Kim Gordon, Thurston Moore, J Mascis, Mike Watt, Billy Childish, Jello Biafra, Buzz Osborne, Ian Mackaye, Genesis P-Orridge und viele mehr – als Gastgeber der Online-Talkshow „Soft Focus“ hat Ian Svenonius sie alle in Grund und Boden geredet. Wortgewandt, frech und rastlos ist er schon immer gewesen, als Frontmann von NATION OF ULYSSES, MAKE-UP und CHAIN & THE GANG, um nur einige zu nennen, ebenso wie als Buchautor, etwa von „The Psychic Soviet“ und „Supernatural Strategies for Making a Rock’n’Roll Group“. Letztere Veröffentlichung, gerade in deutscher Übersetzung erschienen, zeigt einmal mehr: Svenonius koppelt in oft ausschweifenden Wortattacken linkes, historisch fundiertes Gedankengut mit sarkastischen bis kalauernden Wortspielen und hemmungslosen Blödeleien.
Ian, dein letztes Buch „Supernatural Strategies for Making a Rock’n’Roll Group“ ist gerade in deutscher Übersetzung erschienen. Der Titel wurde in „22 Strategien für die erfolgreiche Gründung einer Rockband“ umgewandelt. Passt das?
Nein, nicht wirklich. Das ist schon etwas anderes. Zum Beispiel das Wort „erfolgreich“: In dem Buch geht es nicht darum, wie man eine erfolgreiche Rock’n’Roll-Band gründet. In erster Linie ist es eine Reaktion auf die Institutionalisierung der Rock’n’Roll-Gruppe als eine Art Kanal für eine bestimmte neue liberale Ideologie. Es gibt da einen Trend in den USA, dass die Kinder der herrschenden Klasse in Rockcamps, Rockschulen und Dinge dieser Art geschickt werden. Das ist eine institutionalisierte Form der Abweichung, eine sichere Form des Widerspruchs. Rock ist hier zu etwas völlig anderem geworden, zu einem festen Kanal für die spezifische Ideologie der elterlichen Klasse. Den Kindern wird beigebracht, wie man eine Rock’n’Roll-Gruppe aufzieht und genauso agieren Gruppen der jüngsten Generation deswegen auch. Man sieht schon die Auswüchse dieses Trends: Gruppen der neuen Generation sind viel gewitzter, instrumental wie auch in Sachen Marketing. Ich wollte diesem Trend des institutionalisierten Lernens, dieses Systems, mit einer anderen Perspektive und Ideologie entgegenwirken, den Gruppenbegriff von einer anderen Seite betrachten. Ich weiß zwar nicht genau, was ihnen beigebracht wird, aber ich kann es mir in etwa vorstellen. Das habe ich in der Struktur auch in meinem Buch aufgegriffen.
Du bist in diesem Zusammenhang ja wie ein Historiker ganz systematisch bis zu den Ursprüngen des Rock’n’Roll zurückgegangen.
Ja, das gehört dazu. Ich denke, wenn es darum geht, wie man eine Rock’n’Roll-Gruppe gründet, sollte man den Sinn, die Geschichte und die Herkunft von Rock’n’Roll-Gruppen als solche auch kennen. Wenn man sich die Geschichte des Rock’n’Roll bis heute anschaut, ist das überwiegend sehr erfolgsausgerichtet, eine Ansammlung von heroischen Geschichten über einige Antihelden, Futter für die Harmlosen, mit Geschichten über Gelage und Exzesse. Und trotz aller Kunst setzt das Ausweichmanöver des Künstlers sich über den kleingeistigen, konservativen Status quo hinweg. Diese Geschichte wiederholt sich immer und immer wieder. Sie beginnt damit, dass Rock’n’Roll eine Kultur in seiner Gesamtheit definiert und dann verwandelt er sich in etwas wie Punk oder HipHop, Szenen, die im Rock’n’Roll ja die statische, festgefahrene, konservative Kultur ihrer Eltern sahen. Das ist immer die gleiche Geschichte. Ich wollte etwas schaffen, dass Rock’n’Roll in einen größeren Kontext setzt: Etwas, das über Rock’n’Roll in einem Kontext berichtet, der größer als er selbst ist.
Aber irgendwann wird auch mal der Punkt kommen, an dem keine Mutation mehr möglich ist, oder?
Wir warten alle auf den Moment, an dem Rock’n’Roll wie Big-Band-Musik klingt, so hoffnungslos altmodisch. Das wird ganz plötzlich kommen, so: „Hey, merkwürdig, das war doch mal echt gut, jetzt ist es einfach nur belanglos.“ Ein Großteil der Wahrnehmung hängt davon ab, ob die Leute diese Musik überhaupt noch machen. So wie Glamrock den Rock’n’Roll der Fünfziger rehabilitierte und modern machte oder Garagerock, der praktisch das Gleiche getan hat. Diese Permutationen verlängern die Lebensdauer des Originals. Wenn Dinge historisch werden, durchlaufen sie mehrere Phasen. In der ersten scheint es idiotisch und witzlos zu sein. Dann gibt es eine Phase, in der es unbegreiflich großartig, einfach perfekt erscheint: Das Original ist aus seinem originalen Kontext herausgerissen und so weit weg, seine Entstehungssituation könnte nie wieder hergestellt werden, weil zum Beispiel die Technik sich verändert hat oder die Sichtweise der Leute, die es gemacht haben, sich gewandelt hat. Und dann kommt der Punkt, an dem man es für komplett bescheuert und archaisch hält. Ich weiß nicht, ob sich etwas jemals von der finalen Stufe erholen kann. Ich sehe die BEATLES schon in diese Phase übergehen. Die BEATLES verwendeten Harmonie und das ist inzwischen etwas, das niemand noch wirklich benutzt. Die BEATLES haben so lange so fortschrittlich gewirkt und tatsächlich unfassbar großartig für Leute wie mich, das wir immer dachten: Oh, die BEATLES, sie sind so beeindruckend, so viele großartige Songs. Ihre Konstruktionen schienen immer so undurchdringbar perfekt. Aber für junge Leute heute sind die BEATLES nicht mehr greifbar, wie eine Fremdsprache. Harmonie erscheint ihnen als verletzlich, schwach und befremdlich.
Was hältst du in diesem Zusammenhang von Zitaten in Musik?
Ich denke, jede Musik besteht aus Zitaten. Es wird davon geredet, wie Rock’n’Roller den Blues geklaut haben. Aber die Bluesmusiker haben natürlich genauso von anderen Musikern geklaut. Jeder recyclet irgendwie. Das durchläuft auch wieder verschiedene Phasen: In den Anfangszeiten des Rock’n’Roll war das jedem bewusst: Jeder Song bestand nur aus recycleten Riffs und manchmal fast exakten Abbildern anderer Songs. Im Grunde genommen waren die Songs zu diesem Zeitpunkt alle gleich. In den späten Sechzigern und frühen Siebzigern wurde Originalität und Künstlertum dann zu einer wahren Obsession. Das war auch der Punkt, an dem der Rock’n’Roller den Status und das Denken eines Künstlers annahm. Plötzlich war er in der gesellschaftlichen Mitte angekommen. Und die hat eine andere Einstellung zu Kunst und deren Entwicklung. Der Rock’n’Roller wurde ein Besessener der Originalität. Damals wurde George Harrison ja auch wegen „My sweet lord“ verklagt, weil er eine ähnliche Melodielinie wie in „He’s so fine“ von den CHIFFONS verwendet hatte. Rückblickend war das aber nur ein kurzer Abschnitt, denn spätestens seit HipHop ist klar, dass es nichts wirklich eigenständiges gibt. Die Recyclingidee ist heute gefestigt, das Originelle ist eher die Persönlichkeit des Einzelnen. Wenn du in einer Rock’n’Roll-Gruppe bist oder eine gründest und Leute das dann in der Form nachmachen, ist das zu erwarten. Was du nicht willst, ist, dass deine Persönlichkeit kopiert wird. Und Persönlichkeit ist hier in einem sehr weiten Sinne gemeint, als dein persönlicher Auftritt, die Sache, die sich für dich originell anfühlt, einzigartig. Du triffst jeden Tag ungefähr hundert Leute und jeder einzelne ist irgendwie einzigartig. Manche von ihnen werden vielleicht Klamotten von GAP anhaben, aber sie werden sie doch irgendwie ein kleines bisschen anders tragen. Und das nenne ich Originalität.
Es gibt ein Zitat aus deinem Buch, das in diesen Kontext passt: „Heute ist die Rock’n’Roll-Gruppe so weit von dem entfernt, was einmal Musik war, wie ihre Dada-Ahnen von dem, was einst Kunst war.“
Die Anfangszeit des Modernismus war eine Pause von der Kunst, der Tradition der Kunst, weil sie Kunst zu einer politischen Sache machte. Das hat diese politische Kraft im positiven Sinne: Sie bietet neue Wege, die Welt zu sehen, mit der Botschaft: Du kannst die Welt verändern. Und das war der große Unterschied zu früheren Kunstbewegungen. Dem Modernismus geht es nicht darum, die Welt widerzuspiegeln. Sie schmissen diese vielen über hunderte von Jahren erarbeiteten Techniken über Bord und sind einfach total ausgeflippt. Musik hat diese Periode des Überbordwerfens schon hinter sich. Wenn eine Gruppe Leute erreichen will, ist es nicht wichtig, ob sie Noten lesen kann. Manchmal triffst du Musiker, die sich darüber unterhalten, wer singen kann oder wirklich spielen. Die haben das Wesentliche einfach nicht begriffen: Eine Gruppe muss noch nicht einmal Musik machen, um Anklang bei Leuten zu finden. Oft hat das gar nichts mit Musik zu tun. Musik ist nur ein Vorwand, um eine Gruppe zu gründen. Und oft ist die Musik, die eine Gruppe macht, dann nicht unbedingt überwältigend oder gut, aber die Gruppe spricht die Leute an mit etwas wie einem Logo, das von BLACK FLAG zum Beispiel, einem Namen oder einem bestimmten Image. Das muss nicht unbedingt mit der Musik zusammenhängen. Viele der wichtigsten Gruppen – derjenigen, die die Leute am liebsten mögen –, das würde jedenfalls nicht so etwas wie die STEVE MILLER BAND sein, denn die hat wirklich keine Identität, sondern ändert sich mit den Trends, Mainstream-Classic-Rock halt, immer und immer wiederholt. Niemand interessiert sich für die STEVE MILLER BAND. Die Gruppen, die die Leute bewegen, BLACK FLAG oder THE GRATEFUL DEAD oder WHITEHOUSE oder so etwas in der Art, sind auch diejenigen, die die Leute dazu bringen, loyale Anhänger zu sein.
Da steht eine Art Wertesystem dahinter, das es ermöglicht, sich damit zu identifizieren.
Ja, genau. Und das liegt an der Ästhetik, die dem zugrunde liegt. Ein schwedischer Songwriter, der die ganzen Songs für die moderne Pop-Elite schreibt, muss sich viele Gedanken darüber machen, wofür Britney Spears oder Rihanna bei den Leuten stehen. Diese Art von Songwriting berücksichtigt die Ideologie und die Ästhetik, die die Leute damit in Verbindung setzen. Um die Leute wirklich anzusprechen, reicht ein guter Song alleine nicht aus.
In deinem Buch sprichst du ja auch viel von der politischen Seite des Rock’n’Roll, von dem gleichzeitigen Abfeiern und Verurteilen der Trash-Kultur, des Klassenkampfes und der Herrschaftsprivilegien.
Als es damit losging, gab es Songtitel wie „Rock’n’roll is here to stay“, „Rock’n’roll will never die“, „Long live rock’n’roll“. Die sind alle aus den Fünfzigern, aber alle reagieren auf den Gedanken, dass dies nur ein kurzlebiger Trend sein könnte. Die gab es in den Fünfzigern reichlich, besonders kubanische Musik wie Rumba, Cha-Cha-Cha, diese ganzen Exotika- und Lounge-Musik. Und man nahm an, dass der Rock’n’Roll auch nur einer dieser Trends sei, etwas für Elfjährige. Der Grund, warum Rock’n’Roll uns immer noch anspricht, ist, dass er paradox ist. Er ist Trash-Kultur: Ein Wegwerfprodukt, so etwas wie Kaugummi. Aber er hat gleichzeitig seine Ursprünge in der Unterschicht, der Gangkultur und deswegen fühlt er sich zugleich auch wie Protestmusik an. Das ist eine sehr paradoxe Musik. Sie wird benutzt, um kapitalistische, neoliberale Kultur in die ganze Welt zu exportieren. Gleichzeitig hat man aber das Gefühl, dass das der einzig brauchbare Protest ist, den man gegen die neoliberale Kultur einsetzen kann. Was einmal eine Protestkultur war, ist jetzt auch ein Spaßding: Punkrock, Rock’n’Roll.
Also ist es eine „der letzten edlen Gesten, die einem in der durchkapitalisierten Gesellschaft bleiben“?
Wenn es noch etwas anderes geben sollte, weiß ich jedenfalls nichts davon. Es ist gefühlt alles, was uns zur Verfügung steht.
Das Problem scheint ja darin zu liegen, dass Rock’n’Roll eigentlich nicht nur für eine Musik steht, sondern eher eine Lebenseinstellung ist.
Genau das. Und dafür gibt es zur Zeit einfach weder einen politischen Repräsentanten noch einen Medienrepräsentanten. Rock’n’Roll ist ein billiges Transportmittel für Ideologie und Ästhetik, denn er spricht ein echtes Publikum an.
Du sagst auch, dass eine kurzlebige Band konzeptuell prägnanter und unverfälschter ist und deshalb einen stärkeren Eindruck hinterlässt. Steht das genau damit in Zusammenhang?
Also ich war noch nie in einer Gruppe, die länger als zehn Jahre bestanden hat. Es geht eher um die Halbwertszeit und um das, was du hinterlässt. Wenn du deine Gruppe zu einer mächtigen, geschichtsträchtigen Gruppe machst, geht es auch viel um deine Verbindungen zur Musikindustrie oder um deine Fähigkeit beziehungsweise deinen Willen, dich langfristig für das Vermächtnis deiner Gruppe einzusetzen. Wenn du dir eine Gruppe wie VELVET UNDERGROUND anschaust, die diese ganzen Leute für sich arbeiten hatten, noch zwanzig Jahre nachdem sie als Gruppe zusammen waren: Das hat viel zu der Tatsache beigetragen, dass sie historisiert wurden. Die Halbwertszeit der Gruppe ist mindestens genauso wichtig wie die Gruppe an sich, wenn dein Ziel ist, selbst in den Geschichtskanon einzugehen und Teil der Zukunft zu sein. Sobald die Gruppe sich auflöst, gibt es einen Abschnitt, fünf bis zehn Jahre, in dem die Leute sie für dämlich oder bescheuert halten: Die eigene Vergangenheit, die jüngste Vergangenheit, nichts auf das man stolz wäre. Anders wenn man die Leute später davon überzeugen kann, dass sie noch mal daran anknüpfen können, in einer Art von Nostalgie. Ein Großteil dieser Nostalgie wird von Leuten erzeugt, die die Gruppe damals gar nicht wahrgenommen haben, aber ihren Fehler rückgängig machen und sie zum Teil ihrer gesammelten Erfahrungen machen wollen. Leute in Deutschland, die in den Neunzigern Teil der Rave-Kultur waren, sind da vielleicht heute nicht so sonderlich stolz drauf. Also suchen sie sich etwas anderes, an das sie anknüpfen können. Wenn man die Sechziger betrachtet: Wer damals aufgewachsen ist, wird vielleicht auch sagen: Oh ja, Engelbert Humperdinck, mein großer Fehler – nichts auf das man stolz ist. Und dann suchen sie sich etwas Künstlerischeres, etwas wie VELVET UNDERGROUND oder THE MUSIC MACHINE. Ein Teil dieser Nostalgie oder der Halbwertszeit einer Gruppe ist es, die Leute, die nicht das ursprüngliche Publikum waren, davon zu überzeugen, an diese Sache anzudocken.
Du scheinst ein guter Historiker zu sein. Deine Gruppen haben jedenfalls schon etliche zum Andocken bewegen können.
Eigentlich glaube ich nicht, dass ich ein guter Historiker bin. Ich sitze nicht herum und pflege die Legende meiner Gruppen. Irgendwie hält es trotzdem ein bisschen an, in so einer Art Shuffle-Modus. Ich kenne Leute, die echt gut darin sind, Erinnerungen zu bearbeiten. Das ist ein spezielles Talent. Deine Gruppe so zu präsentieren, dass die peinlichen Teile gelöscht werden, wie bei einem Update. Dazu gehört auch, ob die Gruppe mit den richtigen Dingen in Verbindung gebracht werden kann oder eher mit den falschen. Diese Art der Historisierung ist ein sehr strategisches, politisches Spiel.
Das Internet macht das Löschen dieser wunden Punkte aber doch recht schwierig.
Da hast du recht, aber du kannst es in das richtige Licht rücken. Was die Leute heutzutage tun, ist ja sich selbst zu dokumentieren. Das ist der neue Weg, sich selbst zu historisieren, auf eine Art und Weise, bei der du den Kontext und alles mitbestimmst. Du kontrollierst die Wahrnehmung davon, was es war und was passiert ist, und so kannst du die peinlichen Aspekte loswerden. Wenn du das gut genug dokumentierst, schaffst du deiner Gruppe damit eine Art Zeitkapsel für die passive Öffentlichkeit. Und echte Beliebtheit basiert auf einer passiven Öffentlichkeit. Denn das Publikum, das kommt, um dich in einem Club zu sehen, macht vielleicht 0,00001% der Bevölkerung aus. Aber die, die dich auf Hulu oder so was sehen können, entsprechen einer viel höheren Prozentzahl der Gesamtbevölkerung. Wenn es dir also gelingt, dich selbst zu dokumentieren und zu propagieren, wer du bist und was du bist, kannst du ohne große Mittel bis ganz nach vorne durchstarten. Ein gutes Beispiel sind THE BRIAN JONESTOWN MASSACRE. Sie waren in den Neunzigern nur eine von vielen Gruppen. Sie waren nicht wirklich bekannt oder besonders bemerkenswert. Aber dann wurde diese Dokumentation „Dig!“ über sie gemacht und jetzt sind sie historisch wirklich wichtig. Viele dieser Leute glauben auch, dass sie eine Ära definiert haben. Aber sie waren nicht wirklich so führend. Das war nicht der Fall. Damit will ich nicht sagen, dass THE BRIAN JONESTOWN MASSACRE nicht gut waren, sondern ich will sagen, dass dieser Film komplett für das Wissen der Leute verantwortlich war. Wichtig ist es also, Revisionismus zu betreiben. Geschichte ist immer Revisionismus. Jede Geschichte, die du über einen Fehler liest, solltest du nicht glauben. Es sei denn, du hast sie selbst geschrieben.
Wie lässt sich das mit deiner Aussage vereinbaren, dass alle Kunst aus einem tiefen Gefühl der Beschämung entsteht und nur die zu erwartende Blamage einen Menschen dazu verlockt, das Alte hinter sich zu lassen und sich weiterzuentwickeln?
Wenn jemand etwas tut, das als etwas richtig Gutes aufgenommen wird, ist es oft schwer, dies zu überwinden. Ein solches Vermächtnis kann dem künstlerischen Wachstum wirklich sehr im Weg stehen. Wachstum ist vielleicht nicht das richtige Wort, Fortsetzung passt besser. Solche Menschen hängen sich dann zu sehr an ihrem Erfolg auf und wollen es nicht vermasseln. Scham entsteht ja dann, wenn du etwas echt Mieses gemacht hast. Dann willst du einfach besser werden. Wenn du aber etwas Großartiges geschaffen hast, macht das die Sache sehr viel schwieriger. Ich höre in letzter Zeit zum Beispiel ständig von diesem NEUTRAL MILK HOTEL-Typen Jeff Mangum. Er hat ein Album gemacht, das jeder für perfekt hält, aber jetzt ist er einfach nur langweilig, wahrscheinlich wegen dieses einen Albums. Oder schau dir doch mal Lou Reed an, wenn er „I’m waiting for my man“ spielt, vierzig Jahre lang, oder wenn du dir seine Glamrock-Platten anhörst, er spielt eigentlich immer nur „Sweet Jane“, immer und immer wieder, weil er es einfach nicht geschafft hat, das zu überwinden.
Im Booklet deines neuesten CHAIN & THE GANG-Albums ist nachzulesen „Ihr hattet das Maximum ... es war nicht genug ... Jetzt ist Zeit für das Minimum.“ Weniger ist also mehr?
Das Maximum will jeder. Die Leute sind daran gewöhnt, dass alles jederzeit verfügbar ist, und das ruft nur Unzufriedenheit hervor. Du willst immer mehr, das ist wie mit Kartoffelchips. Darum ist jetzt höchste Zeit für das Minimum!
© by - Ausgabe # und 30. Juli 2020
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #116 Oktober/November 2014 und Anke Kalau