst, mehr als vor irgendeiner Band heute. ‚Halo of flies‘ ist ein sehr komplizierter Song, und ich war überrascht und beeindruckt zugleich, wie die MELVINS den spielten. Die haben den Song nie aufgenommen, erst mit mir im Studio, doch wir entschieden uns, den noch nicht jetzt auf dem Album zu veröffentlichen, sondern erst später. Wahrscheinlich werden wir ihn Anfang nächsten Jahres mit ein paar anderen Aufnahmen aus dieser Session rausbringen. Wir denken da im Augenblick an eine Zusammenarbeit mit Alan Jourgensen und Adam Jones, die haben schon ‚gedroht‘, uns mit Remixen zu beglücken.”
Die MELVINS hätten eigentlich schon lange sehr gut auf Alternative Tentacles gepasst, von daher verwundert es, dass es erst jetzt dazu kam.
„Ja, es gab aber mit Boner seinerzeit ein anderes Label aus San Francisco, das vorzugsweise diese Art von Musik veröffentlichte. Neben den MELVINS etwa STEEL POLE BATH TUB, mit denen ich ja auch mal eine gemeinsame Platte machte, ED HALL und ein paar andere. Boner gibt es bis heute, aber sie verkaufen nur ihre alten Sachen und machen nichts neues mehr.”
Und dann ist da noch Ipecac, ein weiteres Label aus San Francisco, auf dem die MELVINS normalerweise veröffentlichen und das von seinen Ideen her sehr an A.T. erinnert.
„Was ja kein Zufall ist, denn Greg Werkman von Ipecac hat früher bei A.T. gearbeitet. Die Verbindung ist also da. Und die anderen Aufnahmen von mir zusammen mit den MELVINS werden wohl auch auf Ipecac erscheinen.”
War es nicht ein gutes Gefühl, nach all dem Ärger um die DEAD KENNEDYS endlich mal wieder Musik zu machen?
„Oh ja! Wobei ich mich da immer noch darüber aufregen muss, etwa wenn ich höre, dass angeblich ein Foto von mir in den Ankündigungen der deutschen Festivalauftritte zu sehen war. In den USA haben sie das ja auch gemacht. Seltsam ist ja auch, dass die in den Jahren seit der Reunion keine neuen Songs geschrieben haben – und das, obwohl sie vor Gericht behauptet haben, sie hätten damals die Lieder geschrieben. Und der neueste Streich dieser Typen ist, dass mir ihr Anwalt einen Brief geschrieben hat, sie wollten mich aus der gemeinsamen Firma rausschmeißen, welche die Rechte an den Songs hat, mit dem Ziel, mir nie wieder auch nur einen Cent zahlen zu müssen. Die Begründung: Ich würde mich weigern, bei der Promotion des Back-Catalogs zu helfen. Die haben auch schon versucht, mich gerichtlich zum Wiedereintritt in die Band zu zwingen. Und dabei habe ich ja auch das Angebot der MELVINS wie anderer Bands ausgeschlagen, mit ihnen auf Tour zu gehen und DEAD KENNEDYS-Songs zu spielen. Ich halte das für nicht angebracht und beinahe so schlimm wie das, was meine drei Ex-Bandkollegen machen. Ich habe keine Lust auf diese Retro-Punk-Sache, ich will lieber neue Musik machen. Aus dieser Idee entstand dann die Zusammenarbeit mit den MELVINS: Wir probten mal zusammen, ich zeigte ihnen Songs, die ich geschrieben habe, die sagten mir, welche sie mögen und welche nicht, und so tasteten wir uns aneinander heran. Und als ich mich mal an Dales Art zu trommeln gewöhnt hatte, stellte ich fest, dass der Song ‚Islamic bomb‘, für den ich eigentlich zwei Schlagzeuger vorgesehen hatte, von Dale alleine gespielt werden kann. Er ist eben kein klassischer Hardcore-Drummer, er spielt sehr präzise und kraftvoll. Er musste eben durch harte Schule von Buzzo, der ein Freund von seltsamem Timing ist. Sogar ein Jazzmusiker, den ich kenne, war von Dales Schlagzeugspiel beeindruckt, einfach weil er so langsam spielen kann, ohne aus dem Takt zu kommen.”
Mit acht Songs ist das Album ja nicht lang ausgefallen.
„Nein, aber Buzz und ich hassen beide lange Alben, die dann auch mal schnell langweilen. Und so haben wir die Platte auf LP-Länge gehalten.”
Ich sehe die neue Platte ganz klar in der Tradition des „Last Screams...“-Albums – bist du einverstanden?
„Wenn die Leute die Platte so sehen, bin ich zufrieden. Ich klinge ja ungern so, als hätte ich ein großes Ego – obwohl wir ja alle wissen, dass dem sehr wohl so ist –, denke aber, dass die Platte wirklich gut geworden ist. Es ist eine der wenigen Platten, die ich gemacht habe, die ich selbst mit Genuss anhören kann. Das ist ein typisches Musikerschicksal: Du spielst die Songs bei den Proben, im Studio, auf der Bühne so oft, dass du sie auf Platte einfach nicht mehr hören kannst.”
Erstaunlicherweise sind die MELVINS auf dieser Platte recht zahm – im Vergleich zu ihren eigenen Alben.
„Ha, vielleicht lag das ja an mir? Weil ich der normale Typ im Studio war? Die Platte ist tatsächlich mehr Rock‘n‘Roll, als man es sonst von den MELVINS kennt. Das ist aber einfach so passiert.”
Wie sieht‘s mit gemeinsamen Konzerten aus?
„An Halloween spielen wir zusammen anlässlich des 25. Geburtstages von Alternative Tentacles. Damit sind wir übrigens nach Bomp! das älteste noch aktive Punklabel auf der Welt – zumindest fällt mir kein anderes ein. Aber stell dir mal vor, wie groß Posh Boy oder Dangerhouse heute sein könnten, wenn sie damals ihre Bands bezahlt hätten.”
Wie arbeitet A.T. heute?
„Da hat sich über die letzten Jahre nicht viel verändert: Da ich selbst so viel unterwegs bin und auch mit der Vorbereitung der Spoken Word-Auftritte gut zu tun habe, habe ich mit dem Alltagsgeschäft kaum etwas zu tun – und ein schlechter Geschäftsmann bin ich obendrein. Aber ich bekomme von A.T. ja auch kein Gehalt, sondern nur die Leute, die dort im Büro arbeiten. Das einzige Geld, das ich von A.T. bekomme, sind Künstler-Royalties für meine Platten. Meine Rolle bei A.T. besteht im wesentlichen darin, Bands vorzuschlagen, mit denen man Platten machen könnte, und ich habe natürlich die letzte Entscheidung, was wir veröffentlichen.”
Gibt es die Chance, dich zusammen mit den MELVINS noch öfter auf der Bühne zu sehen?
„Wir haben ja schon das eine oder andere Konzert gespielt, etwa zum Jahreswechsel auf einem Ipecac-Festival. Mal sehen, wie sich das so entwickelt, denn wir haben eben alle einen sehr vollen Terminplan, und deshalb hat es ja auch so lange gedauert, bis die Platte endlich fertig war. Es könnte aber sein, dass es nächstes Jahr ein paar Europatermine geben wird, vielleicht anlässlich ein paar großer Festivals. Ich habe da zwar gemischte Gefühle, aber so kann man in relativ kurzer Zeit möglichst vielen Leuten die Chance geben, uns live zu sehen. Für eine Tour mit 50 Shows haben wir sicher keine Zeit.”
Jello, was hältst du von dieser ganzen Debatte um conservativepunk.com?
„Also das ist ja eine ganz kleine Gruppe, aber sie haben speziell in den USA große Medienaufmerksamkeit bekommen – schon deshalb, weil die großen Medienkonzerne in den USA alle konservativ sind. Da ist es nur logisch, dass sie jede Chance nutzen, etwa gegen punkvoter.com zu feuern. Von den conservativepunk-Leuten sieht man jedenfalls nie jemand bei einem Konzert oder Festival einen Büchertisch machen. Man sollte das alles nicht zu wichtig nehmen, und Konservative gab es im Punk ja schon immer, schau dir nur mal THE EXPLOITED an. Und die rassistischen Tendenzen, die es von Anfang an im Oi!-Movement gab.”
Anlässlich der Wahl von Arnold Schwarzenegger zum Gouverneur von Kalifornien hätte ich ja beinahe mit einer Neuauflage von „California über alles“ gerechnet. Was hast du über diesen Herrn zu sagen?
„Ich habe mich gefragt, ob die Menschen hier wirklich so dumm sein würden, für Schwarzenegger zu stimmen, und ja, sie sind es. Der Typ ist noch viel gefährlicher als einst Ronald Reagan, weil er viel faschistischer, rassistischer, schwulenfeindlicher und sexistischer ist. Und er bekommt dafür noch Beifall. Er hat etwa Leute, die gegen Bushs Wirtschaftspolitik sind, als ‚girlie men‘ bezeichnet, und das bewegt sich sprachlich auf dem Niveau von ‚nigger‘. Und der Typ bekommt auch noch Beifall. Es gibt sogar Senatoren, welche die US-Verfassung so ändern wollen, dass auch Einwanderer der ersten Generation Präsident werden können – ein Gesetz nur für Schwarzenegger!”[b]
Beste Aussichten für die USA und die Welt. Jello, ich danke dir für das Interview.
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #57 November 2004/Januar/Februar 2005 und Joachim Hiller
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #62 Oktober/November 2005 und André Bohnensack