JACK MILLER

Foto© by Jack Miller

The (incredibly underqualified) punk historian

Um sich heute online über neue Bands und Genreklassiker zu informieren, kann man neben zahlreichen Blog-Archiven auf YouTube-Kanäle wie „hate5six“ oder „Hardcore Worldwide“ zurückgreifen. Seit einiger Zeit erfreuen sich auch Influencer:innen wie Finn McKenty („Punkrock MBA“) wachsender Beliebtheit, der eine Mischung aus (halb)dokumentarischen Beiträgen und Meinungsvideos macht. Er zielt mit sub- als auch popkulturellen Themen auf ein breiteres Publikum ab. Die Straßenvariante davon ist Jack Miller mit seinem Kanal „The incredibly underqualified punk historian“, für den er unter anderem Bandbiografien und Genredokus produziert, die sich ausschließlich im Punk-Kosmos abspielen. Optisch DIY, inhaltlich umfangreich und präzise. Und immer aus der Perspektive des Fans und Musikers. Mit ihm sprechen wir über Punk-Sozialisation im Internet, die Bedeutung von Fanzines und wie man über Nacht zum Gitarristen einer seiner Lieblingsbands wird.

Jack, du hast deinen Kanal im April 2021 gestartet. Ein typisches Corona-Projekt?

Ja, obwohl ich die Idee dazu schon länger im Kopf hatte. Ich habe zu der Zeit viele Videos von Finn McKenty auf dem Kanal „Punkrock MBA“ gesehen. Finn spricht nicht ausschließlich über Punkrock, sondern hat eine große thematische Spannbreite. Daher dachte ich, ob ich nicht etwas machen sollte, das sich komplett auf Punkrock fokussiert. Außerdem konnte ich aufgrund der Pandemie nicht zu Konzerten gehen und keine Konzerte mit meiner Band spielen, daher hatte ich genügend Zeit. Ich schrieb also zwei komplette Skripte, produzierte die ersten beiden Videos und zeigte sie zunächst nur ein paar Freunden. Die Resonanz war gut, aber für einen Upload auf YouTube war ich noch nicht überzeugt genug von meiner Leistung. Daher machte ich noch ein weiteres Video zur Geschichte des Oldschool Pop-Punk, mit dem ich schließlich komplett zufrieden war. Dieses war dann mein erster offizieller Upload auf meinem Kanal.

Du bezeichnest dich als „underqualified“ und deinen Inhalt als „useless information about punk“.
Zunächst einmal brauchte ich einfach einen catchy Namen für die Sache. Außerdem will ich damit sagen, dass ich natürlich nicht immer als Zeitzeuge über die Dinge spreche, die ich in den Videos behandele. Ich war nicht in den Achtziger Jahren in San Francisco oder in den Siebzigern in London und habe die Anfänge von Hardcore und Punkrock nicht live miterlebt. Ich habe weder die erste SUICIDAL TENDENCIES-Show in Venice gesehen noch sie jemals getroffen. Trotzdem mache ich eine ausführliche Biografie über sie. Unterqualifiziert ist eher im Sinne von „aus zweiter Hand“ gemeint. Ich katalogisiere das Wissen und die Erfahrungen anderer. Und seien wir ehrlich, nichts von dem, das du auf meinem Kanal erfährst, bringt dich beruflich irgendwie weiter. Karrieretechnisch ist das alles nutzlos. Aber wenn du viel auf Shows rumhängst, Platten kaufst und gerne über Musik redest, erweitern meine Videos dein Wissen enorm.

Hast du dich schon zu Beginn für die Hintergründe von Musiker:innen und der Musikindustrie interessiert, oder kam das erst später?
Ich spiele selbst seit langem in Bands und habe mich daher schon immer auch um das ganze Drumherum interessiert. Wie eine Band organisatorisch funktioniert, was sie antreibt, wie sie Entscheidungen trifft, welche Labels und anderen Bands involviert sind, wie ein Subgenre oder eine neue Szene entsteht. Diese Zusammenhänge zu beschreiben ist eine Aufgabe meiner Videos.

Dein Kanal bietet Reviews, Band-Videos, Genre-Videos, Label-Videos und eine Art Videotagebuch. Was davon machst du am liebsten?
Ich mag definitiv die Genre-Videos am meisten, weil man inhaltlich am tiefsten eintauchen und die meisten Informationen vermitteln kann. Ich kann am weitesten ausholen und Bands, Labels, Zines und einzelne Szenen mit einbeziehen. Das Endergebnis ist dann für mich immer sehr, sagen wir, ganzheitlich. Außerdem kann ich mich auch ausführlich mit den musikalischen Feinheiten, Entwicklungen und Unterschieden auseinandersetzen. Dieser Aspekt fehlt mir als jemand, der selber Musik macht, oft in den Videos anderer YouTuber.

Geht es dir bei der Themenwahl auch um ein ganzheitliches Abbilden der verschiedenen Arten von Punkrock oder gibt es Subgenres, die du nicht bearbeiten würdest?
Auslassen würde ich nichts. Es gibt lediglich Bereiche, in denen ich mich mehr oder minder gut auskenne und die in der Vorbereitung dann unterschiedlich arbeitsintensiv sind. Alles aus dem Bereich Skatepunk, Pop-Punk und Crust liegt mir einfach mehr als ein Subgenre wie beispielsweise Cow- oder Folk-Punk. Ich verzichte allerdings auf Bands, die durch Hate Speech oder Arschlochverhalten auffallen, aber das sind Einzelfallentscheidungen.

Ich mag an deinen Videos, dass du kein Gatekeeping betreibst. In deinem Skate- und Pop-Punk-Video zum Beispiel stehen neue Bands gleichwertig neben den Klassikern des Genres. Wirst du für diese Vorgehensweise auch mal kritisiert?
Danke, dass dir das aufgefallen ist, das ist mir nämlich wichtig. Bis auf wenige ablehnende Kommentare zu einzelnen Bands gab es kaum Kritik. In der Regel schreiben mir die Leute eher, dass sie eine neue Band für sich entdeckt haben, weil ich sie mit einem Klassiker verglichen habe. Der Großteil meines Publikums scheint also mit mir auf einer Wellenlänge zu sein.

Worin besteht deiner Meinung nach das Alleinstellungsmerkmal von YouTube Videos gegenüber Büchern wie „American Hardcore“ oder „Dance of Days“, abgesehen davon, dass Videos schneller konsumiert werden können?
Es geht nicht nur schneller, sondern auch viel einfacher. Du kannst dir bei der Arbeit in der Mittagspause in zwanzig Minuten ein Video anschauen und hast dann immer noch zehn Minuten für eine Zigarette übrig. Sogar eine Standard-Dokumentation hat eine abendfüllende Länge, dafür muss man sich extra einen Abend Zeit nehmen. Für ein Buch sogar mehrere Tage. Dazu kommt die Möglichkeit des Teilens. YouTube-Videos sind im Gegensatz zu anderen Formaten unfassbar gut zugänglich. Als Content Creator lerne ich auch ständig mehr über den Algorithmus von YouTube. Der schlägt dir ja Dinge auf der Grundlage deines Sehverhaltens vor. Daher ist es interessant zu verfolgen, welchen Leuten ich aufgrund welcher Vorlieben vorgeschlagen werde: Videoclips? Live-Videos? Dokus? Verfügbarkeit und Vernetzung sind demnach die Alleinstellungsmerkmale.

Ein viel geklicktes Video von dir handelt von der Geschichte der Bassist:innen im Punk. Du selber spielst Gitarre. Wie kamst du auf das Thema? Du scheinst damit bei den Leuten einen Nerv getroffen zu haben.
Wenn du an Bands wie RANCID, RKL oder SUICIDAL TENDENCIES denkst, gab es im Punk schon immer extrem talentierte Bassist:innen, die sich von der Spielweise her eher an der Gitarre orientiert haben. Der Skatepunk aus Kalifornien hat da auch einen sehr eigenen Sound entwickelt. Bei uns gab es früher einen Running Gag, dass bei einer Bandgründung immer die talentierteste Person Bass spielen sollte. Eine technisch aufwändige Gitarre sprengt oft den musikalischen Rahmen von Punk, weil sie sich nicht unterordnet. Ein guter Bassist macht aber oft den Unterschied aus. Ich wollte diesem Gedanken einfach mehr Aufmerksamkeit widmen und eine Brücke schlagen von den MISFITS bis zu A WILHELM SCREAM.

Sorgen YouTube-Kanäle wie deiner und Podcasts für das Aussterben von Fanzines?
Ich glaube, das gilt für das Internet in Gänze. Es gab schon vor diesen YouTube-Kanälen Seiten wie Punknews.org oder Absolutepunk.net. Für mich ist das schwierig zu beurteilen, weil ich schon mit dem Internet aufgewachsen bin und die Situation der – sagen wir physischen Art der Informationsvermittlung vorher – nicht erlebt habe. Es war so einfach für uns, sich durch Punknews.org durchzuscrollen und auf einen Schlag zig Bands kennen zu lernen.

Welche Relevanz haben Fanzines im Besonderen und Printmedien im Allgemeinen noch?
Fanzines füllen eine ähnliche Nische und bedienen ein ähnliches Bedürfnis wie Vinyl, allerdings auf einer niedrigeren Ebene. Viele schätzen Fanzines deswegen, weil sie diese mit den Ursprüngen dieser Kultur verbinden, sie haben etwas Echtes. Für meine Generation sind Fanzines ein Stück Geschichte, an der wir nicht teilgenommen haben. Wir holen uns diese Zeit manchmal künstlich zurück, indem wir Videos mit VHS-Filtern bearbeiten oder Bilder mit Foto-Apps, die einen Vintage Look erzeugen. Das sind Hinweise darauf, dass auch immer ein bisschen nostalgische Sehnsucht dabei ist. Punk hatte auch immer etwas Nostalgisches. THE MISFITS oder THE RAMONES haben von Anfang an starke Bezüge zu den Fünfziger und Sechziger Jahren gehabt.

Du machst selber Musik, seit einiger Zeit auch als neuer Gitarrist von DIESEL BOY. Diesel Dave erzählt im Interview im letzten Ox, er habe ein neues Mitglied im Internet gefunden. Das bist du?
Ja, ich bin dieser Typ! In den USA haben wir die Kleinanzeigen-Plattform Craigslist, auf der ich auch schon mehrfach nach Bandmitgliedern gesucht habe. Anfangs wusste ich gar nicht, dass es sich um DIESEL BOY handelt. Es war die Rede von einer „wieder aktiven Punkband aus den Neunzigern mit einem Plattenvertrag, die viel getourt ist“. Da dachte ich mir, da melde ich mich mal! Damals hatte ich auf meinem Kanal erst vier Videos veröffentlicht und unter 1.000 Abonent:innen. Ich schickte ihnen den Link zu meinem Kanal und zu Videos meiner Bands CELLAR CLUB und ZEST, die beide bei den Bridge City Sessions gespielt hatten. Lange Zeit hörte ich nichts. Erst Monate später meldete sich Dave von DIESEL BOY und sagte, sie hätten ein neues Album eingespielt und in drei Monaten eine Europatour geplant. Leider sei ihr Gitarrist gerade abgesprungen. Ob ich noch Interesse hätte, ich hätte mich doch bei Craigslist gemeldet. Hatte ich! Ich lernte in zwei Wochen das Live Set zu Hause, dann trafen wir uns zum Proben in Seattle, spielten ein paar Warm-up-Auftritte und dann saß ich im Flieger nach Europa, um Festivals und Shows mit GOOD RIDDANCE zu spielen. Vorher hatte ich die USA noch nie verlassen, von daher reibe ich mir heute noch manchmal die Augen und freue mich, dass das alles passiert ist. Alleine das Punk Rock Holiday Festival in Slowenien war die Reise schon wert. Ein Traum wäre es, wenn ich auf dem nächsten Album auch selber spielen könnte, die Gelegenheit hatte ich ja noch nicht. Dave schreibt jedenfalls an neuen Songs.

Gibt es deine Band ZEST noch?
Nein, schon vor meinem Einstieg bei DIESEL BOY nicht mehr. Wir hatten uns mit der Band damals zeitlich verhoben, haben zu viel in zu kurzer Zeit gemacht und waren irgendwie ausgebrannt. ZEST werden noch eine Abschieds-Single veröffentlichen, die Aufnahmen waren schon fertig. Neben DIESEL BOY habe ich noch eine weitere neue Band namens ME GRIMLOCK. Von denen wird es bald auch eine erste EP geben. ZEST klangen sehr nach STRUNG OUT, mit ME GRIMLOCK geht es eher in die Richtung von A WILHELM SCREAM. Hört mal rein!